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Martin Luther und die Pädagogik -

Versuch einer Re-konstruktion

 

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Berlin, Anno Domini 2000

 

Ich acht auch, das unter den eusserlichen sunden die wellt fur Gott von keyner so hoch beschweret ist und so grewliche strafe verdienet, alls eben von diser, die wyr an den kindern thun, das wyr sie nicht zihen.

(Martin Luther, An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen. (1524), S.33)

Zusammenfassung

Ausgangspunkt ist die virulente Frage, ob und inwiefern Martin Luther noch ein Mensch des Mittelalters oder schon der Neuzeit war. Diese Frage wird für die Untersuchung so reformuliert, ob sich im pädagogischen Denken Luthers Auffassungen zeigen, deren historisches Auftreten gemeinhin erst im 17. und 18. Jh. verortet wird.

Vorraussetzung jedes pädagogischen Denkens, das wir als neuzeitlich bezeichnen können, ist ein Begriff des Menschen, der ihn als handlungsfähiges und handlungsbedürftiges Individuum versteht. Die große Rolle, die die „Gnade“ in manchen älteren Konzepten spielt, scheint einer solchen Anthropologie im Wege zu stehen. Zur Klärung dieser Voraussetzung wird Luthers Freiheitsverständnis untersucht. Die so herausgearbeiteten komplexen Wechselbeziehungen zwischen Welt und Gott in denen Luther den Menschen verortet, schließen grundsätzlich ‚neuzeitliche‘ Ansätze der Pädagogik nicht von vornherein aus. Um zu prüfen, ob diese Möglichkeiten auch realisiert werden, werden die pädagogischen Schriften Luthers in erziehungstheoretischer, institutionstheoretischer und bildungstheoretischer Hinsicht analysiert. Dabei zeigt sich, daß in allen drei Bereichen Aufforderungen, Überlegungen und Begründungen vorkommen, die weithin in der Pädagogik erst ca. zweihundert Jahre später verortet werden. Die Konsequenz daraus wird jedoch nicht sein können, Luther zum neuzeitlichen Menschen zu erklären, sondern vielmehr gängigen Rastern wie „neuzeitlich/vorneuzeitlich“ einen eingeschränkteren Plausibilitätsrahmen einzuräumen und Kontinuitäten dort zu entdecken, wo uns die zum Vorverständnis (Gadamer) gewordenen Interpretationsraster des Paradigmenwechsels nur Brüche erkennen lassen.

1     Einleitung

Immer wieder ist umstritten, inwiefern Martin Luther noch ein Mensch des Mittelalters oder schon ein Vertreter der Neuzeit war.[1] Für diesen Streit können beide Seiten gute Gründe beibringen.[2] Das pädagogische Denken Luthers bleibt in dieser Debatte jedoch weitgehend unbeachtet, sondern sie bezieht sich, auch unter Pädagogen, zumeist auf Luthers theologische Leistungen. Dort jedoch, wo einzelne Thematiken des pädagogischen Denkens Luthers untersucht werden, zeigen die AutorInnen sich häufig überrascht ob der modern wirkenden Ansichten Luthers. So Friedrich Schweitzer, der Luthers Beiträge zur Schulreform, zur Reform der religiösen Bildung und seinen Beitrag zur Erfindung der Kindheit untersucht: „Vieles, was gemeinhin erst in späterer Zeit erwartet wird, findet sich hier in Form erster, aber doch zukunftsweisender Perspektiven für Schule und Bildung.“[3] Aber auch das Gegenteil ist zu hören, nicht nur in Kampfschriften wie der von Carl-Heinz Mallet mit dem programmatischen Titel: „Untertan Kind“, die das Kapitel über Luther immerhin noch mit „Die Geburt der bürgerlichen Erziehung“ überschreibt[4], sondern zurückhaltender auch in seriösen Quellen, wie Heinz-Elmar Tenorths „Geschichte der Erziehung“, der Luthers Bedeutung für die Bildungsgeschichte zwar zu würdigen weiß, ihn jedoch nur zeilenweise erwähnt. Neben sinnvollen Unterscheidungen wie der zwischen der Volksschule zu Luthers Zeit und der späteren Volksschule finden sich auch sehr skeptische Aussagen zu Luthers Modernität, die sich mit den angegebenen Quellen kaum belegen lassen.[5] Schuld daran mag eine unter Pädagogen selbst zur Zeit seines 500 jährigen Jubiläums 1983 zu beobachtende „Luthervergessenheit“ sein.[6] Sehr viel euphorischer sind dagegen ältere Darstellungen.[7] Aber auch in jüngster Zeit findet sich eine emphatische und kritikarme Lutherrezeption, in der Luther zum Wegweiser alles Progressiven in der Erziehung gekürt wird. Z.B. H. H. Karg  kann ihn in seiner Monographie als „Vater der Volksschule“ und „rechtlichen Begründer des Schulwesens“ bezeichnen. In der Verurteilung der Elternschaft ob ihrer allgemeinen Unfähigkeit und Unwilligkeit Kinder zu gebären und zu erziehen, bringe er Argumente hervor, die „an Gültigkeit und Aktualität nichts eingebüßt haben“.[8] Ein besonderes Feld ist die Lutherrezeption in der DDR, die, aus Gründen die hier nicht ausgeführt werden können, tiefgreifende Wandlungen erfahren hat. Ein interessantes Produkt der Wende hin zu einer positiven Rezeption des vormaligen „Verräters der Bauern“ im Bereich der Pädagogik ist der Aufsatz von Friedrich Zimmermann.[9] Neben der Anerkennung von Luthers Leistungen auf dem Gebiet der Überlegungen zur Schulreform wird hier auch die Auswirkungen auf die konkrete Schulentwicklung  untersucht.

Daß die Debatte um die Modernität Luthers so selten mit systematischen pädagogischen Argumenten geführt wird, ist deshalb um so erstaunlicher, weil es auf pädagogischem Gebiet so etwas wie einen Konsens darüber zu geben scheint, was denn neuzeitliches pädagogisches Denken ausmacht. Denn daß die neuzeitliche Bildungsproblematik systematisch erst im späten 17. Jh. mit Locke und  im 18. Jh. mit Rousseau, den Philanthrophen, Kant, Herbart und Schleiermacher mit je einer spezifischen Pointe etabliert wurde, ist ein Allgemeinplatz der Erziehungswissenschaft.

Über die hier angegebenen Rezeptionen hinausgehend, dient der hier vorliegende Versuch einer Rekonstruktion von Luthers pädagogischem Denken dem Anliegen, diesen Allgemeinplatz kritisch zu hinterfragen. Eine solche Rekonstruktion muß notwendig immer auch eine Konstruktion sein, da Luther selbst keine ausgearbeitete pädagogische Theorie entwickelt hatte. Um diese Konstruktion nicht beliebig werden zu lassen, versuche ich mit hermeneutischen Methoden Umrisse einer pädagogischen Theorie aus Luthers Schriften förmlich herauszuschälen.[10]

Die Untersuchung selbst ist in drei grundlegende Fragestellungen der wissenschaftlichen Pädagogik gegliedert: einer Theorie der Erziehung, einer Theorie der Bildung und einer Theorie pädagogischer Institutionen. Um jedoch von Pädagogik in einem neuzeitlichen Sinn in ihren drei Hinsichten überhaupt sprechen zu können, ist zunächst ihre elementare Voraussetzung zu erörtern, die den Hintergrund des pädagogischen Denkens Luthers allererst erhellt. Wie zu zeigen sein wird, ist das Verständnis der Freiheit des Menschen, eine fundamentale Voraussetzung der Möglichkeit dessen, was wir neuzeitlichen Pädagogik nennen. Luthers keineswegs einfache, sondern vielmehr in einem komplexen Wechselverhältnis stehende Vorstellung von der Freiheit oder Unfreiheit des Menschen hat vielfach noch zu seinen Lebzeiten und danach zu Mißverständnissen und Zerwürfnissen geführt.[11]

Eine weitere Voraussetzung für das Vorhandensein einer pädagogischen Theorie ist die Deutung der Kindheit als eigener Lebensphase. Die von Philippe Ariès vertretene These, derzufolge von der Anerkennung der Kindheit als einer eignständigen Phase des menschlichen Lebens erst im Ausgang des 18. Jh. gesprochen werden könne[12], ist auch ansonst problematisch, für die Lutherforschung jedoch einhellig widerlegt.[13] Ob aber die von Luther verstandene Kindheit schon Züge einer Kindheit im modernen Sinne trägt, ist damit noch nicht gesagt. Dieser spezifisch moderne Begriff der Kindheit ist nach Dietrich Benner durch Rousseaus Entdeckung konstituiert; „nicht um die künftige Bestimmung von Kindern und Heranwachsenden wissen (zu, H.S.) können...“.[14] Im Durchgang durch die drei genannten Bereiche der pädagogischen Theorie wird gleichzeitig die Frage beantwortet, ob sich zumindest Elemente dieses modernen Kindheitsbegriffs, dessen Entdeckung Benner im 18. Jh. verortet, schon im Werk Luthers aufspüren lassen.

Falls diese Frage bejaht werden könnte, ließen sich daraus zwei Schlußfolgerungen ziehen. Die eine wäre nun die These zu vertreten, daß das Aufscheinen der Moderne im Bereich der Pädagogik um mindestens zweihundert Jahre nach vorn datiert werden müßte. Eine andere Folgerung wäre, den Begriff, der anscheinend so trennscharf modernes von vormodernem scheidet, selbst zu hinterfragen. Eventuell ließe sich zeigen, daß das Aufbauen einer solchen Scheidewand eine Scheinplausibilität bei sich führt, die die Sicht auf historische Entwicklungen eher verstellt als befördert. Diese Fragestellung erklärt die Methode dieser Untersuchung, gezielt nach denjenigen Elementen im pädagogischen Werk Luthers zu suchen, die uns als ‚neuzeitlich‘ erscheinen können und die traditional argumentierenden Passagen nicht mit gleichem Gewicht zu behandeln.

2     Prolog

2.1     Die Voraussetzung einer Konstruktion der pädagogischen Theorie Martin Luthers

„Wo das Heil präsent ist oder wo es als präsent erlebt wird, hat das Lernen keinen Ort“, schreibt  Klaus Prange in seinem Essay: „Lernen ohne Gnade. Zum Verhältnis von Religion und Erziehung“[15] und untermauert diese These mit einer bemerkenswerten Breite an Beispielen. Um es mit anderen Worten zu sagen, wo der Mensch vollkommen ist, bedarf es der ständigen, sich selbst negierenden und überholenden Vervollkommnung nicht mehr. Bildsamkeit ist nur dort von Nöten, wo der Mensch nicht vollkommen gebildet ist. Prange findet die Beispiele einer solchen präsentischen Eschatologie besonders in der ersten Christenheit, aber auch im Mittelalter. Erst dort, wo das Heil wieder weiter aus dem Erfahrungshorizont der Menschen weg rückt, kommt dem Lehren und Lernen eine neue Bedeutung zu. Sein Beispiel sind die aufkommenden Lehrorden, welche die kontemplativen Orden zurücktreten lassen. Soweit Prange.

In der Kirchengeschichte ist Luther der Theologe, der diese Ferne des Heils umkehrt. Mit der Reformation ist das Heil, das zuvor in scholastischen Lehrgebäuden wohl verwahrt war, wieder aufgebrochen und präsent. Keineswegs nur im Schwärmertum, sondern als Kern lutherischer Theologie.  Auf die für ihn zentrale Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ fand Luther die Antwort; nicht eigenes gerechtes Handeln läßt den Menschen Gott recht sein, sondern gerechtfertigt ist der Mensch allein deshalb, weil Gottes Gerechtigkeit darin besteht, ihn bedingungslos anzunehmen. Das Heil ist also schon da und muß nicht erworben, verdient oder bezahlt werden.  Und dieser heilende Gott ist im Abendmahl wirklich präsent.[16] Wenn das Lernen sich aber nicht mit der Gnade verträgt, wie Prange jedoch mit Gründen feststellt, kann denn dann von Luther eine sinnvolle Aussage zum Thema der Pädagogik überhaupt erwartet werden? Diese Frage entscheidet sich daran, wie Luther die Präsens des Heils deutet. Versteht er sie als eine, die jegliche Entwicklung des Menschen überflüssig macht, weil das Heil ihn bereits in Vollkommenheit hüllt, oder gibt es ein anderes Verständnis des präsenten Heils, das die Freiheit des Menschen nicht überholt, sondern sie geradezu herausfordert? Die Frage also, wie Luther auf die Problematik der Freiheit des Menschen eingeht, ist entscheidend dafür, ob er überhaupt Ansätze einer Theorie der Pädagogik im neuzeitlichen Sinne haben kann.[17]

2.2     Freiheit

Wir sind oftmals gewohnt, Freiheit mit Autonomie gleichzusetzen. Das trifft jedoch nicht den biblischen Freiheitsbegriff, an den Luther sich anlehnt. Freiheit hat für Luther etwas mit Befreiung zu tun. Autor dieser Befreiung ist nicht der jeweilige Mensch selber, sondern Gott. Wird lediglich von Autonomie geredet, so ist das Subjekt dieser so verstandenen Freiheit im ersten Teil des Wortes enthalten, es ist das Selbst. Eine selbstbezügliche Bestimmung der Freiheit als Unabhängigkeit war für Luther jedoch unmöglich. Freiheit ist für ihn ein Wort, das die Beziehung schon in sich birgt.[18]

Die Rede von der Freiheit des Menschen läßt sich bei Luther in zweifacher Hinsicht fassen, einerseits im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott und andererseits auf die Beziehungen des Menschen zur Welt.

a) Die reformatorische Erkenntnis für den Bereich des Gottesverhältnisses ist, daß der Mensch das Heil weder selbst verdienen kann noch muß, sondern daß vielmehr die Gerechtigkeit Gottes ein Geschenk an den Menschen ist. Jegliche Mitarbeit (cooperatio) an der eigenen Rechtfertigung, also am ”Rechtsein des Menschen vor Gott” ist ihm unmöglich. Diese Erkenntnis scheint in Luthers Werken seit  1516  schon an, kam jedoch 1518 endgültig zum Durchbruch. Die Bibelstelle, an der sich dies entschied, findet sich im Römerbrief des Paulus 1, 17[19]. Nie war diese reformatorische Erkenntnis jedoch die bloße Bucherkenntnis eines Brotgelehrten, sondern sie fand ihren sichtbarsten Ausdruck in Luthers Stellung zum Ablaß: Papst Leo X. erneuerte den Plenarablaß zum Bau des Petersdoms, Albrecht von Mainz hatte als Erzbischof ein besonderes Interesse am Vertrieb der Ablaßbriefe, weil er somit seine Schulden bei der Kurie bezahlen konnte. Ablaßkommissar war der Magdeburger Johann Tetzel. Gegen die beiden letzteren richtete sich Luther, als er in einem Brief klarstellte, daß der Ablaß nicht etwa zur Sündenvergebung führt, denn die Sünden vergibt allein Gott, sondern lediglich die auferlegten Kirchenstrafen kompensiert. Dies war eine Kritik an der Praxis des Ablasses, die diesen Unterschied geflissentlich verschwieg und suggerierte, daß die ”Seele in den Himmel springt, sobald das Geld im Kasten klingt.”[20] Da der Papst jedoch nicht auf Seiten Luthers Stellung bezog, eskalierte der Streit. In der Folge kam es zur Reformation.

