J. Henning Schluß www.henning.schluss.de.vu

LER – Nie war kritisieren so einfach wie heute

In. Neue Sammlung 40. Jg. Heft 2/2000, S. 295-313.

 

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Zusammenfassung

 

Die Debatte um das brandenburgische Unterrichtsfach LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) wird nicht nur in pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Kreisen, in Kirche und Theologie intensiv geführt, sondern erregt auch ein breites öffentliches Interesse. Allein die Intensität der Debatte verbürgt jedoch nicht die Qualität der vorgebrachten Argumente. Sehr schnell war eine Einseitigkeit der fachwissenschaftlichen (sowohl theologischen wie auch erziehungswissenschaftlichen) wie der veröffentlichten Meinung festzustellen. Für diese Einseitigkeit ist zum einen eine außergewöhnliche Disputationsunkultur verantwortlich, für die in einem ersten Kapitel drei Stereotype nachgewiesen werden. Zum anderen sind es jedoch Argumente, die in der Diskussion die Überhand behielten. In dem zentralen Kapitel werden diese immer wieder vorgebrachten Argumente vorgestellt, deren Plausibilität untersucht und zumeist negativ evaluiert. In einem letzten Kapitel wird der berechtigte Anspruch der Kritik an LER hervorgehoben und ein Weg für einen vielversprechenderen Umgang der Kritiker mit den Konstrukteuren des neuen Unterrichtsfaches vorgeschlagen.


LER – Nie war kritisieren so einfach wie heute

1     Einleitung

Im Gegensatz zur Diskussion um das Shoa-mahnmal in Berlin führte die langanhaltende Debatte um das brandenburgische Schulfach LER (Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde) weder zu einer einvernehmlichen Einigung, noch auch nur zu einer Lösung. Anders als in der Mahnmaldebatte waren hier pro und contra nie ausgewogen. In pädagogischen wie theologischen Publikationen und auch in den eine breitere Öffentlichkeit erreichenden Medien erhoben hauptsächlich die Gegner von LER das Wort. Befürworter schien immer mehr einzig die brandenburgische Landesregierung und ihre Berater zu sein.[1]

Inzwischen ist es stiller geworden in diesem Streit. Das liegt wohl nur zum Teil daran, daß jetzt das Verfassungsgericht entscheiden muß.[2] Zum anderen mag ausschlaggebend gewesen sein, daß zuletzt die Gegner von LER mit ihrer Kritik immer mehr unter sich blieben. Kaum ein Befürworter meldete sich in der medial geführten Debatte mehr zu Wort. Daß dies ausschließlich in der Überzeugungskraft der Argumente der Gegner gelegen hat, wage ich zu bezweifeln. Deshalb seien zuerst drei nichtargumentative Faktoren benannt, bevor in einem zweiten Schritt die Argumente der LER-Kritiker einer kritischen Würdigung unterzogen werden.

2     Drei außerargumentative Faktoren, die zum Verstummen der Befürworter beitrugen

2.1      Regionalbezogenheit der Debatteure, statt der Debatte

Der Aufschrei von Seiten der Kirche, der Religionspädagogik, der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik angesichts der Einführung von LER war so massiv, daß verschiedene Diskutanten, die überlegten, ob denn nicht etwas und was an LER dran sein könnte, verschreckt schwiegen. Die Debatte machte in zunehmendem Verlauf immer stärker den Eindruck, als seien hier heilige Kühe des in über 40 Jahren bewährten bundesrepublikanischen Systems in Gefahr, geschlachtet zu werden. Immer wieder taucht das “Flächenbrandargument” auf, das in etwa lautet: Wehret den Anfängen, denn was in Brandenburg geschieht, könnte sogar auf die alten Bundesländer übergreifen.[3]

Dies mag auch ein Grund dafür sein, daß die regionale Spezifik, besonders der eklatant hohe Anteil an Schülerinnen, die oder deren Eltern nicht Mitglied einer Kirche sind (in Brandenburg in etwa so hoch wie der Anteil der Schülerinnen aus den alten Bundesländern, die oder deren Eltern Mitglied einer Kirche sind), in der öffentlichen Debatte eine sehr untergeordnete Rolle spielt.[4] Die vermeintliche Stärke der föderalen Struktur des Bildungswesens in der Bundesrepublik, auf unterschiedliche Bedingungen unterschiedlich eingehen zu können, spiegelt sich in der Debatte um LER nicht wieder.

Es nimmt also nicht Wunder, wenn die schärfsten ernstzunehmenden Kritiker von LER ihre Wurzeln nicht in Berlin-Brandenburg oder den anderen neuen Bundesländern haben.[5]

Bischof Kruse, letzter westberliner und erster gesamtberliner Bischof der ev. Kirche in Berlin und Brandenburg, stimmte einer kirchlichen Mitarbeit in der Projektphase von LER durchaus zu[6]. Mit der Amtsübernahme durch Bischof Wolfgang Huber (aus Heidelberg kommend), der sich das Bildungsengagement der Kirche zu einem Hauptthema erwählt hatte, verschärfte sich der Ton zusehends. Einerseits gingen in der gemeindlichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen die Stellen für Katechetinnen drastisch zurück, andererseits verhärtete sich die Position gegenüber der brandenburgischen Landesregierung.[7]

Sobald eine solche Beobachtung jedoch geäußert wird, bekommt man z.B. von Rolf Wischnath zu hören, man wolle “den Ost-West-Gegensatz neu [...] schüren und politisch die Saat des Mißtrauens ausgerechnet gegen solche zu streuen, die wie Wolfgang Huber aus dem Westen nicht zu irgendwelchen Gastspielen eingeflogen werden, sondern hergekommen sind, um zu bleiben und - unter Ost-Bedingungen! - ihren begrenzten Beitrag zur Überwindung der Spaltungsgeschichte zu leisten.” (Wischnath 1996, S. 5) Nun will ich nicht auf das Opfer eingehen, unter „Ost-Bedingungen!“ in Berlin-Brandenburg Bischof zu werden, sondern meine, daß die Beschreibung einer Beobachtung nichts mit dem Schüren von Ost-West-Gegensätzen zu tun hat. Das Formulieren dieser Beobachtung kann aber helfen aufzuklären, daß bestimmte immer wieder formulierte Argumente und Befürchtungen ihre Ursachen auch in den unterschiedlichen Herkunftserfahrungen haben mögen. Es scheint doch besser, dies zu benennen, als es zu ignorieren.

2.2      Der Stil der Diskussion

Ein weiterer Grund für das Verstummen der Befürworter mag in der Diskussionskultur liegen. Ein Beispiel dafür will ich dem schon zitierten Aufsatz von Meyer-Blanck entnehmen: “Die als völlig normal internalisierte Trennung von Kirche und Staat in Ostdeutschland (aber auch unter anderem Vorzeichen beim Religionsunterricht in Westberlin) läßt für ein solches differenziertes Verständnis von Glaubensunterricht keinen Raum. ... ” (Meyer-Blanck, 1995 S. 156. - Hervorhebungen H.S.) Dieser Satz besagt, daß Meyer-Blank glaubt, über ein differenziertes Verständnis von Glaubensunterricht zu verfügen, über das Ostdeutsche, entschuldbarer Weise, nicht verfügen können, weil sie ein anderes Konzept internalisiert hätten. Die Vorzüge einer solchen Argumentation liegen auf der Hand; so müssen die Überlegungen des Anderen als konkurrierende Überlegungen gar nicht erst wahr- und ernstgenommen werden, sondern sind von vornherein als Meinungen von Menschen qualifiziert, die aufgrund der Internalisierung der Verhältnisse in DDR und Westberlin nicht in der Lage seien, von diesen Verhältnissen zu abstrahieren. Es nimmt nicht Wunder, wenn Kontrahenten, die in der Diskussion mit solchen Unterstellungen rechnen müssen, sich aus diesem Disput zurückziehen. Problematisch ist eine solche Argumentation auch in der Hinsicht, daß das Vertreten der Internalisierungsthese[8] bedeutet, auch die eigene Argumentation auf seine Internalisierung zurückführen zu müssen. In der Konsequenz hieße dies jedoch, die einen hätten das Richtige, die anderen das Falsche internalisiert. Auf solcher Basis ist ein rationaler Diskurs nicht möglich.

