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Intentionen und Legitimationsstrategien staatsbürgerlicher Erziehung und politischer Bildung
In: Zeitschrift für Pädagogik, 47. Jg, 6/2001, S. 869-878.
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Zusammenfassung
Der Artikel fragt
nach den Intentionen politischer Bildung und den Legitimationsstrategien
staatsbürgerlicher Erziehung am Beispiel des Faches Sozialkunde, das „Leitfach“
der politischen Bildung in Thüringen ist. Die Lehrplanentwicklung im Bundesland
Thüringen stellt aufgrund ihrer Besonderheit eine einmalige Möglichkeit dar,
den Transformationsprozess von der DDR hin zu den neuen Ländern zu untersuchen.
Da im Laufe der Untersuchung deutlich wurde, dass das herkömmliche
Transformationsverständnis der Sozialwissenschaften als „nachholende
Modernisierung“ zur bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Analyse nicht
ausreicht, wird in einem ersten Schritt eine Begriffsbestimmung des
Transformationsbegriffs – aber auch des mit staatsbürgerlicher Erziehung und
politischer Bildung gemeinten – vorgenommen. Die sich anschließende
Präsentation exemplarischer Analyseergebnisse ging aus der Arbeit mit dem im
DFG-Projekt „Bildungstheorie und Unterricht“ erarbeiteten Kriterienraster
hervor, das hier zu drei Komplexen zusammengestellt wurde. Für jeden Komplex
wird einleitend noch einmal ausgelegt, was darin staatsbürgerliche Erziehung
oder politische Bildung kennzeichnet. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst,
und es wird eine Bewertung des Transformationsprozesses gewagt, die die eingangs
theoretisch aufgestellte These, dass die Transformation staatsbürgerlicher
Erziehung in politische Bildung eine unabschließbare Aufgabe ist, bestätigt.
Den Transformationsprozess an der
Schnittstelle von Bildungspolitik, Bildungstheorie und Unterricht von der SBZ
über die DDR bis hin zu den Neuen Ländern zu untersuchen, war das Anliegen des
DFG-Projekts „Bildungstheorie und Unterricht“.[1]
Unsere Analysen in den Fachbereichen Chemie, Technik, Geschichte und politische
Bildung bezogen sich vor allem auf Lehrpläne. Sie sind eine Textsorte, die an
dieser Schnittstelle angesiedelt ist, weil ihnen politische Vorgaben
zugrunde liegen, sie ministeriell verabschiedet werden aber mit bestimmten bildungs-
und erziehungstheoretischen Hintergründen formuliert worden sind.
Um die
Transformation der normativen Erwartungen an Schule am Beispiel der Thüringer
Lehrplanentwicklung herauszuarbeiten, werde ich in drei Schritten vorgehen. In
einem ersten Schritt soll der Gebrauch einiger Begriffe erläutert werden. In
einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse der Analyse des Transformationsprozesses
vorgestellt. Dazu wird die Lehrplanentwicklung in drei Durchgängen in
unterschiedlicher Hinsicht befragt. In einem letzten Schritt werden die
Ergebnisse der Analyse noch einmal zusammengefasst und bewertet.[2]
Die Lehrplanentwicklung Thüringens lässt sich als Transformation
von einer „staatsbürgerlichen Erziehung“ hin zu einer „politischen Bildung“
begreifen. Dazu schiene es zunächst naheliegend, die staatsbürgerliche
Erziehung in der Staatsbürgerkunde der DDR zu verorten, deren Bildungsideal in
der Identität von Mensch und sozialistischem Staatsbürger bestand; die Idee
einer politischen Bildung jedoch, deren Ziel die Erziehung zu denkenden Menschen
ist, welche sachgerecht analysierend und selbständig urteilend an der
Gesellschaft partizipieren, der Bundesrepublik zuzuordnen. Ein solcher
Transformationsbegriff, der in der Soziologie zuweilen als „nachholende Modernisierung“
bezeichnet wird, genügt für die erziehungswissenschaftliche
Transformationsuntersuchung nicht. Eine bildungs- und erziehungstheoretische
Analyse muss die Überführung von vereinfachenden Einheitsvorstellungen hin zur
Zulassung von Differenzen zwischen den verschiedenen Welt-, Mitwelt-, und
Selbstverhältnissen des Menschen sowie die Reflexion dieser Beziehungsgeflechte
thematisieren. Da solche Verhältnisse nur um den Preis der Aufrichtung eines
neuen Bildungsideals für alle verbindlich festgelegt werden können, handelt es
sich bei der Transformation, so wie wir sie verstehen, um einen prinzipiell
unabschließbaren Prozess. (vgl. H. Schluß / E. Sattler 2001) Wäre sie abgeschlossen,
bedeutete gerade dies die Aufrichtung eines neuen Erziehungsideals. So bleibt
es eine dauernde Aufgabe erziehungswissenschaftlicher Kritik, heimliche und
z.T. unheimliche Bildungsideale aufzuspüren, ohne jemals ein Ankommen am Ende
des Transformationsprozesses absehen zu können.