Geht es also um das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, so ist der Mensch frei. ”Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan.”[21] Luther selbst demonstrierte das auf dem Reichstag zu Worms, als er vor dem Kaiser seine Lehre widerrufen sollte, was er unter Berufung auf sein Gewissen nicht tat.[22] Sein Gewissen jedoch verstand er nicht als letzte Instanz, sondern fügte hinzu: ”Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, ...., so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes: Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.“[23]

In seiner Beziehung zu Gott kann der Mensch keine Autorität über sich dulden, auch nicht die des Papstes oder von Konzilien. Auto-nom, in dem Sinne, daß er selbst sich das Gesetz[24] gibt, ist der Mensch jedoch auch nicht, denn diese Freiheit verdankt er nicht sich selbst, sondern Gottes geschenkter Gerechtigkeit, und so bleibt er auch gebunden an das Wort Gottes, die Heilige Schrift und die Vernunft[25]. Daß der Mensch Gott Recht ist, weiß der Mensch jedoch nicht aufgrund eines Gesetzes, sondern dies ist die Gute Nachricht (ežaggélion), die das Gesetz gerade konterkariert. Wenn also der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott nicht autonom ist, so in erster Linie nicht deshalb, weil Gott dem Menschen das Gesetz gibt, sondern weil Gottes Gute Nachricht gerade darin besteht, vom Gesetz (nomóß) befreit zu werden. Diese Befreiung kann der Mensch sich nicht selbst sagen. Die Befreiung ist keine Befreiung von Gott sondern eher eine durch und zu ihm. Befreiung heißt demnach nicht Emanzipation von Gott, sondern die Ermöglichung einer neuen Gottesbeziehung, die jedoch keine Beziehung unter dem Damoklesschwert des unerfüllbaren Gesetzes (nomóß) mehr ist, sondern eine unter dem Zeichen der Freiheit (leuqéria, parrhsía).

b) Was Luther in Bezug auf das Heil energisch bestritt, gilt jedoch nicht für das Wohl, also für die weltliche Ordnung. Der Einzelne ist erfahrbar nicht frei, sondern Untertan seiner Obrigkeit.[26] Freiheit gibt es für diesen Bereich insofern, als dieser weltliche Bereich nicht durch eine direkte Gottesbeziehung geregelt ist.[27] Im Bereich des weltlichen Regiments regiert die Vernunft. Deshalb kann Luther sagen, daß die Heiden oft die besseren politischen Ordnungen hätten. Der Unterschied zwischen beiden Be-Reichen, dem weltlichen und dem geistlichen, illustriert sich am deutlichsten anhand der Ritteraufstände und des Bauernkrieges. Beide Stände meinten, sich auf Luthers Lehre politisch berufen zu können. Zwar stimmte Luther vielen Forderungen der Bauern anfänglich zu[28], verwahrte sich jedoch, anders als Thomas Müntzer, dagegen, diese als göttliche Gebote zu verstehen[29] Vielmehr sah er sie für Ratschläge der politischen Vernunft an, die keinesfalls gewalttätig durchzusetzen seien.

Zusammenfassend läßt sich Luthers Auffassung von Freiheit chiastisch darstellen (Vgl. Abb. 1):

Während im Bereich des Glaubens gilt, daß der Mensch nur seinem an die Vernunft und die Heilige Schrift gebundenen Gewissen folgt und er insofern frei ist, ist der Befreier doch ein anderer, nämlich Gott, an den der Befreite sich bindet. Der Glaubende ist der letzte Interpret seines Verständnisses Gottes und keine andere Autorität, auch nicht die Kirche, hat ein Interpretationsmonopol.

Genau entgegengesetzt ist es im Bereich der weltlichen Dinge. Hier ist der Mensch insofern frei, als Gott keine expliziten Gesetze vorgibt, sondern diese Gesetze mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erkannt und zum besten aller formuliert werden müssen. Diese Gesetze haben durchaus positivistischen Charakter, können also verschieden und veränderbar sein, ja müssen es auch, um die Lage der Menschen zu verbessern. Luther selbst hielt sich hier mit Ratschlägen nicht zurück. Andererseits ist der einzelne Mensch im weltlichen Bereich gerade nicht frei, denn er ist immer einer oder mehrerer Obrigkeiten Untertan.[30] Sich gegen sie gewaltsam aufzulehnen, ist für Luther nicht hinzunehmen.

 

 

frei

(ein-)gebunden

 

Bereich der Welt

Für den Menschen ist allein politische Vernunft  maßgebend.

Der Mensch befindet sich immer in einem Geflecht aus Obrigkeiten.

 

Bereich des Glaubens

Der Mensch ist selbst der letzte Interpret seines Gottesverhältnisses.

Dem Menschen steht immer Gott als ein ihn befreiender Gott gegenüber.

Abb. 1

 

Der Begriff der menschlichen Freiheit ist demnach durch Luther in hohem Maße reflektiert. Keineswegs sieht er im Menschen nur ein geknechtetes Wesen in Abhängigkeitsstrukturen, genausowenig redet er jedoch einer unabhängigen, unbegrenzten Autonomie oder einer Willkürfreiheit das Wort. Insofern ist eine Grundbefindlichkeit des modernen Menschen aufgezeigt. Er ist nie völlig frei, sondern immer auch abhängig, aber auch nie völlig abhängig, sondern immer auch frei.[31] Ein gänzlich autonomer Wille ist für Luther, wie der Streit mit Erasmus deutlich macht, undenkbar.

Eine so befreite Freiheit jedoch muß verantwortlich gelebt werden. Totale Autonomie (Willkürfreiheit) und totale Abhängigkeit (Kadavergehorsam) schließen Mündigkeit und Verantwortung aus. Absolute Autonomie wäre nicht mehr absolut, müßte sie sich vor jemandem verantworten. Absolute Abhängigkeit dagegen kann auch keine Verantwortung kennen, da verantwortlich sein bedeutet, für eigenes Handeln einzustehen. Mündige Verantwortlichkeit findet sich nur dort, wo Abhängigkeit und Freiheit zugleich bestehen.

Während manche Autoren über die Frage debattieren, ob Luther die Pädagogik dem weltlichen Bereich zuordnet oder nicht[32], soll mit diesen einleitenden Überlegungen die Schicht hinter dieser Unterscheidung verdeutlicht werden. Luthers pädagogische Vorstellungen korrespondieren mit einem komplexen Bild des ganzen Menschen, der in unterschiedlichen Beziehungen zu Gott und Mensch lebt. In diesen ist er auf je spezifische Weise frei und angewiesen zugleich. Die Festlegung der Pädagogik auf den einen oder anderen Bereich greift so zu kurz.

Daß der Mensch sich seiner Verantwortung gewahr und bewußt wird, daß er sein Leben selbstverantwortet gestaltet, ist das Thema der Pädagogik in der Neuzeit.[33] Somit wäre die mit der These der Unvereinbarkeit von Lernen und Gnade formulierte Eingangsfrage, ob Luther überhaupt Ansätze einer Theorie der Pädagogik im neuzeitlichen Sinne haben kann, positiv entschieden. Damit ist jedoch noch nichts dazu gesagt, ob er sie auch tatsächlich in Ansätzen hat. Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich den drei Bereichen pädagogischer Theorie im einzelnen zuzuwenden. Dazu werde ich mich nacheinander mit Elementen einer Theorie der Erziehung, der Institutionen und der Bildung auseinandersetzen.

3     Ansätze einer Theorie der Erziehung

Grundsätzlich lassen sich in erziehungstheoretischer Hinsicht zwei Positionen unterscheiden, die Theodor Litt auf die prägnante Formulierung „Führen oder Wachsenlassen“ brachte.[34] Zwar entstammt die Formel unserem Jahrhundert, das Problem ist jedoch ein altes. Bedarf das Kind einer strengen Erziehung oder genügt es, ihm die optimalen Wachstumsbedingungen zu bieten, damit es von selbst zum vollwertigen Menschen heranreife? Die Metaphern aus der Flora sind nicht zufällig gewählt, sie beschreiben das Gemeinte sehr genau.

Luther gebraucht die Wachstumsmetapher lediglich in abwertender Weise.[35] Demzufolge  ist ”Wachsenlassen” für Luther nicht nur keine Methode der Erziehung, sondern auch keine Alternative zur Erziehung. Positiv formuliert er seine Vorstellung von Erziehung in Sätzen wie: „Es ist yhe nicht müglich, das sich das tolle volck (die Kinder; H.S.) sollt selbs leren und halten, darumb hat sie uns Gott befohlen, die wyr allt und erfaren sind was yhn gut ist,[...]“[36] Erziehung beinhaltet demnach ein  intergenerationelles Verhältnis, das von der älteren Generation bewußt und leitend zu gestalten ist. Die Sozialisation, das Hineinnehmen in den Lebensalltag, reichen für Luther nicht aus, damit aus den Kindern eines Tages verständige und vernünftige Bürger und gläubige Christen werden, sondern es bedarf der Bildung und Erziehung. Der Erwerb von Wissen (im Zitat leren) und Haltung (im Zitat halten) gehören für Luther zusammen. Überließe man die Kinder sich selbst, kämen sie nicht nur zu keiner Bildung, sondern auch ihre sittliche Haltung würde sich nicht von allein oder durch bloße Nachahmung der Erwachsenen ergeben.

Luther plädiert für den ‚Mut zur Erziehung‘. Er erkennt und vertritt ihre Notwendigkeit und in den Mitteln, die er empfiehlt, ist er nicht kleinlich, sondern schreckt vor der Empfehlung körperlicher Züchtigungen nicht zurück.[37]

Bei aller Heftigkeit dieser Erziehungsempfehlungen bleibt dennoch die Energie bemerkenswert, mit der Luther auf die Erziehung drängt. Er redet den Eltern immer wieder eindringlich ins Gewissen, daß Kinder zu bekommen, die Übernahme von Verantwortung bedeutet.[38] Und wo das Zuckerbrot den Eltern gegenüber nicht hinreichen will, spart er auch nicht mit der Peitsche. Er droht ihnen sogar mit der Hölle, falls sie die Erziehung der Kinder vernachlässigen sollten.[39]

Ganz im Gegensatz dazu scheinen andere Aussagen über die Erziehung zu stehen, wie z.B. diese: ”Weyl denn das junge volck mus lecken und springen odder yhe was zu schaffen haben, da es lust ynnen hat, und yhm darynn nicht zu weren ist, auch nicht gut were, das mans alles weret: Darumb sollt man denn yhm nicht solche schulen zurichten und solche kunst furlegen? Syntemal es itzt von Gottis gnaden alles also zugerichtet ist, das die kinder mit lust und spiel leren kunden, es seyen sprachen odder ander künst oder historien.”[40] An diesem Satz lassen sich Bestandteile einer modernen Theorie der Erziehung aufzeigen, die es damit zu tun hat, wie sich die Selbsttätigkeit des Kindes zu den gesellschaftlichen Anforderungen in ihrer pädagogischen Form zueinander verhalten. Genauer, wie die gesellschaftlichen Anforderungen an das Kind einerseits, das Prinzip seiner Selbsttätigkeit andererseits miteinander so ins Verhältnis gebracht werden, daß dies in einer pädagogisch legitimen Form passiert.[41]

Das Moment der Selbsttätigkeit kommt im ersten Satzteil zur Sprache, wo vom Drang nach Tätigkeit und Bewegung der Jugend die Rede ist. Diesem völlig ungebremst freie Bahn zu lassen und davon eine wohl erzogene Jugend zu erwarten, würde das Wachstumsparadigma beinhalten, das Luther, wie wir sahen, ablehnt. Vielmehr geht es Luther um eine Vermittlung mit den gesellschaftlichen Anforderungen und zwar einer Vermittlung, die pädagogischen Einsichten folgt und nicht diese gesellschaftlichen Erfordernisse unbesehen über die Kinder hinweg stülpt. Vielmehr muß die Erziehung anknüpfen an die Selbsttätigkeit der Jugend. Sogar die Organisation der Schulen soll diesem Modell der Vermittlung folgen. Es geht Luther demnach um eine Art der Erziehung, die gesellschaftliche Ansprüche so aufnimmt, daß die Selbsttätigkeit des Kindes nicht unterdrückt, sondern diese als konstitutives und konstruktives Element des Erziehungsprozesses selbst betrachtet wird.