2.3     Die normative Kraft des Faktischen  

Ein dritter Grund, neben dem allgemeinen Aufschrei der Entrüstung und der den Diskussionspartner entwürdigenden Kritik, mag die normative Kraft des Faktischen sein. Kein anderes ostdeutsches Land hat den Versuch, den im Großteil Westdeutschlands traditionellen Religionsunterricht nicht zu übernehmen und etwas anderes an seine Stelle zu setzen, aufgenommen.

Interessanterweise sind es noch am ehesten die Kritiker von LER, die sich für eine konzeptionelle Umgestaltung des traditionellen Konzepts aussprechen und Konzepte vorstellen, die pädagogisch wie theologisch durchaus wohl begründet sind. So ist das vorgeschlagene Wahlpflichtfach Ethik/Religion mit intensiven Kooperationsphasen für die alte Bundesrepublik durchaus etwas Neues.[9] Dennoch geht der Vorschlag weiterhin von der Trennung beider Fächer aus.

 

Soviel zu drei Gründen, die außerhalb einer sachlichen Argumentation, zu einem Verstummen der Befürworter von LER und zu einer Verlagerung der Debatte von einer pädagogischen und theologischen hin zu einer juristischen geführt haben, die aus eingegrabenen Stellungen geführt wird. Inzwischen geht es vor Gericht um die Interpretation der sogenannten “Bremer Klausel”[10] und ihrer Anwendbarkeit auf das Land Brandenburg.

 

3     Auseinandersetzung mit verschiedenen Kritiken

Im Unterschied zu der eingangs erwähnten Debatte um das Shoa-Mahnmal hat der lange und ausführliche Streit jedoch nicht überall zu einer intellektuellen Steigerung und Schärfung der Argumente geführt, sondern der anscheinend so leicht errungene Sieg hat zu einer Verflachung der Debatte beigetragen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Argumente der Kritiker von LER näher betrachtet werden. Ausgehend von einem Diskussionsbeitrag von Michael Tiedtke & Andreas Wernet (Tiedtke/Wernet 1998, S. 737-752.) wird als zweites das Argument Reinhard Schilmöllers (Schilmöller 1998, S. 421-440.) dargestellt und kritisiert. Nach zwei pragmatischeren Beobachtungen, die sich jedoch immer wieder als bedeutend herausstellten, werde ich dann anhand des Textes von Michael Meyer-Blanck der Diskussion weiter folgen. Diese Konzentration scheint mir deshalb legitim, weil der Aufsatz Meyer-Blancks den Ansatz verfolgt, die bislang vorgebrachten Kritiken gegen LER zu sammeln. In meiner Auseinandersetzung mit Meyer-Blanck werden deshalb auch die Argumente anderer Autoren zur Geltung gebracht, und es wird an den entsprechenden Stellen auf sie eingegangen und verwiesen.

3.1     Michael Tiedtke / Andreas Wernet: Säkularisierte Prophetie

Die Grundstruktur der Tiedke-Wernetschen Argumentation ist schnell zusammengefaßt. Die Ablösung des Religionsunterrichtes durch LER sei Ausdruck einer Säkularisierung[11]. Diese Säkularisierung zeichne sich durch Verwissenschaftlichung aus. LER nähme sein Bewußtsein, den Religionsunterricht abzulösen, daher, die gleichen Inhalte wie der Religionsunterricht, jedoch nicht bekenntnisorientiert wie dieser, sondern verwissenschaftlicht, zu behandeln. Mit einer Bezugnahme auf Max Webers Wissenschaftstheorie gehen die Autoren davon aus, daß Wissenschaft im wissenschaftlichen Prozeß selbst wertfrei verfahre.

LER meine nun, die Werte, die es vermitteln will, nicht mehr religiös letztzubegründen, sondern im Zuge der Säkularisierung diese Letztbegründung eines verbindlichen Wertekanons auf wissenschaftliche Beine stellen zu können. Nun sei es aber unsinnig anzunehmen, die Wissenschaft, die in ihrem Procedere wertfrei verfahre, könne eine solche Letztbegründung leisten. Das könne allenfalls Religion, die ja immer ein gewisses “Opfer des Intellekts” beinhalte und sich deshalb noch zu Letztaussagen aufschwingen könne, die wissenschaftlich freilich nicht ratifizierbar seien. Die schlußendliche Alternative der Autoren lautet; wenn LER Werte zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung machen wolle, könne es deshalb keine Werte mehr lehren.[12]

An dieser Stelle sei mir der Hinweis gestattet, daß theologische Begründungsverfahren spätestens seit der Aufklärung unter einem erheblichen Rechtfertigungsdruck stehen, der zu hoch reflektierten Begründungstheorien (nicht ausschließlich apologetischer Natur) geführt hat, die nicht nur dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit standhalten, sondern auch keine verbindliche Letztbegründung mehr leisten können und wollen.[13] Aber auch schon die Tradition wußte um die Schwierigkeit der verbindlichen Festlegung moralischer Kodizes, wenn die katholische Dogmatik bis heute davon ausgeht, daß die Gewissensentscheidung die Entscheidung des/der Einzelnen ist und bleibt. Die Autoren überschätzen an dieser Stelle wohl die Möglichkeiten und das selbstformulierte Interesse eines kirchlichen Religionsunterrichtes.[14]

Wenn die von Tiedtke & Wernet beschriebene Verbindung von Wissenschaft und wertebezogenem Unterricht tatsächlich die einzige Möglichkeit wäre, wäre dies in der Tat fatal. Jedoch ist ein solches Verständnis keineswegs zwangsläufig, eher sogar befremdlich. Zum einen ist entschieden darauf hinzuweisen, daß Unterricht und Wissenschaft keineswegs identisch sind, sondern verschiedenen Bereichen der menschlichen Praxis angehören und deshalb unterschiedlichen Prinzipien verpflichtet sind. Unsere differenzierte Gesellschaft unterscheidet nicht umsonst zwischen beiden Sphären. Insofern wird auch ein wissenschaftlicher Unterricht in erster Linie immer Unterricht bleiben (und damit pädagogischen Prinzipien verpflichtet) und nicht Wissenschaft (die in der Tat wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet ist, die auch das Bemühen um Wertungsunabhängigkeit im Prozeß der wissenschaftlichen Untersuchung mit einschließen). In pädagogischen Zusammenhängen geht es jedoch nicht (wie in der Wissenschaft) um die Entdeckung oder Begründung von neuen Zusammenhängen und Erkenntnissen, sondern hier geht es um die Vermittlung von eben diesen Zusammenhängen und Erkenntnissen und auch den Methoden dieser Wissenschaft. Der Gegenstand ist nur dem lernenden Individuum neu, während vom Lehrenden erwartet werden kann und muß, daß er um diesen Gegenstand des Lehrens schon weiß. Die Webersche Unterscheidung mag also in der Wissenschaft durchaus ihren Platz haben, daß und wie sie jedoch für den Unterricht gelten soll, ist damit noch keineswegs erwiesen, auch wenn die Behandlung von ethischen Gegenständen den Unterricht vor besondere Herausforderungen stellt.[15]