Im Falle des
Fachbereiches der politischen Bildung kann dies besonders sinnfällig werden,
weil der Prozess des Politischen mit seinen demokratischen
Entscheidungsfindungen in Parlamenten und den Debatten in der Öffentlichkeit an
sich unabschließbar ist. So bleibt die von Politik-Lehrplänen zu leistende Transformation
auch deshalb eine Daueraufgabe, die mit der nachholenden Modernisierung von
einem Zustand A zu einem Zustand B nicht hinreichend beschrieben werden kann.
Lediglich der Ausgangspunkt eines Staatsbürgerkundelehrplanes, der dem Ideal
der sozialistischen staatsbürgerlichen Erziehung verpflichtet war, steht fest.
Wohin der Transformationsprozess fortschreitet, ob zu einem anderen
Bildungsideal oder zu einer Idee der politischen Bildung, ist nicht durch einen
Wechsel des Gesellschaftssystems präjudiziert.
Während die meisten neuen Bundesländer sich aufgrund der
äußerst knappen Zeit bis zum Schulanfang des Schuljahres 1991/92 und den
geringen eigenen Kapazitäten zur Lehrplanentwicklung für die Übernahme der
Lehrpläne der westdeutschen Partnerländer entschieden, wählte Thüringen einen
Sonderweg. Da es wegen der Zeitknappheit nicht möglich war komplett neue
Lehrpläne zu schreiben, entschied man sich für ein dreistufiges Verfahren der
Lehrplanentwicklung. In der ersten Phase (1991) sollten lediglich „Vorläufige
Lehrplanhinweise“ (VLH) entstehen (Thüringer Kultusministerium 1991). (vgl. H. Schluss 1999 und 2003) Aus denen
sollten 1993 „Vorläufige Lehrpläne“ (VLP) hervorgehen (Thüringer
Kultusministerium 1993a, 1993b). In einer dritten Phase sollten dann bis 1998
nach ausführlicher Evaluation die endgültigen „Lehrpläne“ (LP) erarbeitet
werden (Thüringer Kultusministerium 1999). Für die Analyse war die Thüringer Entwicklung
besonders interessant, weil hier nicht nur der Transformationsprozess von
eigenen Entwürfen eines neuen Bundeslandes ausging, sondern auch, weil inzwischen
die dritte Phase der Lehrplanentwicklung erreicht ist.
Die VLH von 1991 setzen sich aus einer dreiseitigen Einleitung,
die über Aufgaben, Ziele und Methoden Rechenschaft ablegt, und dem curricularen
Teil mit einem Umfang von neunundvierzig Seiten zusammen. Dieser Teil ist in
Form einer vierspaltigen Tabelle gestaltet. Darin werden
unterschiedliche Themen in Probleme, empfohlene Teilziele, Grundbegriffe und
Hinweise für den Unterricht stichwortartig ausdifferenziert, sodass im
Vergleich zu den ausformulierten DDR-Lehrplänen Interpretationsspielräume
entstehen.
Auf den
ersten Blick erwecken die VLP von 1993 den Eindruck gänzlich neu erarbeiteter
Lehrpläne. Das liegt nicht nur an dem gegenüber 1991 um zwei Drittel gekürzten
Einleitungsteil, sondern auch an der anderen Struktur des curricularen
Hauptteils. Aus der tabellarischen Einteilung in vier Spalten sind zwei Spalten
geworden. In denen sind jedoch alle 1991 in vier Spalten untergebrachten
Begriffe enthalten. Die marginalen inhaltlichen Änderungen finden sich
teilweise jedoch an entscheidenden Stellen. Diese Änderungen zu analysieren war
die Aufgabe der Untersuchung dieses Lehrplanes.
Der aus der
eingehenden Evaluation hervorgegangene Lehrplan von 1999 stellt einen gänzlich
neuen Ansatz dar. Dies wird schon am folgenden Verhältnis deutlich: Gab der
93er VLP lediglich auf einer Seite Rechenschaft über die Aufgaben des Thüringer
Sozialkundeunterrichts, so verwendet der 99er Lehrplan mehr als die Hälfte der
Seiten für allgemeine und einleitende Überlegungen.
Die
Analyse der Transformationsprozesse anhand dreier Kriteriengruppen des im
Projekt entwickelten Kriterienkatalogs (vgl. D.