So unterschiedliche Aussagen über Erziehung verlangen eine Erklärung. Gemeinhein wird diese Erklärung in der Chronologie der Schriften und damit in einer Entwicklung von Luthers Erziehungsdenken von der Elternzentrierung hin zur Bedeutungsverlagerung auf die öffentliche kommunale Schule gesehen.[42] Dieser, mit der Enttäuschung Luthers über das Scheitern seiner Erziehungsratschläge an die Eltern und einer daraus resultierenden Wende hin zur Obrigkeit argumentierenden Sichtweise, möchte ich den Aspekt der unterschiedlichen Adressaten hinzufügen, der eine darüber hinaus gehende Interpretation erlaubt. Ermahnt Luther im „Sermon von dem ehelichen Stand“ vor allem die Eltern zu einer strengen und verantwortlichen Kinder-auf-zucht, so verändern sich die vorgeschlagenen Methoden im Schulalter erheblich. Vor allem in seiner Schrift an die Ratherren, also die Magistrate der Kommunen, wird deutlich, wie sehr für Luther im Schulalter gelungene Erziehung untrennbar mit Unterricht verbunden ist. In den verschiedenen Phasen des Kindseins muß die Erziehung demnach anders strukturiert sein. Die jeweilige Erziehung ist von der Entwicklung des Kindes abhängig. Von einem stärkeren Erziehungseinfluß im Kleinkindalter, für das vor allem die häusliche Erziehung zuständig ist, wie er die Eltern ermahnt, hin zu einer größeren Offenheit im Schulalter, für die die  Organisatoren der Schulen Sorge zu tragen haben, die Kommunen. Mit der zunehmenden Kompetenz der Kinder entwickeln sich auch die Freiräume zur Betätigung ihrer Selbsttätigkeit.[43] Wie dies in der Schule konkret gehandhabt wird, zeigt der nächste Abschnitt, der sich mit der Institutionentheorie beschäftigt.

4     Ansätze einer Theorie der Institutionen

Die These dieses Abschnitts ist, daß die Reformation für die institutionelle Seite des Bildungswesens zuerst einen Zusammenbruch bedeutete, der sich sowohl aus den geschwundenen Perspektiven der kirchlichen Karriere als auch aus der Schulkritik der Reformation herleitete. In der Folge jedoch führte sie zu einem Neubeginn, der nicht nur in einer Revitalisierung des Alten bestand, sondern den inhaltlichen, methodischen, didaktischen und organisatorischen Umbruch des Bildungswesens bedeutete. Für diesen auch inhaltlichen Aufbruch finden sich bei Luther erstaunliche Argumente.

Die Reformation führte zu einer erheblichen Stärkung weltlicher Institutionen. Da die Bischöfe im Gegensatz zum Volk meist nicht zum neuen Glauben übertraten, stellte sich die Frage, wer die Kirchenaufsicht übernehmen sollte. Die in ihrer Bedeutung wachsenden Landesherren boten sich für diese Funktion an, der evangelische Landesherr wurde zugleich oberste Autorität der Landeskirche. Diese Konstruktion hatte im wesentlichen bis 1918 bestand. Besonders in den Städten gab es Veränderungen. Die Übernahme des städtischen Kirchenregiments führte zu einer Stärkung der Magistratsfamilien. Luther drängte auf die Einführung einer Sozialfürsorge[44], aber auch die bis dato von der Kirche verantwortete schulische Bildung sollte und mußte von der politischen Gemeinde übernommen werden.[45] Dabei stellt sich Luther eine dreiklassige Schule vor. Immer die Geschicktesten gehen in die nächste Klasse, Luther nennt sie „Haufen“, über.

Schulische Bildung gehört für Luther 1524 zu den kommunalen Aufgaben.[46] Mit dieser Zuschreibung grenzt er sich von drei anderen möglichen Trägern von Bildung und Erziehung ab:

1.   Der Kirche, die es aufgrund des Zusammenbrechens ihrer Hierarchie, die völlig verderbt und vom Teufel ist, nicht sein kann.[47]

2.   Die Fürsten und Herren, die mit wichtigerem beschäftigt sind: ”[...] sie haben auffm schlitten zufaren, zu trincken und ynn der mumerey zu lauffen und sind beladen mit hohen merrcklichen geschefften des kellers, der küchen und der kamer.” Und die, die guten Willens sind, müssen sich enthalten, um nicht den anderen als ”narren odder ketzer” zu gelten.[48]

3.    Die alleinige häusliche Erziehung schien schon Luther nicht mehr ausreichend![49] (Anders als z.B. Pestalozzi, der sie für die armen Schichten für nötig und angemessen hielt.) Dafür kennt er mehrere Gründe:  

a)        Die Eltern sind sich nicht immer ihrer Verantwortung bewußt; für sie ist es mit dem in die Welt setzen der Kinder getan.  

b)                    Die Eltern selbst sind zu ungeschickt und unwissend, als daß sie ihre Kinder erziehen könnten.[50]

c)        Selbst wenn sie die nötigen Kenntnisse hätten, so läßt ihnen doch die Sorge um den täglichen Lebensunterhalt keine Zeit, sich ausführlich mit Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu beschäftigen, und eigene ”Zuchtmeister” können sie sich nicht leisten. Ganz abgesehen von den Waisen, die ja auch der Erziehung bedürfen. [51]

Zusätzlich zu den drei genannten Argumenten für die Schule gibt es jedoch noch eines, das unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. Luther sieht, die Welt ist zu komplex geworden, als daß häuslicher Unterricht allein dieser Komplexität noch gerecht werden könnte. Was bestenfalls häuslich noch angehen mag, ist eine rudimentäre Haltungs-Erziehung[52], die jedoch völlig unzulänglich ist, eben weil es ihr an Unterricht ermangelt.[53] Unterricht und Erziehung gehören demnach für Luther zusammen. Nicht nur das Wissen und Können leidet bei einem Ausbleiben des Unterrichts, sondern auch die Erziehung bleibt notwendig äußerlich, sie wird gezwungen. Wie wir sehen, reagiert Luther sensibel auf die Entwicklung des Kindes. Während im ersten Stadium der häuslichen Erziehung das Primat zukommt, ist diese allein später jedoch völlig unzureichend. „Die zucht aber, die man daheyme on solche schulen fur nimpt, die will uns weyse machen durch eygen erfarung. Ehe das geschicht, so sind wyr hundert mal tod und haben unser lebenlang alles unbedechtig gehandelt, denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt.“[54] Die Schule als Institution ergänzt im späteren Kindesalter die Familie ohne diese jedoch abzulösen.[55] Die Komplexität der Welt bedarf der Schule, um in sie angemessen einführen zu können, da die Alternative des ungeschulten, häuslichen >>in die Welt hineinwachsens<< schon aufgrund des großen Zeitaufwandes ganz aussichtslos ist.[56]

Eine so anspruchsvolle Erziehung in einer Schule kommunaler Trägerschaft ist jedoch nur dann zu verwirklichen, wenn die Stadt auch ordentliche ”züchtige meyster und meysterynn” hält und nicht jeden dahergelaufenen mit der Aufgabe des Pädagogen betraut. Als positives Beispiel dienen wieder die Heiden. Die Römer, die ihre Jugend gründlich in Sprachen und den ”freien Künsten” ausbildeten, und so zu ”allerley tüchtig und geschickt waren.”[57] Gute Schulmeister bekommt man aber nur bei einer guten Bezahlung. Eben deshalb drängt Luther auf eine angemessene Entlohnung der Schulmeister. Gute Bildung kostet Geld, das verschweigt Luther nicht, aber er nimmt den Ratherren eindringlich auseinander, daß Bildung eine Investition in die Zukunft des gesamten Gemeinwesens ist, wenigstens so viel oder gar mehr als die anderen kommunalen Aufgaben, für die bereitwillig Geld ausgegeben wird.[58] Mit der schlechten Bezahlung hängt auch das geringe Sozialprestige zusammen. Luther setzt seine ganze Person ein, um dies Ansehen des Lehrerberufes anzuheben und seine Bedeutung bewußt zu machen. So argumentiert Luther in der Predigt von 1530, daß er, wenn er das Predigeramt lassen müßte oder könnte, keines lieber haben würde als dieses Amt, und er erkennt ihm einen ebenso hohen Stellenwert zu wie dem Predigeramt.[59]

Auch darüber, wie in so einer Schule gelernt werden soll, macht sich Luther Gedanken. Als abschreckendes Beispiel gelten ihm seine eigenen Schulerfahrungen, die er als „Marter, Hölle und Fegefeuer“ beschreibt, die jedoch ohne jeden Lern-Erfolg blieb: „da wir doch nichts denn eyttel nichts gelernt haben durch so viel steupen, zittern, angst und jamer“.[60] Stattdessen will Luther das ‚natürliche‘ Interesse, den Erkenntnisdrang und auch den Bewegungsdrang in seiner Vorstellung der Schule positiv aufnehmen. Statt die Kinder in die starren Schulen einzupassen, solle man doch lieber die Schulen und die Darbietung des Unterrichtsstoffs an kindliche Bedürfnisse anschlußfähig gestalten.[61] Diese neue Arte der Schule kann sich Luther für die Breite des gesamten Bildungskanons vorstellen, „es seyen sprachen odder ander künst oder historien.“[62] Auch dies sind Überlegungen, die stark an Reformpädagogik erinnern und zumeist erst mit dem 18. Jahrhundert verortet werden.

Während prinzipiell eine neue Schule denkbar war, die sich in Inhalt, Didaktik und Methodik sehr von der alten Schule unterschied, war die tatsächliche Bildungssituation zu Luthers Zeit keineswegs diesem Ideal entsprechend. Im Gegenteil attestiert Luther dem Bildungswesen katastrophale Zustände. Die Situation wird am Anfang von Luthers Schreiben an die Ratherren von 1524 sehr deutlich. Eine Karriere in der kirchlichen Hierarchie schien mit der Reformation hinfällig und so auch der Anreiz der Eltern, ihre Kinder studieren zu lassen.[63] Zum gesellschaftlichen Fortkommen war institutionalisierte Bildung, nach Meinung vieler, anscheinend nicht vonnöten. Anders Luther. Auch ohne das Seelenheil in Betracht zu ziehen, gibt es für Luther ein starkes, rein innerweltliches Interesse an institutionalisierter Bildung. Allerdings nicht aus dem kurzfristigen Interesse einer egoistischen Selbstversorgung, sondern Bildung ist nötig zugunsten des Allgemeinwohls, des bonum commune. [64]

Hinzu kommen noch theologische Argumente für die schulische Bildung. Zum einen sollte die Bildung früh einsetzen, denn das hehre Ziel eines allgemeinen Priestertums machte es unerläßlich, daß jeder und jede lesen und schreiben können sollte. Luther forderte auch deshalb eine allgemeine Bildung von Jungen und Mädchen.[65] Zum anderen legte Luther schon früh Wert auf eine Ausbildung der Pastoren, um den Wirren des reformatorischen Überschwanges Einhalt zu gebieten. Alle evangelischen Pastoren mußten ein Studium absolvieren und sich in Wittenberg prüfen lassen.[66] Das führte zu einem weiteren Aufschwung der Universitäten

Keineswegs blieben dies nur akademische Forderungen des Wittenberger Theologieprofessors. Die Buchdruckerkunst ermöglichte vielen den Erwerb von Katechismus und Bibel. Diese beiden Bücher waren es vornehmlich, die als Unterrichtsbücher dienten und oft die einzige Literatur der Haushalte ausmachten.[67] Auf dem Land wurde die Verbreitung der Trivialschulen gefördert, in den Städten gab es zusätzlich Lateinschulen, die auf den Besuch der Universitäten vorbereiten sollten.[68] Das albertinische Sachsen begann, sogenannte Fürstenschulen einzurichten, meist in aufgehobenen Klöstern wie Schulpforta oder Meißen.[69] Andere Länder folgten nach. Mit der Thomas-Schule in Leipzig, der Kreuzschule in Dresden, dem Grauen Kloster in Berlin entstanden sehr angesehene Gelehrtenschulen. Im Verlaufe der Reformation, vor allen Dingen in der Phase ihrer Festigung, stabilisierte sich also auch die Bildungssituation, ja es kam zu einem neuen Aufschwung, nachdem zuvor gerade die Reformation den verheerenden Einbruch des traditionellen Bildungssystems mitverschuldet hatte. Und dies durchaus mit vollster Absicht, wie bei Luther zu lesen ist.: „War ists, ehe ich wollt, das hohe schulen und klöster blieben so, wie sie bis her gewesen sind, das keyn ander weyse zu leren und leben sollt fur die jugent gebraucht werden, wöllt ich ehe, das keyn knabe nymer nichts lernte und stum were.” Diese Polemik ist jedoch nicht die einzige Alternative, denn Luther geht es um neue Schulen.: ”Denn es ist mein ernste meynung, bitt und begirde, das dise esel stelle und teuffels schulen entweder ynn abgrund versüncken oder zu Christlichen schulen verwandelt werden.”[70]

Luther meint, daß der Stoff der Bildung in der Vergangenheit in der Tat verderblich war. Er schreckt hier nicht vor drastischen Worten zurück. Allerdings will er dies nicht als Argument gegen Bildung überhaupt verstanden wissen, sondern er möchte die Bildungsinhalte austauschen. Das gilt sowohl für die Ausbildung von Theologen, die des geistlichen Rechts nicht mehr bedürften und vor allen Dingen den Schwerpunkt ihrer Ausbildung nicht mit Interpretationen von dogmatischen Lehrtexten (besonders das Standardwerk mittelalterlicher Theologie, den ”Sentenzen” des Petrus Lombardus), sondern im Studium und der Interpretation der Heiligen Schrift setzen sollten, aber auch für die Juristen, denen er vorschlägt, die regionalen Landesrechte stärker zu berücksichtigen und kaiserliches (also reichseinheitliches) Recht nur für den Notfall aufzusparen. Allerdings gesteht Luther bei diesem Punkt ein, kein Experte zu sein.[71]