Zum zweiten sprechen sehr gute Gründe für die Position, daß Unterricht dann völlig ungenügend ist, wenn er nicht auf die Reflexion von Werthaltungen zielt. Im Unterricht muß es gerade darum gehen, nicht nur wissenschaftliche Verfahren zu lernen (dann brauchte es keine pädagogischen Institutionen, das könnte auch die Wissenschaft selber vermitteln), sondern dieses wissenschaftliche Wissen muß so aufbereitet werden, daß es zu bildendem Wissen für die Schülerinnen werden kann. Dazu gehört:

-                     die Vermittlung des Wissens um die Historizität wissenschaftlichen Wissens,

-                     der Kontext des Entstehens der Theorien, ihre Hintergrundannahmen und ihre Wirkungsgeschichte,

-                     die grundsätzliche Aufklärung über jeglichen wissenschaftstheoretischen Status wissenschaftlicher Theorien, nämlich als Konstrukte unseres Verstandes, die, wenn sie aussagekräftig sein sollen, die Bedingungen ihrer eigenen Falsifikation mitformulieren und die dann zu Umformulierungen der Theorie führen müssen oder zu einem gänzlichen Neuansatz

-                     und schließlich die Aufklärung über den Status jeglichen Wissens als Wissen für uns und der grundsätzlichen Differenz zu dem, was Welt für sich sein mag. [16]

Deshalb ist den Autoren keineswegs zuzustimmen, wenn sie behaupten: „Wer gute Gründe zur Untermauerung eines Wertestandpunktes anführt, muß in Kauf nehmen, daß bessere Gründe diesem Standpunkt das Fundament zerstören. ‚Dignitätsverdopplung‘ bedeutet also ‚Dignitätsverlust.‘“ (Tiedtke & Wernet S. 742.) Es muß hier wohl gefragt werden, was die Alternative zu einer rationalen Begründung dieses Wertestandpunktes wäre: Es sind Fundamentalismen jeglicher Couleur, die sich mit eben solchen Argumenten einem Diskurs entziehen. Dagegen soll, muß und kann entschiedener Einspruch erhoben werden. Schon Lessing läßt seinen Sultan Saladin zu Nathan sagen, als er ihn über die „wahre“ Religion befragt: „Ein Mann, wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.“ (Lessing, S. 79.) Um nicht mißverstanden zu werden, will ich hinzufügen, daß Aufklärung natürlich auch vor der Aufklärung vor sich selbst nicht haltmachen darf. So stellte sich heraus, daß das Festhalten an einer objektiven Vernunft, die als arithmetischer Punkt alle “vernunftbegabten Wesen” (Kant) zu übereinstimmenden Erkenntnissen bringe, da wo es vertreten wurde, illusionär war. Jedoch ist die Einsicht, daß z.B. Begründungsstrukturen für Glaubenssysteme immer “selbstreferentiell” (Fischer 1994, S. 487-539.) sind, nicht identisch mit dem Verzicht auf solche Begründungsstrukturen, wie es Tiedtke & Wernet vorschlagen. Das bedeutet eben auch, daß “bessere Gründe diesem Standpunkt das Fundament zerstören” (Tiedtke & Wernet S. 742.) können[17]; Wertestandpunkte sind doch nichts Naturgegebenes oder etwas, das mit Reflexion nicht das geringste zu tun hat, sondern sie müssen anfragbar sein und bleiben und zwar mit Gründen.

Insofern sei Tiedtke & Wernet in ihrer systematischen Argumentation entschieden widersprochen. Die Abkopplung der Entscheidungen zu den eigenen Werthaltungen von rationalen Diskursen, die in ihrem Prozeß wertfrei ablaufen, was eben ihre Wissenschaftlichkeit ausmacht (Weber), bedeutet die Identifikation jeglicher Werthaltungen mit Fundamentalismen.

In einem ist den Autoren jedoch beizustimmen. Wenn LER darauf hinausliefe, eine bestimmte Werthaltung, weil diese wissenschaftlich begründet sei, anderen Werthaltungen vorzuziehen, und diese wissenschaftlich grundgelegte Werthaltung so zu unterrichten, daß sie auf unbedingte Übernahme durch die Schüler zielt, dann wäre dies in der Tat verwerflich und bedeutete die Absicht zur Indoktrination. Eine solche Argumentation wäre dann dem Staatsbürgerkundeunterricht der DDR vergleichbar, dessen Doktrin vom Heilsbesitz der “wissenschaftlichen Weltanschauung” ausging und sich deshalb nicht nur im Recht, sondern geradezu in der Pflicht fühlte, die mittels dieser “wissenschaftlichen Weltanschauung” gewonnenen Erkenntnisse und Werthaltungen im Unterricht zu vermitteln. Ließe sich ähnliches für LER aufweisen, wäre dies in der Tat mehr als bedenklich. In dem zweiten Teil des Artikels versuchen die Autoren deshalb, diesen Nachweis zu führen.

Die Argumentation stützt sich, wie die Autoren selbst einräumen, auf die sehr weitgehende Interpretation eines einzigen Mottos “Gemeinsam leben lernen:” aus der Überschrift zu einem Grundsatzpapier des brandenburgischen Bildungsministeriums im Jahre 1991, das in den “Hinweisen zum Unterricht im Modellversuch” von 1994 und in den “Unterrichtsvorgaben” von 1996 wieder auftaucht. Auf diese Exegese (drei Worte und ein Interpunktionszeichen) scheint mir Goethes Bonmot über die Kunst der Ausleger seiner Zeit wohl zuzutreffen: “Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.“ ( Goethe: Zahme Xenien.)

Der zitierte Satz gibt die Interpretation die Tiedtke & Wernet ihm aus- oder unterlegen nicht her. Dabei will ich die Möglichkeit des Zutreffens der Argumentation der Autoren nicht einmal grundsätzlich in Zweifel ziehen, jedoch ist sie, so verlangt es die von den Autoren selbst beschworene, wertfreie wissenschaftliche Sorgfaltspflicht, am Text auszuweisen und nicht frei zu assoziieren.[18]

Insofern lohnt ein näheres Eingehen auf diese Interpretation nicht. Die genannten Argumente werden andernorts begründeter vorgebracht, und mit ihnen werde ich mich im Folgenden auseinandersetzen.