Benner 1999) soll zeigen, inwiefern diese gelungen sind und inwieweit
nicht.
In
der staatsbürgerlichen Erziehung wird die Identität von Mensch und Staatsbürger
anstrebt. Ein solches Ideal, das der Mensch selbst nicht verändern, sondern nur
affirmieren kann, ist geradezu ein Extrembeispiel eines normativen Bildungsideals.
Eine politische Bildung hingegen geht von dem Ziel einer Teilhabe an einer sich
selbst aufklärenden Öffentlichkeit im Medium öffentlichen Streits und
öffentlicher Verständigung aus, die eine reflexive Stellungnahme zur
professionellen Politik ermöglicht. All dies findet statt in einer Pluralität
von Analysen, Urteilen und Meinungen, über deren Richtigkeit nicht mehr entschieden
werden kann, sondern lediglich deren Gültigkeit in politischen
Entscheidungsprozessen zeitweilig verbindlich gemacht werden kann. Eine solche
reflektierende Idee von Bildung wird deshalb keine Identität des Menschen mehr
vorgeben können, sondern nur noch Hilfestellung bei dem
Sich-in-Beziehung-setzen des Menschen zur Sphäre des Politischen sein können.
Die im einleitenden Teil der VLH von
1991 beschriebenen Ziele (Erziehung zu: „Demokratie, zur Achtung der Würde des
Menschen, zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit, zur Bereitschaft, den
Frieden zu sichern, zur Völkerverständigung unter dem besonderen Aspekt des
geeinten Europas“ (VLH, S. 6)) sind in hohem Maße normativ und repräsentieren
ein hehres Bildungsideal. Eine besondere Rolle spielt das Grundgesetz. Die
Arbeit mit ihm ist nicht nur „in den überwiegenden Stunden des Faches
Sozialkunde [...] unentbehrlich“ (VLH, S. 7), sondern der Unterricht soll auch
„die Wertvorstellungen des Grundgesetzes vermitteln“ (VLH, S. 6). Dieses normative
Bildungsideal ist zwar von dem guten Willen getragen, durch eine Erziehung zum
Grundgesetz die freiheitliche Demokratie zu sichern, die Problematik, mit einem
Bildungsideal zur Freiheit erziehen zu wollen, wird aber von den VLH nicht
berücksichtigt. So ist auch die Erziehung zum Staatsbürger nach wie vor
programmatisches Ziel und wurde weder durch Rousseaus
klassische Überlegungen zur Erziehung zum Staatsbürger (J.J. Rousseau 91989, S. 13) noch durch die Erfahrungen
des Staatsbürgerkundeunterrichts diskreditiert. Die Einheitsvorstellungen von
Mensch und Staatsbürger wurden bis in diesen Lehrplan hinein erhalten, auch
wenn die Einheit nicht mehr sozialistisch codiert, sondern durch das
Grundgesetz repräsentiert wird.
Auch
dort, wo in den VLH die Pluralität der Alternativen vorkommt, kann es sein,
dass die eindeutige Präferenz auf ein bestimmtes „Normalverhalten“ gelegt wird,
das als Ideal angesehen wird. Dies zeigt sich exemplarisch, wenn der Wehrdienst
ein „individueller Beitrag zum Frieden“ ist, der Zivildienst dagegen zwar
erwähnt wird, jedoch nur den Status eines „verfassungsmäßigen Grundrechts“
erhält. (VLH S. 29) Das Problem daran ist, dass diese Meinungen als
Lernzielvorgabe im Lehrplan stehen.
In
den VLP von 1993 dagegen wurde anscheinend das Problematische an dem normativ
aufgeladenen Einleitungstext von 1991 erkannt. Daraus erklärt sich dessen
maßgebliche Kürzung durch den Wegfall der Erläuterungen der Lernziele und der
Methoden. Diese Streichung hatte jedoch zur Folge, dass die VLP zum einen über
Lern- und Erziehungsziele keinerlei Rechenschaft mehr ablegen, zum anderen die
problematischen Lernzielbeschreibungen von 1991 in dem weithin identischen
curricularen Teil unverändert implizit anzutreffen sind oder gar explizit
dorthin verschoben wurden. So fiel im Einleitungsteil auch das Ziel einer
Erziehung zum „Staatsbürger“ weg. Allerdings taucht dieser problematische
Begriff gleich in dem ersten zu behandelnden Thema der VLP gänzlich unkommentiert
als Grundbegriff auf (VLP, S.13). Die Streichung des Staatsbürgerbegriffs in
der Einleitung kann so wohl kaum einem gestiegenen Problembewusstsein zugerechnet
werden.