Besonders intensiv widmet er sich jedoch den Bildungsinhalten in der Elementarbildung der Kinder. „Ach lieber so leret uns doch eyne ander weyse, die Gott gefellig und unsern kindern seliglich sey, Denn wyr wöllten jha gerne unsern lieben kindern nicht alleyn den bauch, sondern auch die seel versorgen[...].”[72] Die Gottgefälligkeit und Seligkeit, von der hier die Rede ist, bedeutet keineswegs das naheliegende Mißverständnis, daß Luther die heidnischen Autoren aus der Schule verbannen möchte und allein auf die Bibel setzte. Das Gegenteil ist der Fall. Sieht man sich Luthers Textkanon an, den er den Visitatoren anempfiehlt, so zeigt sich, daß die Bibel anfangs gar nicht auftaucht, sondern klassische Autoren wie Äsop, Terenz, Plautus etc., desgleichen Lehrbücher von Erasmus und die Pädologie des Mosellanus. Luther legte also Wert auf eine durchaus kindgerechte Auswahl der Lehrstoffe.[73] Die Stellung zur Bibel als Unterrichtsbuch bringt er selbst deutlich zum Ausdruck: ”Denn etliche lernen gar nichts aus der heiligen schrift. Etliche lernen die kinder gar nichts denn die heilige schrift, Welche beide nicht zu leiden sind.”[74]

Die Bildungsinhalte wachsen von Haufen zu Haufen. Geht es beim ersten Haufen nur um eine Grundbildung, die allen zukommt, die Lesen und Schreiben und einiges Latein aber auch Musik beinhaltet, beschäftigt sich der 2. Haufen mit den Fabeldichtern des Altertums, modernen Lehrbüchern z.B. von Erasmus, aber auch ausgewählten Teilen der Bibel und dem Glaubensbekenntnis und Katechismus. Ein Schwerpunkt der Ausbildung liegt auf der Beherrschung der Grammatik. Der 3. Haufen schließlich beschäftigt sich mit anspruchsvollen antiken Autoren wie Virgil, Ovid, Cicero. Für ihn nimmt Luther eine Praxis der Philanthrophen vorweg, das Erlernen der Sprache durch die ständige Benutzung im Unterricht zu beflügeln.[75] Dialektik und Rhetorik kommen als Unterrichtsfächer hinzu.[76]

5     Bildung und Bildsamkeit

Die Verwendung des Begriffs der Bildsamkeit in der Überschrift bedarf der Erklärung. „Bildsamkeit“ steht wie kaum ein anderer Begriff für eine neuzeitliche Einsicht der Pädagogik. Der Sache nach ist die den Menschen kennzeichnende Fähigkeit gemeint, Fähigkeiten zu entwickeln. Rousseau, der dies im Begriff der Perfektibilité faßte, sah, daß das Ziel dieser Entwicklung inhaltlich nicht zu konkretisieren war, da die Natur, die für ihn als Telos in Frage kam, diese inhaltliche Füllung nicht hergab. Für unsere Frage nach der Modernität des pädagogischen Denkens Luthers ist sie von erheblicher Wichtigkeit. Luther verwendet den Begriff der Bildsamkeit nicht. Allerdings ist Luthers Verständnis der Freiheit, als einer immer auf andere bezogenen Freiheit offen für das, was mit dem Begriff der Bildsamkeit gemeint ist. Es kommt also darauf an zu fragen, ob Luther Elemente dessen kennt, was mit unserem Begriff der Bildsamkeit vergleichbar wäre und die so die Chancen seines Freiheitsbegriffs für eine Theorie der Bildsamkeit nutzt, oder ob diese ungenutzt hinter dem zeitgenössischen Standesdenken zurückbleiben.

Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, war für Luther die Welt so komplex geworden, daß die eigene häusliche Erfahrung nicht mehr ausreichte, um der Welt noch gewachsen zu sein. So blieb für Luther nur noch eine spezifische Art der Unterrichtung übrig, eine nämlich, wie „ynn eym spigel“. In diesem Spiegel sollten ausgewählte Gegenstände dargestellt werden; „[...]die sprachen und andere künst und historien lereten, da würden sie hören die geschichte und sprüche aller wellt, wie es diser stad, disem reich, disem Fürsten, disem man, disem weybe gangen were,[...]“. Diese künstliche Darstellung einer Welt, die zu komplex ist, um sie in einem einzigen Menschenleben durch eigene Erfahrung an dieser unvermittelt Welt selbst zu begreifen[77], soll nicht dazu dienen, die Interpretationen dieser Darstellung gleich mit zu liefern. Der Sinn des Weltverlaufes, der aus der komplexen Welt nicht zu entnehmen ist, ist auch nicht aus ihrer künstlichen Darstellung zu entnehmen, sondern dieser Sinn ist von den SchülerInnen selbst zu re-konstruieren.[78] Durch solche Unterrichtung kommt es demnach nicht nur zu einem Wissen um die Dinge, sondern der Unterricht hat auch insofern eine erziehende Funktion, als er die Sinngebung durch die SchülerInnen selbst anregt.

Wenn die Aufgabe einer Theorie der Bildung darin liegt, das Verhältnis der inhaltlich nicht bestimmten Bildsamkeit zu dem Verhältnis der verschiedenen Bereiche menschlicher Praxis zur Sprache zu bringen[79], dann liegt in diesen Sätzen eine Theorie der Bildung vor. Die hier formulierte Bildungstheorie kennt kein Primat einer bestimmten Praxis, sondern überläßt es den SchülerInnen aus der im Spiegel dargebotenen Welt sich die für sie entscheidenden Bestandteile so zusammenzusetzen, daß sie „yhren synn“ daraus gewinnen.[80]

Eine so verstandene Bildung ist für Luther keine Einbahnstraße, in der die Erwachsenen die Kinder mit dem zu erwerbenden Wissen anfüllen und ihnen die jeweilige Sitte antrainieren, sondern Bildung ist etwas, das den ‚natürlichen menschlichen Bedürfnissen‘ entspringt. Diese Bedürfnisse müssen jedoch geschickt von den Lehrenden und Erziehenden genutzt, gelenkt und kanalisiert werden. Der Bildungsprozeß ist, um es mit heutigen Worten zu sagen, für Luther ein Interaktionsprozeß, wenn auch einer mit einem eindeutigen Gefälle; eine asymmetrische Kommunikation. Der pädagogische Prozeß findet zwischen selbsttätigen Individuen statt, die sich durch ein Wissens- und Erfahrungsgefälle unterscheiden, wobei derjenige mit dem Vorsprung an Wissen und Erfahrung diese den Interaktionspartnern vermitteln möchte. Luther weiß aus eigener leidhafter Erfahrung, daß eine Sicht des jungen Menschen als leeres nur abzufüllendes Gefäß, die Nichterkenntnis der pädagogischen Partnerschaft, für alle Beteiligten, besonders jedoch für die Kinder, kontraproduktiv ist: ”Und ist itzt nicht mehr die helle und das fegfewer unser schulen, da wir ynnen gemartert sind uber den Casualibus und temporalisbus, da wir doch nichts denn eyttel nichts gelernt haben durch so viel steupen, zittern, angst und jamer.”[81]

Weiterhin bemerkenswert, nicht nur aus institutionstheoretischer Sicht, bleibt, daß Luther Schulen nicht nur für Knaben, sondern gleicherweise auch für Mädchen forderte.[82] Bildungstheoretisch bedeutet dies die in seiner Zeit keineswegs selbstverständliche Einstellung, daß Mädchen und Jungen gleichermaßen bildsam sind.[83] Diese Öffnung der Bildung gilt nicht nur für beide Geschlechter, sondern sie überschreitet auch die Standesschranken. Luther selbst stellt sich rhetorisch die Frage eines möglichen Einwenders, um so seine Vorstellungen entgegnen zu können: ”So sprichstu 'Ja, wer kan seyner kinder so emperen und alle zu junckern ziehen?’” Die Antwort Luthers besteht in der Schulorganisation. Sie soll so gestaltet sein, daß die Zeit der Kinder in der Schule begrenzt ist und so den Eltern noch genügend Zeit bleibt, die Kinder im Haushalt mithelfen zu lassen oder sie ein Handwerk zu lehren.[84] Schulbildung soll demnach allen zukommen, nicht nur den gesellschaftlichen Ständen, die sich bislang den Müßiggang leisten konnten, sondern sogar Waisen und verwahrlosten Kindern, für deren Bildung die Stadt die Verantwortung übernehmen muß.[85] Andererseits sieht Luther die Verwirklichung dieser Forderung nicht als ein Aufruf  zur Entlastung der Kinder von der Arbeit im >>ganzen Haus<<, die zur Lebenserhaltung des Haushaltes fest mit eingeplant ist. Die Forderung nach allgemeiner Bildung ist keine, die gesellschaftliche Strukturen der Gesellschaftsordnung des 16. Jh. notwendig sprengen würde.

Es findet sich ein weiteres über die reale Situation hinausgehendes Kriterium zur unterschiedlichen Behandlung einzelner. Nicht mehr die Standesschranken sind es, die eine je spezielle Ausbildung notwendig machen, sondern es sind die Leistungen der Einzelnen.[86] Bildung ist kein Standesprivileg mehr, der Übergang zwischen den einzelnen Haufen der allgemeinen Schule soll einzig durch das Kriterium der Leistung bestimmt werden.[87] Und selbst für die höhere Bildung ist Leistung das einzige Zugangskriterium, das Luther nennt.[88] Das bürgerliche Prinzip der Leistung löst das vorneuzeitliche Prinzip des an den Stand gebundenen Zugangs zu höherer Bildung (zumindest in der Theorie) ab. [89]

Für Luthers Engagement zur Etablierung einer allgemeinen Bildung gibt es verschiedene Gründe. Den größten Raum nimmt die notwendige Ausbildung zum geistlichen Stand ein.[90] Darunter stellt Luther sich keineswegs eine Schmalspurausbildung vor, die eventuell noch auf seiner eigenen Übertragung der Bibel ins Deutsche beruhen sollte. Er plädiert ausdrücklich für ein Erlernen sowohl des Griechischen als auch des Hebräischen, denn nur so könnte man sich wahrhaft mit dem Text, dem Wort Gottes, auseinandersetzen und auch in Disputen bestehen. Die sprachliche Bildung schützt vor der Gefahr der Anpassung des Wortes Gottes an das eigene Gutdünken.[91]

Bildung bedeutet für Luther jedoch nicht nur Befähigung für den geistlichen Bereich, sei es als Laie oder Beamteter, sondern Bildung und Erziehung ist auch für das Zurechtfinden in der Gesellschaft überhaupt unerläßlich. Von besonderem Interesse ist dabei der politische Bereich. Wieder sind die Griechen und Römer unerreichtes Vorbild, da sie ihre Jugend so hervorragend ausbildeten, daß sie ”feyne geschickte leutt” bekamen. Und das, obgleich sie doch noch gar nicht wußten, daß sie damit Gott wohlgefällig waren.[92] Die Regierenden müssen gebildet sein, nicht nur die Geistlichen. Gleich ob sie nun ”Fürst, Herr, Ratman” oder sonst Obrigkeit sind. Für eine vernünftige Regierung bürgt eben nur eine geschulte Regierung! Diese Forderung ergibt sich für Luther aus der Eigenlogik der Welt, und es bedarf dazu keines ausdrücklichen göttlichen Gebotes.[93] Das kommt freilich dennoch hinzu.

Ein Argument für die Bildung scheint mir jedoch bemerkenswerter als alle vorangegangenen zu sein, obschon es ganz unscheinbar anfängt. Luther formuliert sehr vorsichtig, aber dennoch scheint in diesem fast zaghaften Satz etwas auf, was einer genaueren Analyse wert ist: „Ich rede fur mich: Wenn ich kinder hette und vermöchts, Sie müsten mir nicht alleyne die sprachen und historien hören, sondern auch singen und die musica mit der gantzen mathematica lernen. Denn was ist dis alles denn eyttel kinder spiel? darynnen die Kriechen yhre kinder vor zeytten zogen, da durch doch wunder geschickte leut aus worden zu allerley hernach tüchtig.“[94] An dieser Stelle scheint der Horizont moderner pädagogischer Fragestellung zweifellos auf. Die Griechen sind auf Grund ihrer universalen Bildung Vorbild. Diese universale Bildung befähigt nicht zu irgend einem bestimmten Beruf im Sinne einer Aus-bildung zu etwas bestimmten, sondern Bildung wird hier als etwas allgemeines verstanden, indem sie zu „allerley“ tüchtig macht. Wozu im Einzelnen die Kinder tüchtig gemacht werden müssen, konnte man in der Ständegesellschaft noch wissen, in neuzeitlichen Gesellschaften gibt die Standesherkunft der Eltern keine verbindliche Auskunft über die Bildungsaspirationen und Anforderungen der nächsten Generation mehr. In neuzeitlichen Gesellschaften muß es Pädagogik deshalb darum gehen, die Heranwachsenden mit einem so offenen Wissen auszustatten, daß durch dieses Wissen nicht mehr ihr gesellschaftlicher Stand prädeterminiert ist, oder umgekehrt der gesellschaftliche Stand der Eltern den zu erwerbenden Wissenskanon der Heranwachsenden determiniert, was wiederum die gesellschaftliche Ordnung zementiert. Luthers Ideal ist eine Bildung, die so umfassend ist, daß die Heranwachsenden prinzipiell zu ”allerley tüchtig” seien. Die Entscheidung, auf welche Tätigkeit sie sich dann verlegen, kann weder von dem Stand der Eltern noch vom Bildungssystem übernommen werden, sondern ist nun erstmals eine Entscheidung, die in der Hand der Heranwachsenden selbst liegt. Mögliche Einwände, die den gigantischen Umfang eines solchen Bildungskanons kritisieren (der ja tatsächlich viel umfangreicher sein muß als der einer standes- und berufsspezifischen Ausbildung), versucht Luther mit dem Hinweis zu zerstreuen, daß dieses vermeintliche ”Joch”[95] einem Kinderspiel gleichkommt, eben weil er die Bildsamkeit für alle behauptet und weil die sich in den von ihm vorgeschlagenen Schulen nach den jeweiligen Fähigkeiten entwickeln kann. Besonders bemerkenswert ist, daß Luther es nie bei abstrakten Forderungen beläßt, sondern die materialen Voraussetzungen einer allgemeinen Bildung mit benennt und einfordert.[96] Bildung bedeutet für Luther nicht mehr nur Ausbildung zu einem bestimmten Stand oder Beruf (die ja noch zum großen Teil durch Geburt vorbestimmt sind), sondern Bildung zielt auf eine offene, unbestimmte Bildsamkeit, deren Ziel sich erst im Werden des Individuums formt und entwickelt und nicht schon von der älteren Generation vorausgewußt werden kann. Bildung kann jedoch bewirken, daß die jungen Menschen „geschickte leutt“ werden, die zu „allerley tüchtig“ sind. [97] An dieser Stelle finden wir den stärksten Hinweis auf die Eingangsfragestellung, ob in Luthers pädagogischen Konzeptionen ein Begriff von Kindheit virulent ist, der Züge unseres modernen Kindheitsbegriffs trägt, welcher das Nichtwissen der Bestimmung der Kinder als Charakteristikum trägt.[98] Zu behaupten, daß hiermit die systematische Entdeckung Rousseaus in ihrer ganzen Tragweite schon vorweggenommen wäre, ist übertrieben. Jedoch bedenkt man, daß auch Rousseau immer wieder hinter seine Entdeckung zurückfällt, wenn er z.B. Ausführungen zur Rollenverteilung der Geschlechter macht, so wird man konstatieren müssen, daß hier, ca. 240 Jahre zuvor, ein pädagogischer Text geschrieben ist, der für eine moderne Interpretation zumindest offen ist.[99]