3.2     Reinhard Schilmöller: LER - ein Modell für den Religionsunterricht der Zukunft?

Gänzlich anders als Tiedtke und Wernet argumentiert Reinhard Schilmöller (Schilmöller 1998, S. 421-440). Nachdem er viele Argumente, die für LER sprechen, nennt, hält er sich nicht bei dem Versuch auf, diese Argumente zu entkräften, sondern stellt statt dessen die These auf, daß „die Frage, ob der herkömmliche konfessionele RU tatsächlich obsolet geworden ist und LER die bessere Alternative darstellt, nur vom Bildungsauftrag der Schule beantwortet werden kann“ (Schilmöller 1998, S. 423). Um diese Frage zu beantworten, sei es nicht hinreichend, die Wünschbarkeit eines konfessionellen Religionsunterrichtes nachzuweisen, wie dies viele Autoren täten, sondern es müsse die Notwendigkeit des RU dergestalt aufgezeigt werden können, daß es kein Ersatzfach gibt, das an seine Stelle treten kann.[19] Um diesen Nachweis anzutreten, rekurriert Schilmöller auf die Allgemeinbildungskonzepte von Klafki und Benner, die er für gleichsinnig ansieht insofern, als beide auf einen werterziehenden Unterricht zielten. Überzeugend argumentiert Schilmöller, daß die Erziehung zu einer reflektierenden, wertbezogenen Haltung nicht das Proprium des RU sein kann, sondern Anliegen jeglichen Fachunterrichts sein muß. Für Entscheidungen müssen Gründe angegeben werden, gleich ob es sich um Sach- oder Wertentscheidungen handle. Religion hätte hierin der Ethik nichts voraus. Auf die Frage, was denn dann, wenn nicht der Wertbezug, das „Mehr“ der Religion gegenüber der Ethik sei, übernimmt Schilmöller die Antwort Kants und des späten Horkheimer. Es sei die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ des guten Handelns, die Antwort auf die Sinnfrage. Dieser Unterschied ist jedoch nicht ganz trennscharf, wenn Schilmöller einerseits behauptet: „Das Proprium des RU besteht weder in einer spezifischen, die Vernunft als Urteilskriterium disponierenden Moral, noch besteht es überhaupt in der Moral“ (Schilmöller 1998, S. 430), er jedoch zwei Seiten später zustimmend Horkheimer zitiert: „Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral ... gründet in der Theologie“ (Schilmöller 1998, S. 432). Die Sinnfrage als die Frage danach, weshalb wir denn das Gute, was wir vernünftig erkannt hätten, auch tun sollten, sei selbst eine religiöse Frage, indem sie auf etwas Transzendentes verweise. Insofern könne sie auch nur in der Religion eine befriedigende Antwort finden. Zwar weiß Schilmöller sehr wohl, „daß Menschen auch aus anderen als religiösen Motiven heraus und teils unter bewußtem Verzicht auf einen umfassenden Sinnanspruch moralisch gut handeln, sei es aus Gewohnheit, ohne weitere Überlegung, aus spontanem Mitleid, „trostlos“ und in heroischer Haltung, aus unmittelbarer Betroffenheit heraus, von einem Gefühl der Solidarität her, aus Schuldgefühlen oder sonstigen Motiven“ (Schilmöller 1998, S. 434). Aber: „Wer sich in seinem Handeln am Denken ausrichtet und es vom Denken her zu verantworten sucht, ist zur Begründung dafür, warum er sich an sein Verstandesurteil binden und moralisch gut sein soll, insofern auf Religion verwiesen“ (Schilmöller 1998, S. 434). Weil Religion also die denkerische Antwort auf die Sinnfrage ist, gehört sie notwendig zur Allgemeinbildung, denn: „von einem Gebildeten erwartet man solche an den Gesetzen des Denkens orientierte Selbstreflexivität“ (ebd). Eine solche Beschäftigung mit der Sinnfrage wolle und könne LER nicht leisten, denn „Sinnfindung, das wird deutlich, erfolgt hier rein innerweltlich, nur bedürfnisbezogen und ohne jeglichen Bezug zur Transzendenz“ (Schilmöller 1998, S. 435). Deshalb sei auch der Religionsunterricht unersetzlich und somit der Beweis seiner Notwendigkeit erbracht.

Jedoch führt diese Argumentation erhebliche Probleme mit sich. Auch wenn es in der deutschsprachigen Wissenschaft unüblich ist, in einem Artikel mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit persönliche Sentenzen einzubauen, so möchte ich es doch an dieser Stelle zur Klärung meines Vorverständnisses tun. Die Behauptung, daß man vom „Gebildeten“ eine Selbstreflexivität erwarten könne, die sich an den Gesetzen des Denkens orientiert und also Religion ist, erinnert mich unwillkürlich an die in der DDR an mich herangetragene Erwartung, daß diejenigen, die sich an den Gesetzen des Denkens orientieren, jeglicher Religion und anderem Aberglauben längst abgeschworen haben. Sowenig ich damals von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt war, sosehr halte ich es jetzt für falsch, sie unter umgekehrtem Vorzeichen wieder zu etablieren. Weder der Glaube an einen Gott und religiöse Betätigung noch deren Negierung kann meiner Überzeugung nach der Beweis oder auch nur Bedingung einer selbstreflexiven Existenz sein.

Unabhängig von dieser aus der persönlichen Erfahrung gespeisten Voreinstellung läßt sich feststellen, daß sich die gemeinsame Kritik an LER bei Tiedtke/Wernet und Schilmöller aus antagonistischen Quellen speist. Während erstere argumentierten, daß der RU sich mit Werterziehung befassen dürfe, weil Religion per se ein ‚Opfer des Intellekts‘ bedeute, im Gegensatz zu einem rationalen und wissenschaftlichen Unterricht, argumentiert letzterer genau umgekehrt, daß Moralität begründendes, selbstreflexives Denken zwangsläufig auf Religion hinauslaufe und es deshalb gerade ein ‚Opfer des Intellekts‘ bedeute, auf Religion zu verzichten.

Gehörte Religion tatsächlich so fundamental zum Menschsein und müßte man tatsächlich von jedem Gebildeten erwarten können, daß er sie hat (und sich nicht nur mit ihr auseinandergesetzt hat), dann muß der RU zwangsläufig obligatorisches Pflichtfach wie der Mathematik- oder Geschichtsunterricht sein, denn sonst wird eine exklusive kleine Schar von Schülern gebildet, während die anderen der Halbbildung überlassen bleiben. Eine solche Forderung findet sich bei Schilmöller jedoch nicht. Insofern widerspricht Schilmöller damit jedoch den von ihm selbst zustimmend zitierten Klafkischen Bedingungen einer Allgemeinbildung als Maßstab jeglichen Unterrichts, denn sie meint auch „Bildung für alle, als Bildung im Medium des Allgemeinen und als allseitige bzw. vielseitige Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten“ (Schilmöller 1998, S. 425). Besonders überrascht Schlimöllers Argument der Bedeutung für die Allgemeinbildung des Religionsunterrichtes jedoch, da der Aufsatz die erweiterte Fassung eines Vortrages auf der Jahrestagung der DKV der Diözese Münster ist und die katholische Argumentation für den Religionsunterricht viel stärker noch als die evangelische, die ‚konfessionelle Trias‘ ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Demnach soll die gleiche Konfessionsgebundenheit sowohl Lehrinhalte als auch Lehrer- und Schülerschaft umgreifen.[20] Während der ev. RU zumindest dem eigenen Ansatz nach auch für nichtevangelische Schülerinnen offen ist[21], ist das Argument der Bedeutung für die Allgemeinbildung bei gleichzeitiger konfessioneller Separation und Exklusivität zumindest in sich unstimmig.[22]

Wenn Schilmöller jedoch auf diese Forderung verzichtet, hat er zwar nachgewiesen, daß Religion besondere Dimensionen der Bildung erschließen kann, dies muß jedoch keineswegs in der staatlichen Schule passieren. Wolfgang Huber verweist immer wieder darauf, daß der erste Bildungsort des christlichen Glaubens die christlichen Gemeinden selbst sind. Eine Notwendigkeit mehrerer konfessioneller Religionsunterrichte an staatlichen Schulen läßt sich demnach nicht ableiten.

Angemerkt sei weiterhin, daß die Reduzierung der Religion auf die Sinnfrage innerhalb der Theologie ebenso umstritten ist wie eine Reduzierung der Religion auf die Frage nach der Endlichkeit oder ähnlichem. Genauso ist Kants Gottesbeweis über die Praktische Philosophie innerhalb der Theologie keineswegs nur auf Zustimmung, sondern häufig auf Ablehnung gestoßen.

Wie eingangs schon bemerkt, wurden alle anderen von Schilmöller aufgezählten Argumente gegen den konfessionellen Religionsunterricht von ihm selbst mitnichten widerlegt, sondern beiseitegelassen. Es empfiehlt sich demnach, diese nach der Lektüre dieses Artikels ihn noch einmal zu lesen und zu überlegen, ob sie an Plausibilität eingebüßt haben.