Dagegen
finden sich die Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses (vgl. H. Schneider
1999) fast wörtlich im Lehrplan von 1999 wieder und wirken sich positiv
auf den Inhalt aus. Am deutlichsten wird dies im ersten Grobziel, wenn gesehen
wird, dass „Schüler Politik immer schon auf der Basis ihrer Voreinstellungen
beurteilen“ (LP, S. 13). Dem Unterricht gehe es „weder um die Bestätigung noch
um die Veränderung solcher Schülerurteile, sondern um Kompetenzzuwachs und Differenzierung
der Argumentation“ (ebd.). In Zeiten zunehmender rechtsradikaler Gesinnung
unter den Schülern stellt ein solcher Satz die Ausnahme in bundesdeutschen
Lehrplänen dar. Denn von den staatsbürgerlichen Zielvorgaben der Erziehung und
nicht von der Fähigkeit zu einer differenzierteren Argumentation erhoffen sich
viele Politiker eine schnelle Heilung von diesem gesellschaftlichen Übel. In solchen
Einstellungen treffen wir eine gesellschaftlich weithin akzeptierte
Legitimationsstrategie einer staatsbürgerlichen Erziehung an, der dieser Lehrplan
hier die Intention politischer Bildung entgegensetzt.
Die
Identitätsannahmen einer staatsbürgerlichen Erziehung beziehen sich nicht nur
auf das Verhältnis des Menschen zur Sphäre des Politischen, sondern sie setzen
auch eine Einheit von Wissen und Handeln voraus, so dass das eine das andere
prädeterminiert. Intention politischer Bildung dagegen wird es sein, an der
Differenz zwischen Wissen und Haltung festzuhalten und im Unterricht die
Probleme der Vermittlung zwischen beiden zu thematisieren. Mit der Vermittlung
von Wissen wird nicht eine bestimmte Haltungserziehung verbunden, sondern
vielmehr wird dazu aufgefordert und ermutigt, das erworbene Wissen
selbstverantwortet anzuwenden und in der Sphäre des politischen aktiv zu
agieren. Wie und ob der- oder diejenige dort jedoch handelt, kann nicht
durch Unterricht festgelegt werden.
In der einleitenden Beschreibung
der „Lern-ziele“ der VLH von 1991 wechseln Formulierungen wie
„Einsicht gewinnen“, „Erziehung zu“, „zur Erkenntnis führen“ beständig ab, ohne
dass eine semantische Differenz erkennbar wäre. Es handelt sich demnach zumeist
Erziehungs-ziele, auch wenn diese mit Worten beschrieben werden,
die sich eigentlich auf Lernziele beziehen. Die Unkenntnis der
Vermittlungsprobleme zwischen Wissen und Haltung wird weiterhin deutlich, wenn
in einem Dreischritt aus „Vermittlung von Kenntnissen” und „Erfassen von Zusammenhängen”
unmittelbar der „Aufbau von bedeutsamen Haltungen” folgt (VLH, S. 5).
Anders der
VLP von 1993, der an dieser Stelle eine Variante aufweist. Hier folgt in einem
Dreischritt aus „Vermittlung von Kenntnissen” und „Erfassen von Zusammenhängen”
nicht mehr unmittelbar der „Aufbau von bedeutsamen Haltungen” (VLH, S.
5), sondern lediglich eine „Anregung” zur aktiven Gestaltung der
Demokratie (VLP, S. 4). Die Intention einer politischen Bildung spiegelt sich
in Nuancen wie dieser. Welche Haltungen aufgebaut werden, kann politische
Bildung nicht mehr verordnen und ermutigt dennoch zu einem reflektierten Handeln.
Da jedoch ansonst der VLP mit dem VLH weithin identisch ist, hat sich diese
weitreichende Nuance leider nicht in den anderen Teilen des VLPs niedergeschlagen[3].
Überraschend
ist jedoch, dass am Anfang des 99er Lehrplanes hinter dieses bereits 1993 in
Ansätzen erreichte Reflexionsniveau zurückgefallen wird, wenn der Lehrplan beispielsweise
von einer „Verzahnung von Wissensvermittlung, Werteaneignung und
Persönlichkeitsentwicklung” (LP, S. 5) spricht. Ein solches Unterfangen steht
auch den im Lehrplan selbst angeführten Zielen des ”Handlungsbezugs, der
Offenheit des Lernens sowie Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit der Schüler”
(LP, S. 10) entgegen.
Die gesamte dritte
Lehrplangeneration aller Fächer durchzieht das sogenannte Kompetenzmodell.