Scheinbar stehen dagegen die Aussagen, die am Anfang des Erziehungskapitels zitiert wurden. Jedoch bedeutet die Rede davon, daß die Alten wüßten was für die Jugend, die sich nicht selbst erziehen kann, gut ist,[100] nicht unbedingt einen Widerspruch zum eben gesagten. Sie kann auch lediglich den Spannungsbogen markieren, den Schleiermacher in der Frage auf den Punkt bringt: „Was soll die ältere Generation mit der jüngeren?“ Die Antwort, die zweifelsohne schon moderne Züge trägt, könnte lauten, wir wissen eben, daß die Bildung für die jüngere Generation gut ist, wenn wir auch nicht mehr wissen, wozu sie jedeR einzelne künftig gebrauchen wird.

6     Abschluß

Wie wir gesehen haben, finden sich in Luthers pädagogischen Schriften erstaunlich viele Anteile an pädagogischer Theorie, die wir geneigt sind, als neuzeitlich zu charakterisieren. Das beginnt bei den Voraussetzungen jeglicher neuzeitlicher Pädagogik, die den Menschen weder dem Fatum unterstellt noch als Willkürherrscher faßt, ihn vielmehr in einem komplexen Wechselverhältnis von Abhängigkeit und Freiheit versteht. So wird später Schleiermacher die Grundsituation des Menschen beschreiben. Aber auch in den drei Fragestellungen einer pädagogischen Theorie fanden sich Antworten, die Elemente beinhalten, die wir ansonst neuzeitlichen Theorien zusprechen. So zeigte sich, daß Luthers Aussagen zur Erziehung nicht nur um eine phasenhafte Entwicklung wissen, die je unterschiedliche Schwerpunkte in der Erziehung erfordert, sondern er sah auch, daß gelungene Erziehung nur mit Unterricht einhergehen kann. Ein solcher Unterricht steht in der Ambivalenz, gesellschaftliche Anforderungen pädagogisch so zu fassen, daß sie die Selbsttätigkeit des Kindes nicht nur nicht einschränken, sondern vielmehr mit ihr positiv korrespondieren. Der Ort, in dem dies für ältere Kinder passieren soll, ist die Schule. Luther verfügt über eine recht ausgearbeitete Schultheorie. Sie soll in kommunaler Trägerschaft sein und alle Kinder, ungeachtet ihrer Standes- und Schichtenzugehörigkeit und ihres Geschlechts, erreichen. Der Fortgang der  Bildungskarriere entscheidet sich an den jeweiligen Leistungen. Die Schule zielt sowohl auf Bildung wie auch auf Erziehung.

Luthers Theorie der Bildung hat, wie wir sahen, die Bildsamkeit aller zur Voraussetzung. Der Unterricht soll die Bildungsgüter in einer künstlichen Form darstellen, so daß die Schüler selber den dargestellten Dingen ihren Sinn geben können. Auch wenn also Lehrer mit der Auswahl des Bildungsgutes einen bestimmten Sinn verfolgen, sind es doch die Schüler, die über ihre eigene Sinngebung verfügen. Das gegenteilige Verfahren des Abfüllens mit Wissensstoffen, denen ein fester Sinn beigeordnet ist, so hat es Luther am eigenen Leibe erfahren, ist zum scheitern verurteilt. Die Bildung ist wichtig für die verschiedenen Bereiche der gesellschaftlichen Praxis. Luther hebt die Religion, die Politik und die Justiz hervor. Jedoch gibt es noch einen weiteren Grund für die Bildung, und der besteht darin, Bildung um ihrer selbst willen zu erlangen. Gerade in der Unbestimmtheit, der sich der Mensch gegenübersieht, ist Bildung ein Mittel, dieser Unbestimmtheit bestmöglich gerüstet gegenüberzutreten. Gebildete Menschen sind, wie die Heiden es waren, zu „allerley tüchtig“.

Die eingangs angesprochene Frage, ob Luther noch ein Mensch des Mittelalters oder schon ein Pionier der Moderne war, ist nach diesem Durchgang dennoch nicht zu einer eindeutigen Antwort gekommen. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil pädagogische Themen nur einen sehr geringen Teil der Arbeiten Luthers ausmachen. Wohl aber zeigte sich, daß Luther eine Reihe von Problemen anspricht, deren Auftauchen gemeinhin mit Autoren in Verbindung gebracht wird, die im 17. und 18. Jh. zu Hause sind. Dieses Phänomen läßt die zwei Deutungen zu, die Anfangs schon aufschienen. Zum einen könnte es heißen, daß Luther in seinem pädagogischen Denken Züge der neuzeitlichen Pädagogik schon vorweggenommen hat, womit die Frage, ob Luther schon ein Mensch der Neuzeit war, noch keineswegs beantwortet ist. Zum anderen könnte dies bedeuten, daß die Frage nach der Neuzeitlichkeit selbst problematisch ist. Schließt man sich z.B. der Übereinkunft an, daß die Neuzeit mit dem Ende der Religionskriege beginnt, wo erstmals mehrere Wahrheiten nebeneinander stehen konnten, so muß nicht nur das viel frühere Auftauchen der Toleranzpraxis auch im christlichen Abendland erklärt werden, sondern dann stehen dem auch die neuzeitlichen Züge der Pädagogik Luthers entgegen. Die Antwort des Historismus, der jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ (Ranke) und somit der kausalen Entwicklung enthoben sah, ist genauso eine Scheinlösung wie die gesetzmäßige Entwicklung der Geschichte vom niederen zum höheren (Hegel, Marx). Ich plädiere deshalb dafür, Begriffe wie „Neuzeit“, die eine Scheinplausibilität mit sich führen, mit äußerster Vorsicht zu verwenden. Ihnen wird oftmals eine normative Trennschärfe beigemessen die ihnen nicht zukommt. Am Beispiel Luthers ließ sich zeigen, wie sehr die Datierung des Beginns der „pädagogischen Moderne“ im 17. und 18. Jahrhundert den Blick auf systematisch ähnliche Argumentationen lange vor dieser Zeit verstellte. Die vermeintliche Trennschärfe des Begriffs erwies sich als Augenbinde.

Diese Kritik am zu leichtfertigen Gebrauch des Begriffes „Neuzeit“ oder „Moderne“ ließe sich dann erhärten, wenn vermeintlich typisch neuzeitliche Probleme und Fragestellungen bei Autoren aufgespürt werden, die nicht wie Luther an der Grenze zum Paradigmenwechsel, sondern weit davor lebten. Für die klassischen Autoren der antiken Aufklärung ist dies schon vielfach getan, das Mittelalter liegt auch diesbezüglich noch weithin im Dunkel der pädagogischen Theorieforschung. Mag sein, daß sich so ein geschärfter Begriff von Neuzeitlichkeit in pädagogischen Zusammenhängen ergibt, mag auch sein, daß sich zeigt, wie Themen der Pädagogik immer wieder auftauchen, ohne je eine völlig scharfe „natürliche“ Grenze des Paradigmenwechsels zu zeigen.[101] Dies kann jedoch nur weitere exegetische Kleinarbeit leisten.


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-                     Schleiermacher, F.E.D.: Theorie der Erziehung - Die Vorlesung aus dem Jahre 1826. In: Ders: Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn 31959.

-           Schröder, Richard: ”Rede zu Luthers Todestag in Eisleben am 18. Februar 1996. (Manuskript) S. 4.

-                     Schröder, Richard: Über das Gewissen – Rede zum Festakt in Worms am 21.4.1996 (Manuskript).

-                     Schwab, Martin: Luther und die Reformation: Impulse für Schulerziehung und für Schulunterricht in der Ursprungsepoche. In: Die Schleswig-holsteinische Schule. Jg. 37 5/1983, S. 103-108.

-                     Schweitzer, Friedrich: Luther und die Geschichte der Bildung. Pflichtgemäße Reminiszenz oder notwendige Erinnerung? In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 3, Weinheim 1996, S. 9-23.

-                     Stallmann, Edith: Luther - Initiator protestantischer Bildung. In: Religion heute, 15/1993, S. 148-157.

-                     Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim 1988.

-                     Vogel, Johann Peter: Luthers Appelle zum Schulehalten und ihre aktuellen Folgen. In: Erziehungskunst Jg. 60, 12/1996, S. 1321-1327.

-                     Wagengast, Klaus: Glaube und Erziehung bei Luther. In: Braunschweiger Beiträge für Theorie und Praxis von Ru und Ku. 28/1984, S. 15-23.

-                     Wartenberg, Günther: Visitationen des Schulwesens im albertinischen Sachsen zwischen 1540 und 1580. In: Goebel, Klaus (Hg.): Luther in der Schule - Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie. Bochum 1985, S. 55-78.

-                     Westphal, Siegrid: Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen. In: Kleinau, Elke (Hg.): Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Bd. 1. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt 1996. S. 135-151.

-                     Wiersing, Erhad: Martin Luther und die Geschichte der Erziehung - Überlegungen zum erziehungsgeschichtlichen Interesse an Mittelalter und früher Neuzeit, dargestellt am Beispiel Luther. In: Goebel, Klaus (Hg.): Luther in der Schule - Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie. Bochum 1985, S. 27-54.

-                     Zimmermann, Friedrich: Martin Luthers Wirken im frühbürgerlichen Schulwesens Deutschlands. In: Pädagogische Hochschule „Ernst Schneller“ (Hg.): Studieninformation - Beiträge zur Geschichte des deutschen Schulwesens. Zwickau 1987, S. 1-18.

 

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[1] So z.B. in dem Disput zwischen Klaus Prange und Käte Meyer-Drawe auf dem Berliner Symposion zum Thema „Ästhetik und Bildung“ 1997. Vgl. Prange, Klaus: Differentielle Identität oder: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst. S. 159, S. 159-170 sowie Meyer-Drawe, Käte: Versagte Identität - Aufgegebene Suche. S. 171f. In: Hellekamps, Stephanie: „Ästhetik und Bildung“ Weinheim 1998, S. 171-176.

[2] Thomas Nipperdey lehnt diese Fragestellung, ob Luther der Vater der Moderne war, in der Form ab, weil sie Luther nicht gerecht würde und über weite Teile nur zu verneinen sei. Stattdessen kehrt er sie um und fragt, was denn die Wurzeln unserer Moderne seien und stößt so verschiedentlich auf Luther. Allerdings thematisiert auch er keine pädagogischen Fragestellungen.: Nipperdey, Th.: Luther und die moderne Welt. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Jg. 36, 12/1985, S. 803-813. Die Problematik des Konzepts von Moderne und Neuzeit in der Pädagogik wird angesprochen in: Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim 1988, S. 39ff.

[3] Schweitzer, Friedrich: Luther und die Geschichte der Bildung. Pflichtgemäße Reminiszenz oder notwendige Erinnerung? In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 3, Weinheim 1996, S. 9-23.

[4] Mallet, Carl-Heinz: Untertan Kind - Nachforschungen über Erziehung. Frankfurt/M. 1990, bes. S. 31-51.

[5] Tenorth 1988, besonders S. 57ff.

[6] Vgl.: Wiersing, Erhad: Martin Luther und die Geschichte der Erziehung - Überlegungen zum erziehungsgeschichtlichen Interesse an Mittelalter und früher Neuzeit, dargestellt am Beispiel Luther. In: Goebel, Klaus (Hg.): Luther in der Schule - Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie. Bochum 1985, S. 27-54.

[7] Zur älteren Rezeption von Luthers pädagogischem Denken siehe: Golz, Reinhard: Zur Rezeption Luthers und Melanchthons in ausgewählten deutschen „Geschichten der Pädagogik“ des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Golz, Reinhard (Hg.): Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas. Münster 1996, S. 327-365. Außerdem Schweitzer 1996, S. 9f.

[8] Karg, H. Hartmut: Reformationspädagogik - Über Erziehungslehren bedeutender Reformatoren und die Wirkung auf bestimmte Erziehungstheoretiker. Frankfurt/M. 1986, S. 59 & 66.

[9] Zimmermann, Friedrich: Martin Luthers Wirken im frühbürgerlichen Schulwesen Deutschlands. In: Pädagogische Hochschule „Ernst Schneller“ (Hg.): Studieninformation - Beiträge zur Geschichte des deutschen Schulwesens. Zwickau 1987, S. 1-18.