Abschließend sei noch auf ein Problem hingewiesen. Schilmöller betrachtet LER ganz in der klassischen westdeutschen Perspektive von RU und Ersatzunterricht. LER will in seinem Anspruch jedoch mehr sein als nur ein Ersatzunterricht zum Religionsunterricht. Insofern greift die Messlatte, die immer nur fragt, ob LER den RU ersetzen kann, zu kurz. LER sollte vielmehr an seinem eigenen Anspruch gemessen werden. Dabei muß sich keineswegs zeigen, daß es diesen Anspruch erfüllt, ihn jedoch lediglich nach der Maßgabe eines Ersatzfaches zum RU zu beurteilen, muß ihn verfehlen.

3.3     Von der Wichtigkeit der Unterscheidungen

Die hier geübte Kritik der Kritiken soll nicht zu einer automatischen Rehabilitation von LER, sondern, wo das möglich ist, zu einer Präzisierung eben dieser Kritiken führen.

Kritik hat es, der Sache wie dem Namen nach, mit Unterscheidungen zu tun. Selten jedoch wird seitens der Kritiker zwischen strukturellen und variablen Elementen des LER-Konzepts unterschieden[23]. Wird diese Trennung nicht gemacht, dann wird, nur wenig überspitzt gesagt, jede mißlungene Unterrichtsstunde zu einem Argument gegen das Unterrichtsfach LER. Eine absurde Vorstellung, die dieselben Autoren mit Recht für jedes andere Fach ablehnen würden.

Meiner Überzeugung nach sind die meisten, oft zu Recht kritisierten Elemente viel eher variabler als struktureller Art, so daß eine Veränderung durchaus innerhalb des Konzeptes von LER denkbar wäre. Argumente, wie das der DDR-geschulten Lehrer, die mit Kirche und Religion nichts anfangen können, gibt es natürlich auch anderswo in den neuen Bundesländern und sind dem Konzept von LER nur insofern anzulasten, als es nicht verhindert, daß solche Lehrer LER unterrichten dürfen. Eine solche Unterscheidung will nicht das Problem kleinreden, das eintritt, wenn Lehrer eigentlich Glauben für “Opium fürs Volk” (statt des Volkes, wie immerhin bei Marx) halten, und das sowohl den kirchlichen Vertreter, wie die Klasse deutlich spüren lassen. (Geradezu unglaubliche Beispiele dafür bringt Leschinsky im Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung, sie werden aber auch aus der Ausbildung der Lehrer kolportiert.)[24]

Ein anderes beliebtes Argument gegen LER war bislang, daß die Lehrer an keiner Universität ausgebildet wurden[25]. Vergessen wird in diesem Zusammenhang jedoch meist, darauf hinzuweisen, daß es kein Bundesland gib, in dem Ethik-Lehrerinnen für ihr Fach an einer Hochschule ausgebildet werden. Der mögliche Einwand, daß es sich bei Ethik nicht um ein Regelfach, sondern ein Ersatzfach handele, verfängt nicht, denn der je einzelnen Teilnehmerin des Ethikunterrichtes kann das gleichgültig sein. Sie hat einen Anspruch auf einen ordentlichen Unterricht. Und anscheinend gehen alle Bundesländer davon aus, daß dieser gewährleistet ist, wenn universitär ausgebildete Lehrerinnen eine Zusatzausbildung an einem Landesinstitut absolvieren. Nicht anders war das Verfahren in Brandenburg, mit dem Unterschied, daß hier LER erst seit 1992 im Schulversuch unterrichtet wird, während der Ersatzunterricht der alten Bundesländer seit 1949 im Grundgesetz festgeschrieben ist. Ab dem Sommersemester 2000 kann man nun an der Universität Potsdam das Fach selbst studieren und damit dürfte dies Argument gänzlich obsolet sein.

3.4     Die “Befreiungsfalle”

Eine besondere Würze hat eine Argumentation, die ich die “Befreiungsfalle” nennen möchte. Am Anfang war LER als reguläres Unterrichtsfach geplant. Alle Schüler sollten daran teilnehmen[26]. Die Kritiker forderten jedoch die Möglichkeit der Freistellung von diesem wertevermittelnden Fach. Dies lehnte das Land Brandenburg mit Verweis auf die Werteneutralität des Faches ab. Die Kirchen beharrten aber lautstark auf der Befreiungsmöglichkeit. Als dann LER 1996 als reguläres Unterrichtsfach eingeführt wurde, kam die Landesregierung den Kirchen entgegen, indem sie eine Befreiungsmöglichkeit für den Fall vorsah, daß andernorts ein kirchlicher Religionsunterricht besucht wurde[27].

Vermutlich rechnete niemand im Brandenburger Bildungsministerium mit der Reaktion der Kirchen. Diese betrachteten das Zugeständnis als Wasser auf ihre Mühlen und argumentierten nun wie folgt: Wenn eine Befreiungsmöglichkeit von LER eingeräumt wurde, dann gibt das Land zu, daß der Unterricht nicht wertneutral ist. Ist er aber nicht wertneutral, so muß ein Ersatzunterricht in Form eines kirchlichen Religionsunterrichtes her[28]. Das brandenburgische Bildungsministerium hatte sich durch das Zugeständnis ein trojanisches Pferd ins Haus geholt.

3.5     Meyer-Blanck, Michael: Religion und Leben – Der Streit um “LER” und der künftige Religionsunterricht

Der Artikel von Meyer-Blanck stammt aus dem Jahre 1995 und erhebt für sich den Anspruch, die bis dahin vorgebrachten Argumente noch einmal aufzuzählen und zu systematisieren. Insoweit ihm dies gelingt, möchte ich auf eine vergleichbare Argumentation bei anderen Autoren nicht weiter eingehen, sondern mich nur deren je spezifischen Strategien widmen. Bei allem Bemühen um Seriosität gilt jedoch auch für Meyer-Blanck, daß er sich an manchen Stellen die Kritik zu leicht macht.[29]

3.5.1     Der Erfahrungsbegriff

Meyer-Blanck stellt in seinem Text zwei gegensätzliche Deutungen des Erfahrungsbezuges des Unterrichtes dar. Der eine Bezug auf Erfahrung sei therapeutisch orientiert, ihm ginge es darum, im Unterricht kompensatorisch Erfahrungen zu vermitteln, die zuvor nicht da seien. Einen solchen Begriff von Erfahrung habe das Pädagogische Landesinstitut Brandenburg. Der andere Zugang sei bescheidener, aber konkreter, es sei der Erfahrungsbegriff aus der kirchlichen Vorlage. In diesem Konzept ginge es nicht darum, Erfahrungen im Unterricht zu machen, sondern im Unterricht auf gemachte Erfahrungen der Schüler so Bezug zu nehmen, daß sie Anlaß bildeten, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen. Ein solcher Rekurs auf Erfahrung sei “didaktisch” im Gegensatz zu dem erstgenannten „therapeutischen“ Konzept. Die Sympathien des Autors liegen beim didaktischen Erfahrungsbegriff. In den “Hinweisen” des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport seien beide Konzepte miteinander vermischt worden[30]. Nun mag Meyer-Blanck zu Recht kritisieren, daß die beiden Konzepte nicht “wirklich konzeptionell miteinander verbunden, sondern eher additiv nebeneinandergestellt” seien, aber es könnte doch gewürdigt werden, daß sogar eine bloß additive Nebeneinanderstellung ein großes Plus gegenüber der ausschließenden Alternative zwischen den zwei Erfahrungsbegriffen ist. Allein die numerischen Verhältnisse machen es deutlich. Wenn die besagten 80 % keinerlei Erfahrungen mit Kirche, Religion und Glauben haben, ja zu meist noch nie in einer Kirche waren und auch nichts über religiöse Symbole, Gebräuche und Feste wissen, dann reicht es eben nicht aus, im Unterricht auf schon gemachte Erfahrungen zu rekurrieren, wie es Meyer-Blanck bevorzugt, sondern dann müssen Erfahrungen allererst gemacht werden. Wenn dem so ist muß also auch der Unterricht die Möglichkeit bereitstellen, daß solche Erfahrungen von den Schülerinnen gemacht werden können. Religionspädagogische Konzepte aus der alten Bundesrepublik können es sich aufgrund ihrer demographischen Basis überwiegender Volkskirchlichkeit vielleicht noch leisten, das Möglichmachen von Erfahrungen im Unterricht auszuklammern. Aber auch dort halte ich solche Alternativen für fragwürdig, denn sie übersehen, daß auch der Unterricht kein erfahrungsfreier Raum ist, sondern daß im Unterricht Erfahrungen gemacht werden, gleichgültig ob sie intendiert oder pädagogisch begleitet sind oder nicht. Deshalb ist es sinnvoll, sich über diese Erfahrungen, die im Unterricht immer gemacht werden, Gedanken zu machen und sie nicht einfach aus der pädagogischen Reflexion auszuklammern.