Dieses fußt auf dem Ziel der Stärkung von vier Kompetenzen im Fachunterricht:
Sach-, Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenz. Alle vier sollen in die fachliche
Bewertung mit einfließen. So richtig es ist, dass Unterricht auch immer auf das
Selbstverständnis von Schülern und auf ihr Sozialverhalten Einfluss hat, ist dennoch
zu bezweifeln, ob Sozial- und Selbstkompetenz neben Sach- und Methodenkompetenz
zu gleichrangigen Zielen des Unterrichts gemacht werden können. Selbst-
und Sozialkompetenz haben innerhalb der Schule ihren primären Ort im Schulleben,
nicht im Unterricht. Gerade hier ließe sich der Unterschied zwischen einem
praktischen und einem theoretischen Denken und Lernen verorten. Auch wenn
beides nicht ohne Bezug zueinander ist, so ist es doch nicht identisch, und die
Vermittlung zwischen beiden ist zu problematisieren.
So vielversprechend die im
Lehrplan vorgestellten Methoden des fächerübergreifenden Unterrichtes auch
sind, scheint es doch, als läge die Begründung für ihn darin, diejenigen
erzieherischen Wünschbarkeiten (Bildungsideale), die im Fachunterricht nicht zu
realisieren sind, nun im fächerübergreifenden Unterricht zu erreichen. Wenn
Ziele wie „Berufswahlvorbereitung, Erziehung zu Gewaltfreiheit, Toleranz
und Frieden, Gesundheitserziehung, Umgang mit Medien und Informationstechniken,
Verkehrserziehung und Umwelterziehung“ (LP, S. 7) genannt werden,
zeigt sich, dass die Autoren des allgemeinen Teils weniger die „Grund-bildung“,
wie anfangs angekündigt, sondern wieder vor allem „Erziehung“ beabsichtigen.
(Hervorhebungen H.S.). Die Autorinnen und Autoren bleiben die Erklärung
schuldig, wieso im fächerübergreifenden Unterricht gelingen soll, was im
Fachunterricht mit gutem Grund als unmöglich erkannt wurde. Statt dessen sind
die konkreten Kooperationsvorschläge im curricularen Teil des Lehrplans sehr
konkret und bieten hervorragende Möglichkeiten des thematischen Zusammenarbeitens
an. Würde die Zielbeschreibung des fächerübergreifenden Arbeitens sich also an
diesen im Lehrplan selbst angegebenen Möglichkeiten orientieren, würde er nicht
mit Erwartungen überfrachtet, die weder im Fachunterricht noch im fächerübergreifenden
Unterricht erfüllt werden können.
Konzepte
staatsbürgerlicher Erziehung suchen sich oft ihre Legitimation in einer
Wissenschaft, die beansprucht, gültige Aussagen sowohl über die private Sphäre
des Umgangs des Menschen zu machen, als auch den einzig möglichen gesellschaftlichen
Sinn dieser zunächst innerwissenschaftlichen Aussage mit zu wissen. Es wird
nicht noch einmal in der Sphäre der Gesellschaft oder des privaten Umgangs
darüber entschieden, ob und inwieweit eine wissenschaftliche Aussage Bedeutung
erlangt, sondern allein ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbürgt auch den
Anspruch auf Wahrheit, der in allen Bereichen des menschlichen Lebens
uneingeschränkt Geltung fordert. Die Intention einer politischen Bildung nach
unserem Verständnis wäre es dagegen, die Bezugsprobleme einer immer stärker
verwissenschaftlichten Gesellschaft zu den nicht primär wissenschaftsorientierten
Bereichen des menschlichen Lebens zu thematisieren, ohne den Anspruch erheben
zu können, sie letztgültig aufzuklären.
Die
Kriterien des dritten Blocks, die zwischen einem innerwissenschaftlichen Sinn
wissenschaftlicher Aussagen einerseits und deren Bedeutung für
gesellschaftliche Zusammenhänge und ein persönliches Umgangsverhältnis andererseits
unterscheiden, konnten für die VLH vor allem deshalb nur mit negativem Resultat
in Anwendung kommen, weil laut deren Selbstaussage „Politischer Unterricht
[...] soviel Institutionenkunde wie nötig und soviel praktischer
Anschauungsunterricht wie möglich” (VLH, S. 7) sein sollte. Politische Theorie
kommt also nicht vor, und tatsächlich wird in den ganzen VLH nur im
Zusammenhang mit der Gewaltenteilung ein einziger Theoretiker (Montesquieu) genannt (VLH, S. 37).