[10] Die meisten vorhandenen Rekonstruktionsversuche beziehen sich auf Teilbereiche des pädagogischen Denkens Luthers. Einen sehr breiten Raum nehmen Untersuchungen zu volksbildungs- und schultheoretischen Überlegungen ein. Es gibt auch Spezialuntersuchungen zu einzelnen Themen, wie zum Beispiel der Rolle der Frau. Oder Einzeluntersuchungen zu speziellen Texten. Die Gebiete der Bildungs- und der Erziehungstheorie sind dagegen dürftig bearbeitet. Die jeweilige Literatur wird an den entsprechenden Stellen angegeben. Etwas anders schätzt Hein Retter die Literaturlage ein, wenn er schreibt: „Der Neuformulierung der Bildungsaufgabe und der Neueinrichtung des Schulwesens im Zuge der Reformation widmen die einschlägigen Werke zur Geschichte des Bildungswesens zumeist ein eigenes Kapitel. Über das reformatorische Erziehungsverständnis wird dagegen sehr viel seltener gesprochen.“ (Retter, Hein: Glaube und Anfechtung in ihrer Bedeutung für Luthers Erziehungsverständnis. In: Golz, Reinhard (Hg.): Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas. Münster 1996, S. 34-57, S. 34.) Es hat jedoch den Anschein, daß sich Retters Bildungsbegriff vor allen Dingen auf die schulische Bildung bezieht, ein Bereich den ich im Folgenden institutionstheoretisch verorte.

[11] So geht auch der Bruch mit Erasmus oder Erasmus’ Bruch mit Luther (und so großer Teile des Humanismus mit der Reformation) bekanntlich auf den Dissens über den freien Willen zurück oder zumindest bildete dieser Dissens den Anlaß zum Bruch. Luthers Argumentation gegen den freien Willen (in der Beziehung auf das Heil) im Streit mit Erasmus ist gut verständlich von Eilert Herms nachgezeichnet: Herms, E.: Luther und Freud - Ein Theorievergleich. In: Wege zum Menschen Jg. 39, 5/1987, S. 280-297, bes. 282-292. Die Gegenposition des Erasums ist sehr schön zusammengefaßt und mit reicher Literatur belegt in: Hofmann, Manfred: Erasmus im Streit mit Luther. In: O.H. Pesch (Hg.): Humanismus und Reformation - Martin Luther und Erasmus von Rotterdam in den Konflikten ihrer Zeit.  Freiburg 1985, S. 91-118. Beide Positionen zu verstehen und auch andere Dimensionen des Streits zu erhellen, sucht im selben Band: Brecht, Martin: Der Vermittlungsversuch des Erasmus und Luthers Widerspruch. S. 71-90.

[12] Vgl. Ariès, P.: Geschichte der Kindheit. München 1975.

[13]„Luther ist der erste Theologe, der dem Kind einen prinzipiell anderen Status als dem Erwachsenen zubilligt.“ So Retter 1996, S. 51. Vgl. auch S. 51-54. Ein eigenes Kapitel widmet Carstens dieser Frage und weist nach, daß Luther, freilich theologisch motiviert, sogar zwischen drei Phasen früher, später Kindheit und Jugend unterscheidet. Vgl.: Carstens, Lars O.: Luther als Pädagoge. Studien zur Relevanz pädagogischer Grundgedanken Martin Luthers in einer wertunsicheren Welt. Aachen 1999, S. 161-172.

[14] Benner, D.: Der Begriff moderner Kindheit und Erziehung bei Rousseau, im Philanthropismus und in der deutschen Klassik. Z.f.Päd., 45. Jg. 1/1999, S. 1-18, S. 5.

[15] Z.f.Päd. 3/96, S. 319.

[16] Im Unterschied zur reformierten Auffassung des Abendmahls als Erinnerungsmahl. Es verwundert also nicht, wenn Prange besonders auf die reformierte Tradition verweist. Prange tut dies mit Bezug auf das Leistungsprinzip, das sich in dieser Tradition besonders ausgeprägt hätte. „Leistung“ und „Lernen“ hätten mehr gemeinsam als die etymologischen Wurzeln, sondern Lernen sei „Leistung in Reinkultur“ (a.a.O. S. 320). Allerdings berücksichtigt Prange nicht, daß Leistung, wie seit Max Weber hinlänglich bekannt, ein Epiphänomen der reformierten Theologie ist. Leistung bekam paradoxer Weise deshalb einen so hohen Stellenwert, weil die je personale Heilsfrage schon per doppelter Prädestination von allem Anbeginn entschieden war. Gerade weil dieses Heil da war (oder nicht da war), mußte man sich dieses Heils durch Leistung und Erfolg vergewissern.

[17] Diese Fragestellung ist pointiert formuliert bei: Wagengast, Klaus: Glaube und Erziehung bei Luther. In: Braunschweiger Beiträge für Theorie und Praxis von Ru und Ku. 28/1984, S. 15-23.

[18] Dies hat sehr prägnant Heino Falcke in seinem 1972 gehaltenen Vortrag herausgearbeitet: „Christus befreit - darum Kirche für andere“. In: Ders.: Mit Gott Schritt halten. Berlin 1986, S. 12-32.

[19] Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ”Der Gerechte wird aus Glauben leben.” Übersetzung: Die Bibel. Revidierte Lutherübersetzung von 1984.

[20] „Die predigen Menschentand, die da vorgeben, daß, sobald der Groschen, in den Kasten geworfen, klingt, die Seele aus dem Fegfeuer auffahre.“ 27. These der 95 Ablaß-Thesen Martin Luthers. Aus: Luther, Martin: Ausgewählte Werke. Hg. H.H. Borcherdt. München 31951, S. 31-38, S. 38.

[21] Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. (1520), In: WA 7. Bd. 1897, S. 12-38, S. 21. Alle Texte sind, wo nicht anders angegeben, der Kritischen Gesamtausgabe aus Weimar entnommen, die allgemein WA abgekürzt wird. Im Folgenden zitiere ich nicht wie sonst üblich; „WA, Band und Seite“, sondern gebe die konkrete Schrift an, um den jeweiligen Bezug ersichtlich werden zu lassen.

[22] Das Auftreten Luthers vor dem Reichstag bedeutete eine existentielle Bedrohung. Sein Gönner, der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, hatte zwar freies Geleit für Luther erwirkt, jedoch war die Verbrennung des Jan Huß (1415) noch in guter Erinnerung. Für Luther war das Festhalten an der reformatorischen Erkenntnis nicht nur ein wissenschaftlicher Disput. Er verteidigte seine Wahrheit zwar argumentativ, jedoch war es eine Wahrheit, für die er mit seinem Leben einstehen mußte. Anders als später Galilei, der im Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt seiner Entdeckung widerrufen konnte, da jeder Verständige ihn mit einem einfachen Fernglas überprüfen konnte. Luthers Entdeckung war nicht von der Art der Entdeckung eines Naturgesetzes, sondern sie stand und fiel performativ mit ihrem Entdecker. Insofern ist die Szene in Worms nicht nur die plastische Illustration einer Entdeckung, sondern ein wesentliches Element dieser Entdeckung selbst.

[23] Zitiert nach: Lilje, Hanns: Luther. Nürnberg 1948 S. 106f.

[24] Der Gesetzes-Begriff spielt für Luther eine große Rolle. Unter dem ”Gesetz” versteht er die Thora einschließlich des Dekalogs. Luther erkennt die pragmatische, das Alltagsleben ordnende Funktion der Thora für das jüdische Volk, indem er es ”Der Juden Sachsenspiegel” nennt. In dieser Beziehung wirkt es demnach wie anderes weltliches Recht, nämlich als positives Recht, das durchaus auch anders sein könnte und für die Menschen seiner Zeit ja auch anders ist.

Theologisch jedoch hatte das Gesetz für Luther noch andere Bedeutungen. Zum einen hält es dem Menschen seine Sündhaftigkeit vor Augen, da er immer wieder an den Forderungen des göttlichen Gesetzes scheitern muß (theol. usus legis = cognitio peccati). Für den Menschen, der erfahren hat, daß er Gott Recht ist, allein aus dessen Gnade, dient das Gesetz zum anderen als Handlungsanleitung. Denn auch der gerechtfertigte Mensch weiß den richtigen Weg nicht von selbst (usus civilis = cohercere peccati).

[25] Es ist interessant, daß Luther, dem oft Vernunftfeindlichkeit unterstellt wird, die Vernunft hier explizit erwähnt.

[26] ”Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan.” (Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. (1520) S. 21.

[27] Das ist jedoch bei Luther noch kein dogmatisches System, wie dann bei seinen späteren Anhängern in der Orthodoxie. Luther selbst argumentiert immer wieder biblisch in weltlichen Dingen. Die Bibel ist ihm oft genug Vorbild auch sozialer Ordnungen. Er kann sogar so weit gehen, den Ratsherren politisch und pädagogisch zu raten, und dies mit dem Satz bekräftigen: ”das wo yhr mir hierinn gehorchet, on zweyffel nicht myr, sondern Christo gehorchet.” (An die Ratherren. S. 27 f.) Christsein ist für Luther keineswegs eine unpolitische Angelegenheit, aber, und hier liegt der  Unterschied, auch die Nichtchristen können in weltlichen Dingen sehr weit kommen, denn hier reicht die Vernunft hin, während das für den Bereich des Heils gerade nicht gilt. Luther kann sogar soweit gehen zu behaupten, daß die Bergpredigt zum Regieren nicht taugt. So in seiner Schrift: Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. (1523) Darin korrigiert er den Irrtum, als sei der Obrigkeit alles erlaubt, und die Untertanen hätten in allem zu gehorchen: ”Denn Gott der Almechtig unßere fursten toll gemacht hat, das sie nit anders meynen, sie mügen thun und gepieten yhren unterthanen was sie nur wollen; (und die unterthanen auch yrren und glewben, sie seyen schuldig, dem allen zu folgen[...])” dann jedoch wieder weiter sich auf den Bereich des Heils beziehend, der eben nicht in der Macht der Fürsten steht:“[...] ßo gar und gantz, das sie nu angefangen haben, den leutten zu gepieten, bücher von sich thun, glewben und hallten was sie fur geben; damit sich vermessen auch ynn Gottis stuel zu setzen und die gewissen und glawben zu meystern und nach yhrem tollen gehyrn den heiligen geyst zur schulen furen.” (S. 246) Die weltlichen Herren haben jedoch die Verantwortung für eine vernünftige, d.i. gerechte politische Regierung. Wo sie die nicht wahrnehmen, steht leicht in Frage, ob denn weltliche Ordnung überhaupt von Gott gewollt sei: ”Auffs erst müssen wyr das welltlich recht und schwerd wol gründen, das nicht yemand dran zweyffel, es sey von Gottis willen und ordnung ynn der welt.” (Ebd. S. 247.) Vgl. auch: Loewenich, Walther von: Das neue in Luthers Gedanken über den Staat. In: Wolf, Gunther (Hg.) Luther und die Obrigkeit. Darmstadt 1972, S. 124-137. Bes. S. 134.

[28] Vgl.: Luther, Martin: „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben. (1525)“, In: WA 18. Bd. 1908, S. 279-334. Vgl. auch: Richard Schröder: ”Rede zu Luthers Todestag in Eisleben am 18. Februar 1996. (Manuskript) S. 4.

[29] Luther, Martin: Ermahnung zum Frieden. S. 316: ”So soll nü vnd müs ewr titel vnd namen dießer seyn, Das yhr die leute seyt, die darumb streytten, das sie nicht vnrecht noch vbels leyden wollen noch sollen, wie das die natur gibt, Den namen sollt yhr furen und Christus namen mit friden lassen, [...]”.

[30] ”Dieße zwo widderstendige rede der freyheyt und dienstparkeit zuvornehmen, sollen wir gedencken, das eyn yglich Christen mensch ist zweyerlei natur, geystlicher und leyplicher. Nach der seelen wirt er eyn geystlich, new, ynnerlich mensch genennet, nach dem fleysch und blut wirt er eyn leyplich, allt und eußerlich mensch genennet. Und umb dißes unterschiediß willen werden von yhm gesagt yn der schrifft, die do stracks widdernander seyn, wie ich itzt gesagt, von der freyhheyt und dienstparkeit.“ Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. (1520) S. 21.

[31] Dieses Modell führt Schleiermacher weiter, indem er die Überlegung anstellt; wenn der Mensch nie vollständig frei ist, sondern immer auch abhängig, dann ist es eben diese Abhängigkeit, die schlechthinnige Abhängigkeit genannt zu werden verdient. Diesem Bewußtsein oder Gefühl für die schlechthinnige Abhängigkeit verleihen die Religionen Ausdruck, indem sie bessere oder schlechtere Antworten auf dieses unmittelbare Selbstbewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit geben. Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube. Berlin, 1960, S. 23-30.

[32] Für die Verortung der Pädagogik auf Seiten des weltlichen Reiches steht z.B. Wagengast: „Nach Luther gehört sie (die Erziehung, H.S.), darüber gibt es keinen Zweifel, nicht zum Reich Gottes, sondern zum Reich der Vernunft,...“ (S. 18.) Das Gegenteil vertritt z.B.: Karg, H. H. 1986 bes. S. 52-121.

[33] Dietrich Benner hat an dieser Stelle mit J.F. Herbarts Anwendung der von Immanuel Kant konstatierten ”Revolution der Denkungsart” auf pädagogische Zusammenhänge auf einen eklatanten Unterschied zwischen der neuzeitlichen und vorneuzeitlichen Aufgabe der Erziehung hingewiesen. Während vorneuzeitliche Pädagogik für die gelingende Inkooperation des Zöglings in das gesellschaftliche Ganze mit seinem vorgegebenen Sittenkanon zu sorgen hatte, ginge es nach der ”Kopernikanischen Wende der Geisteswissenschaften” nun für die Pädagogik darum, den/die HeranwachsendeN zu eigenverantworteter Lebensführung in einer Gesellschaft zu befähigen, die sich der Setzung ihrer sittlichen Regeln bewußt ist, über die Veränderbarkeit dieser Regeln aufgeklärt ist und die weiß, daß diese Regeln nicht einer Objektivierung des absoluten Guten entsprechen, sondern auf Übereinkünften beruhen. So daß sich ein modernes Individuum keineswegs mehr gewiß sein kann, daß es, wenn es in Übereinstimmung mit Sitten und Gesetz handelt, auch moralisch gut handelt. Die Entscheidung über Handeln auf praktischem Gebiet bleibt unvertretbar beim handelnden Individuum und kann nicht mehr an Sitte und Gesetze delegiert werden. (Vgl. Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. S. 225ff.)