3.5.2     Der Lernbegriff

Einen wichtigen didaktischen Kritikpunkt greift Meyer-Blanck auf, wenn er einen psychologischen Lernbegriff kritisiert, der meint, auf die Formulierung jeglicher (inhaltlicher) Lernziele verzichten zu können, sondern an diese Stelle den Gruppenprozeß selbst setzt. Recht hat Meyer-Blanck, wenn er meint, ein solcher Lernbegriff sei therapeutisch gewendet. Allerdings, sieht man sich die Quelle dieser Zitate an, die Meyer-Blanck dankenswerter Weise offenlegt, so ist dies ein “Papier der psychologischen Begleiter der LER-Lehrkräfte” (Meyer-Blanck 1995, S. 154). Berücksichtigt man diese Quelle, kann der Inhalt kaum verwundern, und man fragt sich, was Meyer-Blanck damit beweisen wollte? Daß Psychologen einen psychologischen Lernbegriff haben und keinen didaktischen? Berechtigt wären allerdings Meyer-Blancks Hinweise, wenn sie sich auf das LER-Konzept bezögen. Diesen Nachweis bleibt Meyer-Blanck jedoch schuldig[31].

3.5.3     Erziehung und Unterricht

Unter der Bezugnahme auf A. Leschinsky, der Parallelen des LER-Unterrichts zum Konzept der Volksbildung und zum DDR-kritischen Katechismuskonzept der ev. Kirche meint dergestalt aufzeigen zu sollen, daß es in allen diesen Konzepten um eine „ganzheitliche Formung“ des Menschen ginge[32], hebt Meyer-Blanck darauf ab, daß zu einem modernen Schulsystem Differenzierungen, wie die zwischen „Erziehung“ und „Unterricht“, gehörten. Eine solche Differenzierung sei in allen drei Konzepten gering geschätzt, was sich darin äußere, daß vielen am Modellversuch Beteiligten die Ansicht einleuchtend erschien, „man könne und dürfe die jungen Menschen auf bestimmte gesellschaftlich verträgliche Überzeugungen und Verhaltensweisen festlegen“ (Meyer-Blanck 1995, S. 155).

Bei einer solchen Argumentation geht für meinen Geschmack zu viel durcheinander. Ich sehe nicht, daß eine Zusammenfassung der drei pädagogischen Konzepte (DDR- Volksbildung, ev. Katechetik, LER) auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer “ganzheitlichen Formung” resp. Indoktrination dem Gegenstand gerecht wird[33]. Ich will deshalb an dieser Stelle nur auf LER eingehen. Die These, die Meyer-Blanck unter Bezugnahme auf Leschinsky als Konstituum eines jeden modernen Schulsystems betrachtet, daß nämlich zwischen Unterricht und Erziehung zu differenzieren sei, verdient auch eine genauere Betrachtung. Aus dem Zusammenhang geht deutlich hervor, daß sich eine solche Unterscheidung gegen jegliche Erziehung wendet, mit der die LER-Lehrerinnen sympathisieren. Wo das LER-Lehrerinnen tun und sie dabei meinen, sie wüßten um die letzten Werte, zu denen es zu erziehen gilt, ist dies sicherlich zu kritisieren. Nur ist dies dann auch keine strukturelle Kritik an LER, sondern eine Kritik an konkreten Erscheinungen der Praxis und an einzelnen Lehrern, die noch dazu, wie Meyer-Blanck mit Leschinsky zeigt, nicht so sehr im Konzept von LER, sondern in der DDR-Vergangenheit der Lehrerinnen fußen soll[34].

In der Moderne ist bekanntlich  die Vorstellung von  allgemeinverbindlichen, letztbegründeten Werten abhanden gekommen. Auch wenn ethische Erziehung dann komplizierter ist, als wenn auf solche Werte verweisbar wäre, ist sie deshalb keineswegs unmöglich. Ein Konzept, das sich an den eigenen Handlungen der Schülerinnen orientiert und diese zur Reflexion ihrer Handlungen inklusive der Folgen auffordert, ist nicht indoktrinär. Es verzichtet dennoch auch nicht auf jegliche Werteerziehung. Problematisch ist das Verhältnis von Unterricht und Erziehung nämlich nur dann, wenn jegliche Art von Erziehung mit Indoktrination, Formung oder Internalisierung identifiziert wird, eine Problemverkürzung, die eine nicht-affirmative Theorie der Erziehung jedoch gerade zu vermeiden versuchen wird. Daß Erziehung im Unterricht in einem modernen Schulsystem nichts mehr zu suchen haben soll, ist keineswegs Konsens in der gesellschaftlichen[35]- und auch nicht in der erziehungswissenschaftlichen Tradition und Diskussion. Schon J. F. Herbart hat diese beiden Begriffe in seinem Konzept vom “erziehenden Unterricht” zusammengebracht und in ein reflektiertes Verhältnis gesetzt. (Herbart 1806)[36] Ziel eines solchen “erziehenden Unterrichts” ist es jedoch nicht, zu einem bestimmten Lebensentwurf zu erziehen, sondern an den Gegenständen des Unterrichts auch die praktische (ethische) Seite der Notwendigkeit des selbstbestimmten Handelns Schülerinnen nahezubringen und Reflexionsmöglichkeiten dieses Handelns zu erweitern. Pädagogik, auch schulische Pädagogik, muß dann vor der Aufgabe einer ethischen Erziehung der Schülerinnen nicht einfach kapitulieren, nur weil in ihr immer auch die Gefahr der Möglichkeit zur Indoktrination schlummert.