Auch
die Untersuchung der VLH in Bezug auf ein Bewusstsein der Differenz zwischen
einer uneinholbaren Wirklichkeit und unserem immer vermittelten Bewusstsein von
ihr fand kaum Anhaltspunkte. Wird Unterricht lediglich als „Kunde“ und
„Anschauung“ begriffen, dann wird keine Sprache kultiviert, die ein Bewusstsein
der Differenz der Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, und der Wirklichkeit,
wie sie an sich selbst sein mag, artikulieren kann. Folgerichtig formulieren
die VLH dann auch als Teilziel: „Tolerierung einer nicht-genehmen, aber richtigen
Entscheidung” (VLH, S. 10). Eine solche Aussage der Richtigkeit politischer
Entscheidungen ist nur dann haltbar, wenn sie im Bewußtsein einer
Zugriffsmöglichkeit auf diese Wirklichkeit erfolgt. Sie ist damit selbst
intolerant, denn im Wissen um die „Richtigkeit” von Entscheidungen ist es
legitim, alle anderen wenigstens zur Tolerierung oder gar zur Zustimmung zu
diesen „richtigen“ Entscheidungen zu bewegen.
Gab es 1991 in den VLH schon so
gut wie keine politische Wissenschaft, so wird 1993 auch der einzige Verweis
auf einen Theoretiker des Politischen, auf Montesquieu,
getilgt. Das Problem: „Vom Wesen und Sinn von Staatsgewalt”, das 1991
als erstes Problem des ersten Themas des Sozialkundeunterrichtes
überhaupt behandelt wurde, fehlt 1993 ganz. Der VLP nennt also weder eine
politische Theorie noch einen Theoretiker des Politischen. Vermutlich ist darin
nicht so sehr das Programm einer staatsbürgerlichen Erziehung zu sehen,
als vielmehr ein Reflex auf die Überfrachtung des ehemaligen
Staatsbürgerkundeunterrichts mit einer bestimmten Art von politischer Theorie,
die in der Lage sein sollte, die einziggültige Wahrheit in allen
Lebensbereichen zu verbürgen. Mit dem Bade wurde aber das Kind ausgeschüttet,
wenn durch den Verzicht auf Wissenschaft auch auf die Vermittlung
tiefergreifender Reflexionsmethoden des politischen Erlebens verzichtet wurde.
Das einfache Weglassen einer Legitimationsstrategie der staatsbürgerlichen
Erziehung verwandelt diese noch nicht in politische Bildung. Ihr müsste das
Medium der Wissenschaft in seiner Pluralität zur Analyse des vermeintlich Gegebenen
zur Verfügung stehen.
Der
Lehrplan von 1999 scheint hier anzusetzen, wenn dem Prinzip der „Wissenschaftsorientierung”
im einleitenden Text des Gymnasiallehrplans eine besondere Bedeutung zuerkannt
wird. Sieht man jedoch im curricularen Teil des Lehrplanes nach, wie dies
Prinzip umgesetzt wird, so fällt auf, dass zwar Ansätze sozialwissenschaftlicher
Theorien vorkommen, jedoch der Problembereich, in dem „Politische
Ordnungsideen” thematisiert werden sollen, fakultativ ist (LP, S. 25). Hervorhebenswert
ist dagegen, dass sich im Lehrplan ein Bewusstsein des Modellcharakters von
Theorien spiegelt. Wissenschaftliche Theorien verbürgen also gerade keine
Wahrheit, wie dies in Legitimationsstrategien einer staatsbürgerlichen
Erziehung der Fall ist, sondern sie sind konkurrierende Konstrukte des
menschlichen Verstandes.
Berücksichtigt man die Kürze der zur Verfügung stehenden
Zeit, die Unerfahrenheit der engagierten Lehrerinnen und Lehrer in der ihnen
plötzlich übertragenen Verantwortung der Lehrplanentwicklung und den Mangel an
eigener theoretischer Vorbildung, so bleiben die VLH ein erstaunliches Zeugnis
einer Übergangszeit. Im Vergleich mit den Lehrplänen für Staatsbürgerkunde sind
gänzlich neue Lehrpläne entstanden, die inhaltlich keinerlei Ähnlichkeiten mehr
mit diesen hatten. Allerdings wies die tiefergreifende kriteriengeleitete
Analyse strukturelle Ähnlichkeiten nach, die darauf hindeuten, dass zwar der
Inhalt des Bildungsideals ausgetauscht, jedoch die Struktur der Konstruktion
eines Bildungsideals nicht aufgegeben wurde.
Insgesamt
hinterläßt der VLP ein noch weniger positives Bild. Die Veränderungen sind vor
allem kosmetischer Natur. Das Weglassen der Lernziele kann nur bedingt auf die
Erkenntnis von deren bildungstheoretischer Problembehaftetheit zurückgeführt
werden, weil diese ansonst in dem Lehrplan weiterhin ausdrücklich und unausdrücklich
anzutreffen sind. Der ohnehin schon marginale Bereich der politischen Theorie
wurde weiter ausgedünnt. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Vorläufigen
Lehrpläne für den relativ langen Zeitraum von sechs Jahren Gültigkeit behalten
sollten, bevor sie von den Lehrplänen abgelöst wurden. Die wenigen
Verbesserungen vermögen all diese problematischen Aspekte nicht aufzuwiegen.