[34] Litt, Theodor: ”Führen” oder ”Wachsenlassen”. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems. Leipzig 1927.

[35] „Denn wes ist die schuld, das es itzt nun allen stedten so dünne sihet von geschickten leutten, on der oberkeyt, die das junge volck hatt lassen auff wachsen, wie das volck ym wald wechset, und nicht zu gesehen, wie mans lere und zihe.“ An die Ratherren. S. 35.

[36] An die Ratherren. S. 32 (Hervorhebungen H.S.).

[37] “Aber die falsche natur liebe vorblendet die elternn, das sie das fleysch yhrer kinder mehr achten, dan die seelen. Drumb spricht der weyß man: Wer der rutten schonet, der hasset seyn eygen kindt, wer aber seyn kindt lieb hatt, der steupt es vill mall...“ Luther bezieht sich hier wohl auf das apokryphe Buch ”Jesus Sirach” 30, 1: ”Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit, damit er später Freude erleben kann. Wer seien Sohn in Zucht hält, wird Freude an ihm haben und kann sich bei Bekannten seiner rühmen. Wer seinen Sohn unterweist, erweckt den Neid des Feindes, bei seinen Freunden kann er auf ihn stolz sein. [...].” (Zitiert nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung.) „...Item Salomon: schlechstu deyn kind mit rutten, ßo wirstu seyn seel von der helle erloßen.“ Luther, Martin: Ein Sermon von dem ehelichen Stand. S. 170.

[38] „Aber das solln die eheleudt wissen, das sie gott, der Christenheyt, aller welt, yhn selbs und yhren kindern keyn besser werck und nutz schaffen mugen, dan das sie yhre kinder wol auff tzyhen.“ Ein Sermon von dem ehelichen Stand. S.169f.

[39] „Alßo widderumb ist die helle nit leichtlicher vordient, dan an seynen eygen kindern, Mugen auch keyn schedlicher werck nit thun, dan das sie die kind vorseumen, laßen sie fluchenn, schweren, schandpar wort und liedlin leren und nach yhrem willen leben, [...]“ Ein Sermon vom ehelichen Stand. S.170.

[40] An die Ratherren. S.46.

[41] Vgl. Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. S. 108ff.

[42] Mit dieser Interpretation setze ich mich im folgenden Institutionenkapitel genauer auseinander.

[43] Ganz ähnlich werden später Schleiermachers Überlegungen zum Anfangs- und Endpunkt der Erziehung sein. Vgl. Schleiermacher, F.E.D.: Theorie der Erziehung - Die Vorlesung aus dem Jahre 1826. In: Ders: Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn 31959, S. 44-46. Ebenso sind Analogien zu Herbarts Unterscheidung in Kinderregierung und Erziehung durch Unterricht zu sehen. Allerdings grenzt Luther nicht, wie später Herbart, die Regierung der Kinder auf den Fall ein, daß sich beim Kind noch kein echter Wille gebildet haben dürfe und die Kinderregierung auch keinen positiven Zweck im Kinder erreichen wolle. Vgl. Herbart, J.F.: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. (1806) In: Johann Friedrich Herbart. Pädagogische Schriften, hrsg. von W. Asmus. Stuttgart 1984.

[44] Luther, Martin: Ordnung eines gemeinen Kasten. (1523) WA, 12. Bd. 1891, S. 1-30.

[45] Vgl.: Stallmann, Edith: Luther - Initiator protestantischer Bildung. In: Religion heute, 15/1993, S. 148-157. Die Autorin reißt auch die Problematik der durch die Reformation ausgelösten Bildungskrise an, denn Luther, selbst ein entlaufener Mönch, entwirft von der Wartburg aus die Argumentationshilfe für andere Mönche und Nonnen, die ihre Kloster verlassen wollen. Mit der Auflösung der Klöster stirbt jedoch auch eine zentrale Bildungsinstitution des Spätmittelalters, die Klosterschule. Ebd. S. 152ff. Dies hatte für die Frauenbildung besonders verheerende Folgen. (Vgl. Westphal 1996, S. 149.)

[46] Das gilt jedoch nicht für eine basale Erziehung, für die weiter die Familie zuständig bleibt. (Ein Sermon von dem ehelichen Stand, besonders der 3. Teil S. 170f.) Es gilt auch nicht für die höheren Schulen und Universitäten, deren Reform er den Fürsten ans Herz legt: (Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. (1520) WA 6. Bd. 1888, S. 381-469, bes. S. 459ff.)

[47] ”War ists, ehe ich wollt, das hohe schulen und klöster blieben so, wie sie bis her gewesen sind, das keyn ander weyse zu leren und leben sollt fur die jugent gebraucht werden, wöllt ich ehe, das keyn knabe nymer nichts lernte und stum were.” (An die Ratherren. S.46).

[48] An die Ratherren. S.45.

[49] Das bedeutet jedoch nicht, daß Luther nicht gerade um die Wichtigkeit der häuslichen Erziehung wußte. Im 3. Teil des ”Sermons von dem ehelichen Stand” handelt Luther von der Kindererziehung. Sie hat nach seinen Worten das größte Gewicht. Sie soll sorgfältig geschehen. Wenn die Eltern nicht in der Lage sind, die eigenen Kinder zu erziehen, sollen sie es Leuten überlassen, die es verstehen. Der eheliche Stand ist nur dann ein gelungener, wenn auch die Kindererziehung gelungen ist. Wird sie vernachlässigt, ist der gesamte Ehestand verfehlt. Dann hätten sie lieber jungfräulich bleiben sollen. (170f.).

[50] „[...] der gemeyn man thut hie nichts zu, kans auch nicht, wills auch nicht, weys auch nicht,[...]“ An die Ratherren. S. 44.

[51] Vgl. An die Ratherren. S. 34.                

[52] „Und wenn die zucht auffs höhest getrieben wird und wol gerett, so kompts nicht ferner, denn das eyn wenig eyn eyngezwungenen und erbar geberde da ist,[...]“ Ebd.

[53] „[...]sonst bleybens gleychwol eyttel holzböcke, die wider hie von noch da von wissen zu sagen, niemand wider radten noch helffen konnen.“ Ebd.

[54] An die Ratherren. S. 45.

[55] Wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet, wird die Abfolge der Erziehungsinstitutionen in den meisten Arbeiten chronologisch mit der Entwicklung Luthers erklärt. Diese Untersuchungen berufen sich auf die maßgebende Monographie von Werner Reininghaus. (Reininghaus, W.: Elternstand, Obrigkeit und Schule bei Luther. Heidelberg 1969.) Unter Berufung auf die „Ordnung eines gemeinen Kastens“ in der sich Luther 1523 für ein gemischtverantwortetes Schulprojekt in Leisnigen aussprach, das aber aus mehreren Gründen scheiterte, wird abgeleitet, daß erstens diese Schulorganisation elterndominiert war und sich zweitens in dieser Organisationsform Luthers eigentliche Präferenz ausdrücke. Alle anderen von ihm später vorgeschlagenen Lösungen seien nur Notlösungen. So auch die Schrift an die Ratherren vom folgenden Jahr. Eigentlich sei die Schule für Luther nur die „Hilfsanstalt der Eltern“. (So z.B. Retter 1996, S. 50 unter Berufung auf Reininghaus.)

Eine solche Interpretation übersieht jedoch zweierlei. Zum einen waren auch in Leisnigen die Eltern nicht die alleinigen Träger der Schule. Eleonore Kamp-Franke stimmt Reininghaus insofern zu, als sie die Motivation der Adressierung des Schreibens von 1524 in dem Scheitern der gemischten Verantwortung von „2 Adeligen, 2 Ratsherren, 3 städtischen Bürgern und 3 Bauern“ (S. 253) für die Schule sieht. Die Eltern sind demnach keineswegs alleinige Träger der Schule. (Kamp-Franke, Eleonore: Ehe- und Hausstand, häusliche Erziehung und Schule - Eine Studie zu Luthers Auffassung des Verhältnisses von Gesellschaft und Erziehung. Marburg 1994.) Diese vielleicht detaillierteste neuere Untersuchung zur Frage der chronologischen Reihenfolge hat den Nachteil einer stark herrschaftstheoretischen Fragestellung, die zuweilen einen Ideologieverdacht aufkommen läßt. Gerade das Kapitel 6: „Luthers Äußerungen über die Errichtung und den Besuch von christlichen Schulen sowie zur Einrichtung von Katechismusunterricht“, liefert jedoch eine sehr materialreiche und sachgerechte Darstellung der Chronologie von Luthers einzelnen pädagogischen Schriften.

Der zweite Einwand ist jedoch bedeutender. Selbst wenn Luthers Präferrenz ursprünglich einem gemischtverantworteten Schulmodell mit starker Elternbeteiligung, gegolten hätte, so gibt es kein Anzeichen dafür, daß die „eigentliche“ Position Luthers in dem früheren Text zu suchen ist. Viel mehr argumentiert er in der Schrift von 1524 erheblich differenzierter und mit systematisch stärkeren Argumenten für die öffentliche, kommunale Schule. In diesem Sinne auch Jürgen Christian Mahrenholz: Bürgerrecht auf Bildung: Luther auf schulpolitischem Kurs. Hannover 1997, S. 35. Insgesamt zeugt diese kleine Buch über Luthers Schrift an die Ratsherren von einer eingehenden und jahrelangen Auseinandersetzung mit der Materie.

[56] Zur besonderen Bedeutung der Geschichte als Unterrichtsgegenstand vgl. das dritte Kapitel der Abhandlung von Mahrenholz 1997, S. 91-106: „Die Sicherung der Neugestaltung des Schulwesens durch eine im wesentlichen auf dem Fach „Geschichte“ fußende Allgemeinbildung.“

[57] Vgl. An die Ratherren. S. 35.

[58]  ”Lieben herrn, mus man jerlich so viel wenden an büchsen, wege, stege, demme und der gleichen unzelichen stucke mehr, da mit eyne stad zeyttlich fride und gemach habe, Warumb sollt man nicht viel mehr doch auch so viel wenden an die dürfftige arme jugent, das man eynen geschickten man oder zween hielte zu schulmeystern?” An die Ratherren. S. 30.

[59] Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle. (1530),  WA 30 II. Bd., S. 508-588. S. 579 f. (Auch hier wieder ein Verweis auf Aristoteles.) Vgl. auch: Goebel, Klaus: Luther als Reformer der Schule. In Goebel, Klaus (Hg.): Luther in der Schule - Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie. Bochum 1985, S. 7-26, bes. S. 20f.

[60] An die Ratherren. S. 46.

[61] Beleg dafür ist der schon im Erziehungskapitel zitierte Absatz aus der Schrift an die Ratherren S. 46. Vgl. das Zitat bei Anmerkung 40.

[62] An die Ratherren. S. 46.

[63] ”Ja weyl der fleyschliche hauffe sihet, das sie yhre söne, töcher und freunde nicht mehr sollen oder mügen ynn klöster und stifft verstossen und aus dem hause und gutt weysen und auff frembde güttter setzen, will niemand meher lassen kinder leren, da mit sie sich erneren.” Ebd. S. 28; Vgl. auch: Unterricht der Visitatoren.: ”Für dieser zeit ist man umb des bauchs willen zur schule gelauffen [...]” (S. 236)  Vgl. auch: Eine Predigt, daß man die Kinder zur Schule halten solle. (1530), die sechs Jahre nach der Ratherrenschrift erschien und die Situation sich anscheinend noch nicht gebessert hatte: ”Lieben freunde, weil ich sehe, das sich der gemeine man frembd stellet gegen die Schulen zu erhalten und ihre kinder gantz und gar von der lare zihen und allein auff die narunge und bauchs sorge sich geben, [...]” (S. 526.)

[64] „Wenn nu gleich (wie ich gesagt habe) keyn seele were und man der Schulen und Sprachen gar nichts dürffte umb der Schrifft und Gottis willen, So were doch alleyn dise ursach gnugsam, die aller besten schulen beyde fur knaben und meydlin an allen ortten auff zu richten, das die wellt, auch yhren welltlichen stand eusserlich zu halten, doch bedarff seiner geschickter menner und frawen“ An die Ratherren. S.44.

[65] Vgl.: Fietze, Katharina: Frauenbildungskonzepte im Renaissance-Humanismus. In: Kleinau, Elke (Hg.): Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Bd. 1. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt 1996. S. 121-134. Einerseits ginge er mit seinem Erziehungsauftrag an die Frau über andere Renaissance-Autoren hinaus (vgl.: S. 128), andererseits merkt die Autorin jedoch an: „Indem er hier die mehrfach betonte Hilfe der Frau „in allen Dingen“ wieder auf ihre Gebärfunktion reduziert, fällt er in eine sehr alte misogyne Position zurück.“ (Ebd.)

[66] Darin waren sich keineswegs alle Reformatoren einig, wie der Disput mit den Böhmischen Brüdern zeigt, die der Höheren Bildung und sogar dem Gebrauch der lateinischen Sprache sehr skeptisch gegenüberstanden, weil von ihr die Gefahr einer Infizierung mit dem katholischen Geist ausginge. Vgl. die knappe Darstellung von Rydl, Karel: Zum „Bildungsstreit“ zwischen Martin Luther und dem böhmischen Bruder Lucas im Jahre 1523. - Anmerkungen zur ersten deutsch-tschechischen Diskussion über den Sinn der höheren Bildung. In: Golz, Reinhard (Hg.): Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas. Münster 1996, S. 141-146.