Nicht verschwiegen sei dazu jedoch ein Einwand, den Klaus Mollenhauer auf einem Symposion 1995 in Berlin machte: “Ich denke, es gibt überhaupt keine Pädagogik, die nicht irgendwo (in der Moderne eher verschämt) für “Indoktrination” einen legitimen Platz findet” (Mollenhauer 1996, S. 34). Einen Unterschied macht es jedoch, ob behauptet wird, durch den Verzicht auf “Erziehung” in der Schule der Indoktrination keine Einfallsmöglichkeit zu bieten (eine These, deren Fragwürdigkeit seit der Diskussion um den “heimlichen Lehrplan” noch einmal offensichtlich wurde), oder ob durch den Versuch einer nicht- affirmativen Theorie der Erziehung Reflexionsmöglichkeiten erlernt werden, die auch eigenverantwortliches Umgehen der Schüler mit Indoktrinationen zum Ziel haben.[37]

3.5.4     Leben & Religion

Als vorletzten Punkt seiner Argumentation weist Meyer-Blanck auf ein schwerwiegendes Problem hin; das Problem der Abspaltung der Religion vom Leben, die mit LER drohe. “... (S)o will LER offensichtlich Leben und Religion in zwei Bereiche trennen und “Lebensgestaltung” letztlich an die Stelle von Religion setzen. [...] Konzeptionell hat dies kein Theoretiker der Problemorientierung so vertreten, aber solche Fehlinterpretation ist – vorsichtig gesprochen – eine reale und bisweilen realisierte Möglichkeit” (Meyer-Blanck 1995, S. 155). Es muß erlaubt sein zu fragen, worin denn die Offensichtlichkeit dieser Trennung und Verdrängung liegt, wenn dies kein Theoretiker so gesagt hat? Wenn es so wäre, wäre es in der Tat problematisch[38].

Hinter dieser Befürchtung steht in aller Regel eine wichtige theologische Einsicht, die von unterschiedlichen Theologen immer wieder unterschiedlich ins Bewußtsein gerückt wurde. So hat Schleiermacher Religion als ein nicht auf anderes zurückführbares “Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit” (Schleiermacher 1960, S. 30-41) und somit als unreduzibele Form der menschlichen Gesamtpraxis beschrieben, was dazu führe, daß nichts aus, aber alles mit Religion getan werden sollte. Dietrich Bonhoeffer hat angesichts der Säkularisierung (die er „Mündigwerden der Welt“ nannte) darauf bestanden, Gott nicht nur an den Rändern, sondern mitten im Leben zu suchen. Das Mündigwerden der Welt in der Moderne führte dazu, daß Gott als Welterklärung nicht mehr gebraucht wurde. Wird Gott als Jokerprinzip der Welterklärung verstanden, hat er bestenfalls noch an Rändern Platz und wird immer dann weiter aus der Welt hinausgedrängt, wenn eine neue „gottlose“ Erklärung gefunden ist. Dagegen sah Bonhoeffer, daß, wenn Gott nicht mehr nötig ist, um die Welt zu erklären, das Gottesbild von diesem Ballast befreit ist und so Gott sich selbst mit seinem Anliegen zur Sprache bringen kann. Dies Anliegen ist der Anspruch, nicht mehr nur als Lückenbüßer für Nichtgewußtes zu fungieren, sondern mitten im Leben der Gläubigen von Bedeutung zu sein.

Ein unzulässiger Schluß aus der hier mit Schleiermacher und Bonhoeffer illustrierten theologischen Erkenntnis, daß im Leben des Christen die Gottesbeziehungen in allen Weltbeziehungen relevant ist, wird jedoch dann gezogen, wenn behauptet wird, daß deshalb auch alle Bereiche des schulischen Unterrichts innerhalb der Regelschule aus christlicher Perspektive betrachtet werden müssen. Auch wenn im christlichen Verständnis und in der theologischen Diskussion die Gottesbeziehung eine so zentrale Rolle spielt, müssen die für den Unterricht Verantwortlichen dennoch zur Kenntnis nehmen, daß 80% der Brandenburger ohne diese Praxis auskommen. LER kann, der Sache und dem Anspruch nach, kein konfessioneller Religionsunterricht sein. Aus einer grundlegenden theologischen Einsicht wird ein für die staatliche Schule unzulässiger Schluß gezogen, wenn behauptet wird, der gesamte LER-Unterricht müsse von christlichen Lehrern gleichberechtigt verantwortet werden, zumal wenn man bedenkt, daß dies die anderen Glaubensgemeinschaften mit ähnlichem Recht für sich beanspruchen könnten.

Selbstverständlich hat jede Konfession, Religion und Weltanschauung spezifische Hinsichten zu den verschiedensten Themen zu bieten, die sind jedoch nicht immer alle im Unterricht versammelbar. Und so ergibt sich das Problem der “authentischen Vertreter”.

3.5.5     Die authentischen Vertreter

Meyer-Blanck kritisiert das Konzept der “authentischen Vertreter”, das dazu geführt habe, daß die kirchlichen Lehrkräfte das Gefühl hatten, als “religiöses Anschauungsmaterial” (Meyer-Blanck 1995, S. 151) vorgeführt zu werden[39]. Da die Alternative eines von staatlicher und kirchlicher Lehrkraft gemeinsam verantworteten Unterrichts sich aus verschiedenen Gründen nicht durchgesetzt hat, sind die Vorzüge eines Konzeptes der authentischen Vertreter immerhin zu benennen. 

Es wird nicht mehr nur über eine bestimmte Religion, über eine bestimmte Weltanschauung, sondern mit Vertretern dieser gesprochen. Die Schüler können ihre Fragen dem Repräsentanten selbst stellen und so in einen Diskurs im Rahmen des Unterrichtes eintreten. Deshalb ist die Begegnung mit Stellvertretern der je konkreten Religion, Weltanschauung wichtig, damit zumindest eine Idee der möglichen Pluralität der Weltsichten entsteht und eine anfängliche Auseinandersetzung mit ihnen möglich wird.

An dieser Stelle kommt von Seiten der kirchlichen LER-Kritiker gewöhnlich der Einwand, ein Gespräch mit den Anderen sei erst dann sinnvoll, wenn sich die Schülerinnen des Eigenen genügend sicher seien[40]. Deshalb könne es Begegnungsphasen erst in den höheren Jahrgangsstufen des Religionsunterrichtes geben. (Das gilt oft sogar für Vertreter der anderen Konfession! Der von beiden großen Konfessionen veranstaltete Religionsunterricht ist in weiterer Ferne denn je[41].) Über ein solches Vorgehen herrscht jedoch auch unter den Kritikern von LER keineswegs Einvernehmen. Diejenigen, die aus einer profan erziehungswissenschaftlichen Sicht argumentieren, melden gewichtige Bedenken an:

-           schultheoretisch, (z.B. A. Leschinsky) weil auch der Religionsunterricht nicht so über den jeweiligen Glauben belehren soll, daß dieser als das Eigene, zu Lernende und zu Bekennende erscheint[42], 

-           bildungstheoretisch, (z.B. D. Benner) weil es ein konstitutives Signum der Moderne ist, daß das, was das Eigene ist, nicht mehr von außen gewußt werden kann, keine Standesschranken und Konfessionszugehörigkeiten der Eltern geben es mehr vor, sondern das bildsame Individuum erschließt die Zwecke seiner selbst sich selbst erst im Laufe seiner eigenen Bildungsgeschichte.

Im Sinne dieser Einsprüche kann die je eigene Findung des je eigenen (veränderlichen) Verhältnisses zu den verschiedenen Religionen bzw. zu Religion und Weltanschauung überhaupt am ehesten durch die Begegnung mit verschiedenen Repräsentanten verschiedener Weltdeutungen ermöglicht und so zu einer selbsttätigen Auseinandersetzung mit diesen angeregt werden, die dann auch in der bewußten Übernahme von schon traditionellen Wertesystemen bestehen kann oder darin, die schon übernommen Wertesysteme noch einmal selbst im Lichte eines vergleichenden rationalen Diskurses zu problematisieren, Werthaltungen so als solche bewußt zu machen und damit auch die Entscheidung für die zuvor schon angeeigneten Werte zu treffen und zu begründen[43].