Dies lässt sich am eindrücklichsten an dem gewandelten Toleranzbegriff, den die
VLP vertreten, illustrieren. Statt von einer „richtigen Entscheidung“, die zu
tolerieren sei (wie 1991), ist nun davon die Rede, dass „nichtgenehme
Mehrheitsentscheidungen” zu tolerieren seien (VLP, S. 9). Das zeugt einerseits
von einem Problembewusstsein gegenüber der Qualifizierung einer
politisch-demokratischen Entscheidung als „richtig”. Andererseits ist der an
die Stelle getretene Toleranzbegriff noch keiner, der dem entspricht, was
„Toleranz” seit ihrem Aufkommen im Orient des frühen Islam meint, die Toleranz
gegenüber Minderheiten. So wichtig Mehrheitsentscheidungen als das demokratische
Prinzip an sich auch sind, die Toleranz muss darüber hinausgehen.
Der Thüringische Lehrplan von
1999 ist keine Weiterentwicklung der VLH und der VLP, sondern gänzlich neu konzipiert.
Zwei seiner genannten Probleme lassen sich auf eine sehr ehrgeizige Intention
des Thüringischen Kultusministeriums zurückführen. Dieses verfolgte gemeinsam
mit dem ThILLM das Ziel, alle
diese Lehrpläne auch nach einem einheitlichen methodisch-didaktischen Konzept
zu gestalten (ThILLM 1998). So ist der Anfangsteil aller Lehrpläne, gleich für
welches Fach, in der jeweiligen Schulstufe identisch. Das geht jedoch weder aus
der Überschrift noch dem Text hervor, die den Eindruck erwecken, fachspezifisch
formuliert zu sein. Um so mehr verwundern dann die unüberbrückbaren Differenzen
zwischen Einleitungsteil und dem tatsächlichen fachspezifischen Teil, der
ungekennzeichnet beginnt. So überrascht es, wenn für das fächerübergreifende
Arbeiten im einleitenden Teil lediglich allgemeine Ziele aus dem Bereich der Erziehung
genannt und diese als Bildungs-ziele ausgegeben werden, im curricularen
Teil jedoch in hohem Maße reflektiert das Angebot der stoffbezogenen Zusammenarbeit
zwischen den Fächern gemacht wird. Noch deutlicher wird dies am
Kompetenzmodell, das wie ein Fremdkörper im Lehrplan wirkt. Anscheinend zeigte
sich schon in den fachbezogenen Überlegungen, wie wenig das Kompetenzmodell für
eine stoffbezogene Umsetzung im Unterricht taugt.[4]
Problematisch scheint vor allem
die Konzeption eines kompletten Lehrplanwerkes mit einem einheitlichen Konzept
von Bildung und Erziehung, das bis in die einzelnen Fachlehrpläne deduziert
wird. Die Folge ist eine ähnliche Spannung zwischen dem fachlichen Teil des
Lehrplanes und seiner ideologischen Einordnung, wie sie die Untersuchungen im
Projekt für die Lehrpläne der SBZ und DDR nachwiesen. Die Konsequenz wird wohl
sein müssen, sehr kritisch zu prüfen, wieviel an fächerübergreifenden
Rahmenvorgaben ein Fachlehrplan vertragen kann, ohne dass er sich zwangsläufig
in Spannungen zu diesen Vorgaben begeben muss. Darüber hinaus müssen diese
Rahmenvorgaben aber selbst überprüft werden, inwiefern sie Bildungsidealen eine
Legitimationsgrundlage verleihen, statt die Idee einer reflexiven Bildung zu
stärken.
Dennoch stellt der 99er Lehrplan
einen unübersehbaren Qualitätssprung dar. Nachdem die Toleranzbegriffe die Quintessenz
der jeweiligen Lehrplanphase repräsentierten, soll dies nun auch der dritte
Toleranzbegriff tun. Es geht nun darum, „andere politische Auffassungen als die
eigenen im Sinne eines Perspektivenwechsels zu verstehen und (soweit sie nicht
gegen Grund- und Menschenrechte verstoßen) zu tolerieren sowie simulativ für
begrenzte Zeit auch probehalber vertreten zu können” (LP, S. 13).