[67] Vgl.: Grünberg, W.: Das befreite Gewissen als Basis der Vernunft - Anmerkungen zu Luthers Katechismuskonzeption. In: Liedtke, Max (Hg.): Religiöse Erziehung und Religionsunterricht. Bad Heilbrunn 1994 S. 163-172. Grünberg kann anhand der Auflagenzahlen nachweisen, daß der Katechismus sogar noch weiter verbreitet war als die Bibel. Genau anders herum beschreibt die Reihenfolge Klaus Goebel, der aber immerhin 85 Auflagen und Ausgaben nachweist. (Goebel 1985, S. 9.) Entscheidend war jedoch, daß quasi alle bürgerlichen Haushalte durch Gutenbergs Erfindung der Druckmaschine mit beweglichen Lettern in den Besitz gedruckter Bücher kommen konnten.

[68] Aus der Fülle der Literatur vgl. dazu: Mit Vorbehalt, da er nicht zwischen den Appellen an Fürsten und Städte und deren je spezifische Aufgaben unterscheidet: Vogel, Johann Peter: Luthers Appelle zum Schulehalten und ihre aktuellen Folgen. In: Erziehungskunst Jg. 60, 12/1996, S. 1321-1327; knapp und materialreich: Arnhardt, Gerhard: Die Leistungen Martin Luthers und Phillipp Melanchtons bei der Konstituierung des protestantischen Bildungswesens - Zum 510. Geburtstag Luthers. In: Pädagogik und Schulalltag, Jg. 48. 6/1993, S. 562-574. Eine detailreiche Studie am albertinischen Sachsen durchgeführt: Wartenberg, Günther: Visitationen des Schulwesens im albertinischen Sachsen zwischen 1540 und 1580. In: Goebel, Klaus (Hg.): Luther in der Schule - Beiträge zur Erziehungs- und Schulgeschichte, Pädagogik und Theologie. Bochum 1985, S. 55-78. Dagegen Tenorth 1988, S. 67, der meint, daß Luther unter Schulen keine Laien-, sondern offenkundig eher Lateinschulen verstünde.

[69] Vgl.: Arnhardt, Gerhard: Sächsische Fürsten- und Landesschulen 1993 - Gedanken zu einem Jubiläum. In: Pädagogik und Schulalltag, Jg. 48. 3/1993, S. 264-271.

[70] An die Ratherren. S. 31.

[71] Vgl.: An den christlichen Adel. S. 460.

[72] An die Ratherren. S. 29.

[73] Anders sieht dies Dieter Fauth, der behauptet: „Auch im allgemeinen Schulwesen wollte Luther die Bibel im Zentrum wissen. Jeder Christ sollte mit neun oder zehn Lebensjahren das Evangelium auswendig wissen.“ S. 487. Luther äußert dies in der Schrift an den Adel von 1520, jedoch mit dem Nachsatz, daß dies heute nicht einmal die Prälaten könnten. Das allgemeine Bildungswesen ist aber nicht das eigentliche Thema des Aufsatzes von Fauth. Ihm geht es vielmehr um das Phänomen der „Schule Gottes“. Fauth, Dieter: Lernen in der „Schule Gottes“ dargestellt vor allem an Quellen von Martin Luther und dem protestantischen Dissidentismus. In: Paedagogica historica. Jg. 30 2/1994, S. 477-504, bes.: 484-488. So zeigt sich allgemein, daß die aus einem religionspädagogischen Kontext argumentierenden Autoren die religiöse Dimension der Schule für Luther signifikant überbetonen, so z.B. Martin Schwab: „Die Schule besitzt - so Luther - auch eine Funktion für die Welt und in der Welt.“ (Schwab, Martin: Luther und die Reformation: Impulse für Schulerziehung und für Schulunterricht in der Ursprungsepoche. In: Die Schleswig-holsteinische Schule. Jg. 37 5/1983, S. 103-108. S. 105. Hervorhebung, H.S.). Anders Mahrenholz 1997, wenn er gegen die religionspädagogischen Interpreten schreibt: „Luther entfaltete ein schulpolitisches Konzept mit einem breitgefächerten Bildungsangebot - das weder einen Religions- und Philosophieunterricht enthält noch eine „kirchliche Pädagogik“ postuliert.“ S. 33, bes. Fußnote 104. Und der Exkurs II, der in Gänze diesem Problem gewidmet ist. (S. 75-89.) Nichts desto weniger verspricht die jüngste Dissertation (Carstens 1999) in der Einleitung in einem ganzen Kapitel „Luthers Vorstellungen zum Religionsunterricht mit den Zielen des Religionsunterrichts am Ende des 20. Jahrhunderts zu konfrontieren.“ (S. 10) In diesem Kapitel selbst jedoch wird dies Versprechen nicht eingelöst. (S. 316-341.)  Der einzige Beleg, daß Luther den Religionsunterricht gewollt habe, wird über weitere Sekundärliteratur erbracht (S. 341 Anm. 2), ansonst verweist und zitiert der Autor nur Melanchthon. Ein solches Vorgehen verwundert weniger, wenn man sieht, daß in den nachfolgenden zwei Exkursen die heutige Problematik des Religionsunterrichtes anklagend diskutiert wird. (S. 342-369.) Die Dissertation von Edgar Reimers hat diese Problematik zum Thema. (Reimers, Edgar: Recht und Grenzen einer Berufung auf Luther in den neuen Bemühungen um eine evangelische Erziehung. Göttingen 1958.) Allerdings argumentiert der Autor unter Absehung von Luthers pädagogischen Schriften lediglich mit der Auslegung des Galaterbriefes.

[74] Unterricht der Visitatoren. S.  238.

[75] Zur großen Bedeutung, die Luther dem Sprachunterricht beimißt, liefert das zweite Kapitel mit dem Titel: „Die Sicherung der Neugestaltung des Schulwesens mittels eines rechten Verstehens“ des Buches von Mahrenholz 1997, S. 41-67 einen hervorragenden Beitrag.

[76] Vgl. Luther, Martin: Unterricht der Visitatoren (1538), WA, 26. Bd. 1909, S. 175-241. S. 237ff.

[77] „Die zucht aber, die man daheyme on solche schulen fur nimpt, die will uns weyse machen durch eygen erfarung. Ehe das geschicht, so sind wyr hundert mal tod und haben unser lebenlang alles unbedechtig gehandelt, denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt.“ An die Ratherren. S. 45.

[78] „Wo man sie aber leret und zöge ynn Schulen oder sonst, da gelerte und züchtige meyster und meysterynn weren, da die sprachen und andere künst und historien lereten, da würden sie hören die geschichte und sprüche aller wellt, wie es diser stad, disem reich, disem Fürsten, disem man, disem weybe gangen were, und kündten also ynn kurtzer zeyt gleich der gantzen wellt von anbegynn wesen, leben, rad und anschlege, gelingen und ungelingen fur sich fassen wie ynn eym spigel, daraus sie denn yhren synn schicken und sich ynn der welt laufft richten künden mit Gotts furcht.“ An die Ratherren. S. 45. (Hervorhebung, H.S.) Freilich stützt sich meine Interpretation darauf, das „yhren“ auf die Kinder zu beziehen. Grammatikalisch ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß es sich auf die dargestellten Gegenstände bezieht, die durch die Darstellung den ihnen immanenten Sinn offenbaren. Aber selbst in diesem Falle geht es um eine Sinnrekonstruktion der SchülerInnen die durch eine künstliche Darstellung lediglich angeregt wird.

[79] Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. S. 165ff.

[80] Erinnert sei an Herbarts Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt“ der 280 Jahre später ein vergleichbarer Kerngedanke zugrunde liegt. Herbart, Johann Friedrich: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung (1804). In Ders.: Kleinere pädagogische Schriften. (hrsg. von Walter Asmus), Stuttgart 21982, S. 105-121.

[81] An die Ratherren. S. 46.

[82] Bereits 1520 fordert Luther eigene Mädchenschulen: „Und wollte Gott, eine jegliche Stadt hätte auch eine Mädchenschule, darinnen das Tages die Mägdlein eine Stunde das Evangelium hörten, es sei zu deutsch oder lateinisch.“ (An den christlichen Adel. (1520), S. 381-469, S. 461.) Siegrid Westphal weist nach, daß dies der erste verbürgte Beleg der Forderung nach einer eigenen Mädchenschule ist und Luther hier weiterginge selbst als die Humanisten. Vgl. Westphal, Siegrid: Reformatorische Bildungskonzepte für Mädchen und Frauen. In: Kleinau, Elke (Hg.) Geschichte der Mädchen und Frauenbildung. Bd. 1. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt 1996. S. 135-151. S. 138f. In der Folge werden nicht nur Frauen unterrichtet, sondern sie unterrichten selbst, werden Schulleiterinnen und Hofmeisterinnen. Vgl. S. Westphal 1996 S. 147f., die als Beleg eine Autobiographie heranzieht.

[83] An den christlichen Adel. (1520) S. 461; An die Ratherren. (1524) S. 44 (u.ö.). “Luthers allgemeine Grundsätze einer christlichen Erziehung kennen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.” S. Westphal 1996 S. 136.

[84] ”Meyn meynung ist, das man die knaben des tags eyn stund odder zwo lasse zu solcher schule gehen und nichts deste weniger die ander zeyt ym hausse schaffen, handwerck lernen und wo zu man sie haben will, ...”. An die Ratherren. S. 46f.

[85] Vgl. An die Ratherren. S. 34f.

[86] ”Wilche aber der ausbund dar unter were, der man sich verhofft, das geschickte leut sollen werden zu lerer und lereryn, zu prediger und andern geystlichen emptern, die soll man deste mehr und lengerda bey lassen odder gantz daselbs zu verordenen,” An die Ratherren. S. 47.

[87] Vgl. die Darstellung der Übergänge von einer Schulklasse in die nächsthöhere nach dem Leistungsprinzip. (In diesem Aufsatz Absatz 4 Anfang.) Dies ist nicht etwa die Ausnahme in Luthers Schriften. „Solche tüchtige knaben solt man zur lere halten, sonderlich der armen leute kinder...“ fordert er 1530. (Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle. S. 545.) Aber auch die weniger Begabten sollen Schulbildung erhalten. Schulbildung ist in Luthers Denken nicht etwas, das vom Privileg der oberen Stände nun zum Privileg der Leistungsstarken wird, sondern eher denkt er im Sinne einer „kompensatorischen Bildung“ an eine besondere Bevorzugung der ansonst in der Gesellschaft besonders benachteiligten, um so die Chancengleichheit zu befördern. „Wie wol daneben dennoch auch die anderen knaben, ob sie nicht so wol gaschickt weren, auch sollten lernen, zum wenigsten latein verstehen, schreiben und lesen...“ Ebd.

[88] So auch schon 1520. Vgl.: An den christlichen Adel. (1520) S. 461. Vgl. auch: Goebel 1985, S. 7-26, bes. S. 9.

[89] Anders interpretiert Tenorth 1988 die Schrift an die Ratherren. Er meint, Luther schwanke in seiner „Zielsetzung unentschieden zwischen den Erwartungen der Kirche und den Notwendigkeiten einer Qualifizierung für den Stand“ und könne weder „eine allgemeine Laienbildung im weltlichen Geist denken noch eine Elementarbildung ohne berufsvorbereitende Funktion“ (S. 67) Mir scheint, diese Aussagen sind am konkreten Text unhaltbar, denn die Schrift zielt gerade auf beides, im Rahmen der ökonomischen und religiösen Situation des 16. Jahrhunderts, ab. So schreibt Kamp-Franke, zunächst von der Leisinger Kastenordnung ausgehend: „Denn  nunmehr, dies wird in den noch folgenden Schulschriften Luthers deutlicher, geht es vorwiegend nicht mehr um die schulmäßige Aneignung von für den jeweiligen Beruf konkret verwertbaren Qualifikationen - abgesehen von den Ämtern im geistliche und weltlichen Regiment - , sondern in hohem Maße um die Aneignung einer als adäquat definierten, unverzichtbaren Haltung gegenüber Arbeit und Leben(sbedingungen) und zwar ausnahmslos für alle.“ (Kamp-Franke, S. 252.)

[90] Z.B. An die Ratherren. S. 35ff.

[91] Hier stimmt Luther mit der humanistischen Devise ”ad fontes” überein.

[92] Vgl. An die Ratherren. S. 44.

[93] Ebd.

[94] An die Ratherren. S. 46.

[95] In späteren Textversionen taucht dann dies „Joch“ auch tatsächlich auf: ”Denn was ist dies Joch ein eitel Kinderspiel, zu welchem die Griechen vor Zeiten ihre Kinder erzogen...” Luther, Martin: An die Ratsherren deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen. (1524), In: Hofman, Franz: Pädagogik und Reformation. Berlin 1983, S. 82.

[96] So ist es ihm nicht mit dem Postulat der Freiheit getan. Freiheit hat immer manifeste Bedingungen. Diese aufzuspüren und abzuändern und so Freiheit auch im Wechselverhältnis mit Abhängigkeiten zu ermöglichen, das ist eine bleibende Aufgabe nicht nur, aber auch der Pädagogik. Luther weist an dieser Stelle auf eine konkrete Bedingung neuzeitlicher Freiheit hin. Eine Bildung und Ausbildung, die nicht auf Standesschranken eingegrenzt bleibt, sondern den Grundstein legt, daß Standes- und Berufsbegrenzungen übersprungen werden können. Auch für Pädagogik heute bleibt diese Frage von ungebrochener Aktualität: Wo treffen wir auf strukturelle Einschränkungen der Möglichkeit von Freiheit und wie kann ihnen pädagogisch entgegengewirkt werden?

[97] Vgl. dazu auch das Beispiel der römischen Heiden, die durch ihre umfassende Ausbildung sogar den heutigen Bischöfen überlegen seien.  (An die Ratherren. S. 35).

[98] Vgl. Anmerkung 14 in diesem Aufsatz und die in diesem Zshg. formulierte Fragestellung.

[99] Zur theologischen Dimension dieser Fragestellung vgl. den kleinen Aufsatz von Ringhausen, G.: Ist der Mensch definierbar? In: Glaube und Lernen 4. Jg. 1989, S. 97-100, bes. 99f.

[100] An die Ratherren. S. 32.

[101] Mögliche Gründe dafür gibt an: Meyer-Drawe, Käte: Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“ In: Z.f.Päd. 45 Jg. 1999 Nr.2. S. 161-176.