Die Kritik der Nachwendelehrpläne Thüringens hat gezeigt,
dass Prinzipien einer staatsbürgerlichen Erziehung ebenso wie deren
Legitimationen keineswegs an ein sozialistisches Staatsmodell gebunden sind,
sondern sie auch in Lehrplänen demokratischer Staaten partiell ihren Platz
haben können. Somit wird die anfängliche These in der Praxis bestätigt, dass
Transformationsprozesse von Bildungsidealen hin zu einer Idee reflektierender
Bildung eine dauernde Aufgabe bleiben.
Benner, D.: Zum Kritikverständnis der
Unterscheidung affirmativer und nicht-affirmativer Bildungskonzepte. In: D. Benner/K.-F. Göstemeyer/H. Sladek
(Hrsg.): Bildung und Kritik – Studien zum Gebrauch von Kritik im Umgang mit
Bildungszielen und –problemen. Weinheim 1999, S. 47-66.
Benner, D./Göstemeyer, K.-F./Sladek, H./Fischer,
G./Schluß, H.:
Teilprojekt „Bildungstheorie und Unterricht“. In: Schlußbericht der
Forschergruppe Bildung und Schule im Transformationsprozess von SBZ, DDR und
neuen Ländern – Untersuchungen zu Kontinuität und Wandel. Berlin 2000, S.
24-27.
Euler, M.: Lehrpläne „Sozialkunde“ des Landes Thüringen. In: A. Basler/F. Nonnenmacher (Hrsg.): Die
Lehrpläne zur politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 1997, S. 184-194.
Rousseau, J.J.: Emil oder über die Erziehung. Schöning 91989.
Sander, W.: Abschied
von der Stofforientierung – Zum politikdidaktischen Hintergrund der Lehrpläne
für Sozialkunde in Thüringen. In: Materialien 37: Sozialkunde. ThILLM Bad Berka, 2000.
Schluß, H.: Lehrpläne im Transformationsprozess - Eine Analyse der
vorläufigen Lehrplanhinweise des Bundeslandes Thüringen von 1991 für das Fach
Sozialkunde. In: D. Benner/K.-F.
Göstemeyer/H. Sladek (Hrsg.): Bildung und Kritik – Studien zum Gebrauch
von Kritik im Umgang mit Bildungszielen und –problemen. Weinheim 1999, S.
143-174.
Schluß, H.: Lehrplanentwicklung in den neuen Ländern - Nachholende
Modernisierung oder reflexive Transformation? Wochenschauverlag, Schwalbach/Ts.
2003
Schluß,
H./Sattler, E.: Transformation – einige Gedanken zur
Adaption eines nicht einheimischen Begriffs. In Vierteljahrsschrift für
wissenschaftliche Pädagogik 2/2001, S. 173-188.
Schneider, H.: Der Beutelsbacher Konsens. In: W. Mickel (Hrsg.): Handbuch
zur politischen Bildung. Bonn 1999, S. 171-178.
ThILLM: Was ist neu an den Thüringer
Lahrplänen? Bad Berka 1998.
Thüringer Kultusministerium (Hrsg.): Vorläufige Lehrplanhinweise für Realschule und Gymnasium – Sozialkunde. Erfurt 1991.
Thüringer
Kultusministerium (Hrsg.): Vorläufiger Lehrplan für das
Gymnasium – Sozialkunde. Erfurt 1993a.
Thüringer Kultusministerium
(Hrsg.): Vorläufiger
Lehrplan für die Regelschule – Sozialkunde. Erfurt 1993b.
Thüringer Kultusministerium
(Hrsg.): Lehrplan für das
Gymnasium – Sozialkunde. Erfurt 1999.
[1] Die aus dem Forschungsprojekt
hervorgegangene Literatur findet sich in: D.
Benner / K.-F. Göstemeyer / H.
Sladek / G. Fischer / H. Schluss 2000.
[2] Die gelungene Zusammenarbeit mit
dem Thüringer Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und
Medien (ThILLM) bedeutete für uns eine externe Evaluation der im Projekt
erarbeiteten Kriterien.
[3] So stellt auch Markus Euler (zustimmend) fest: „Besondere
Aufmerksamkeit wurde in den Lehrplänen auf die Verdeutlichung der Einheit von
Wissensvermittlung und Erziehung sowie der Verbindung von Bildungs- und
Erziehungszielen gerichtet.“ (M.
Euler 1997, S.186).
[4] In seiner Erläuterung des
politikdidaktischen Hintergrundes des Lehrplans geht Wolfgang Sander auf die vierfachen Kompetenzen nicht ein.
Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass das Kompetenzmodell nicht aus
fachdidaktischen Gründen in den Lehrplan aufgenommen (aber nicht integriert) wurde,
sondern eine einzuarbeitende Vorgabe darstellt, die noch dazu relativ spät in
die Kommissionen gegeben wurde. Vgl.: W. Sander
2000.