Interessanterweise ist in den Lehrplänen für die thüringische evangelische Religionslehre ebenfalls das Konzept von authentischen Vertretern empfohlen, das dort „Originalbegegnungen“ (Thüringer Kultusministerium 1998, S. 11.) heißt. Es muß also angenommen werden, daß der „Zoo-Effekt“[44] nicht in der Sache begründet liegt, sondern im Umgang von einigen brandenburger LER-Lehrern mit den authentischen Vertretern. Dies jedoch ist wieder eine variable, nicht strukturelle Komponente. Wäre es anders, dann bedeutete dies ja, die Zurschaustellung sei dann legitim, wenn sie evangelische Religionslehrer und nicht staatliche LER- Lehrer verantworten.

4     Zugeständnisse

Abschließend möchte ich noch einmal etwas zum Status dieser Kritik-Kritiken sagen. Ich habe die Kritiken nur selten dadurch zu widerlegen versucht, daß ich auf die Konzeption und Praxis von LER hinwies, sondern brachte pädagogische, theologische, wissenschaftstheoretische und formalmethodische Gründe gegen verschiedene Argumentationen an. Ich wollte zeigen, daß es sich verschiedene Kritiken zu leicht mit dem Kritisieren machen, daß gegen andere Schlußfolgerungen nicht minder gewichtige Argumente stehen. Das bedeutet jedoch auch, daß dieser Text nicht als eine Heiligsprechung von LER verstanden werden kann. So mag es sein, daß einige Kritiken auf durchaus reale Gefahren des LER-Unterrichts hinweisen. Und an diesen Stellen muß das Konzept genau beobachtet werden: Hat es diese Vereinheitlichungstendenzen dergestalt, daß alle in das eine „gute Leben“ eingeführt werden sollen? Wie und ob kommt die Pluralität unserer Wertewelt zur Sprache? Werden die Schülerinnen herausgefordert, eigene Werturteile zu bilden, oder sollen sie die des Lehrers übernehmen? Können Lernziele bestimmt werden oder bleibt der Unterricht im Ungefähren einer therapeutischen Kuschelgruppe? Ist der Unterricht tatsächlich wissenschaftlich in einem bildenden Sinn oder folgt er einer Vorstellung von Wissenschaft als der Einsichtsart, die allen anderen deshalb haushoch überlegen ist, weil sie nicht nur zu einem objektiven Wissen um die Welt, sondern auch zu objektiven Werturteilen kommt? Die Fragen sind alle gestellt und sie sind alle zu Recht gestellt. Die Brandenburger täten gut daran, sie sich stellen zu lassen, die Kritiker täten gut daran, die Antworten auf ihre kritischen Anfragen nicht schon in Vermutungen und nicht zwingenden Schlüssen sowie Alternativen oder gewagten Unterstellungen vorweg zu nehmen, sondern ihre Kritiken so zu formulieren, daß sie nicht nur auf taube Ohren stoßen können. Dazu gehörte zum Beispiel, die unterschiedliche Situation Brandenburgs und Bayerns zu berücksichtigen und das Bemühen zu würdigen, auf diese andere Situation eine adäquate Antwort zu finden.

Anderen kritischen Bedenken kann ich mich jedoch nur anschließen. So halte ich es mit Richard Schröder für nicht zureichend, wenn die LER-Lehrerausbildung an den Universitäten des Landes erfolgen soll, diese Universitäten aber über keine theologischen Fakultäten verfügen. Das Kennenlernen des kulturprägenden christlichen Glaubens mit seinen jüdischen Wurzeln muß den künftigen LER-Lehrern auch aus der theologischen Binnenperspektive und nicht nur aus der religionswissenschafltichen Draufsicht ermöglicht werden.

Ein anderes ernstes Problem besteht tatsächlich mit den authentischen Vertretern. Authentische Vertreter sind nicht schon deshalb für den Unterricht geeignet, weil sei authentisch sind. Authentische Vertreter okkulter Praktiken, authentische Fundamentalisten, sind zumindest in unteren Klassenstufen keineswegs angebracht. Der Hinweis in einem Brief der Landtagsfraktion an Bischof Huber, daß es sich um authentische Vertreterinnen „anerkannter“ Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften handeln solle, deutet eine Richtung an, in der weiter gegangen werden muß.

Andererseits bleibt die Frage, wer die authentischen Vertreter aussucht. Ist es die Lehrerin, die bestimmt, wer für sie ein authentischer Repräsentant einer Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft ist? Gibt es dafür Richtlinien? Müssen die entsprechenden Gemeinschaften Vertreter benennen, denen sie den Status der Authentizität zuerkennen? Offene Fragen, die beantwortet werden müssen. Und zwar in Zusammenarbeit mit diesen „anerkannten“ Gemeinschaften.

Abschließend sei noch eine ergänzende Einschränkung meiner Kritik formuliert. So ist die Unterscheidung der Kritiken, die sich auf eine strukturelle Ebene beziehen oder auf eine Ebene des konkreten Handelns, zwar sinnvoll, jedoch, wenn die Kritiken am konkreten Handeln nicht zur Aufhebung der Mißverständnisse des LER-Konzepts führen, dann können diese Mißverständnisse sehr schnell eine Metamorphose zu strukturellen Mängeln erleben. Wenn solche Fehldeutungen, die sich zum Beispiel in einer offensichtlichen Mißachtung religiöser Werthaltungen äußern, oder auch in der Auffassung, zu irgendwelchen für gut befundenen letzten Werten erziehen zu sollen, bzw. im anderen Extrem, für alles und jedes gleichermaßen offen zu sein, für Satanskulte, für Lebenskonzepte der Freidenker, islamistisch-fundamentslistischer Gruppen ebenso wie der evangelischen Landeskirche, und wenn Vertreter dieser „Mißverständnisse“ unwidersprochen erheblichen Einfluß auf die konzeptionelle Ausgestaltung gewinnen, dann wird aus den Mißverständnissen eben das Konzept. Richard Schröder schreibt dies dem Landtagsabgeordneten Andreas Kunert so: „Du kannst natürlich sagen, die hätten alle LER mißverstanden. Dann werden sie eben eine mißverstandene LER-Konzeption praktizieren“ (Schröder 1995b).

Inwiefern die geballte Kritik einerseits, die Erfahrungen mit dem Unterricht andererseits zu einer Reformation des LER-Konzeptes führen, kann eine Analyse des dieser Tage erstmals zur Diskussion stehenden Rahmenplans für das Fach ergeben. Dies kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Jedoch könnte schon die Schaffung dieser Rahmenpläne und die Pläne zur Einführung einer Bewertung, nachdem LER nun schon seit Beginn des Schuljahres 96/97 als reguläres Fach unterrichtet wird, als Indiz gewertet werden, daß LER auf dem Wege zu einem Unterrichtsfach ist, das wie alle anderen Fächer auch Rechenschaft darüber ablegt, was Lernziele, Inhalte und Methoden des Faches sind. Eine solche Selbstverständigung hatte es nicht gegeben. Die Institutionalisierung wird künftig vielleicht auch eine profundere und profiliertere Kritik an diesem neuen Unterrichtsfach ermöglichen, die dann auch wieder positive Rückwirkungen auf die Entwicklung des Faches hätte. In diesem Sinne darf das Gutachten der wissenschaftlichen Begleitkommission zu LER, das im Sommer 2000 erscheinen soll, mit Spannung erwartet werden.


5     Literatur

5

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-                     Schorlemmer, F./Hülsemann, W./Falcke, H./Stauss, C./Ullmann W./Misselweitz, H./Misselweitz, R. (1996): Wir sind in Sorge. In:  Die Kirche, 31.3. / Nr. 13.

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-                     SPIEGEL (Hrsg.) (1996): Umfrage über Glauben und Unglauben der Deutschen: Gott oder Monstrum. Nr. 52, S. 148-153.

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-                     Thüringer Kultusministerium (Hrsg.) (1998): Lehrplan für die Regelschule – Evangelische Religionslehre – Anhörungsfassung September.

-                     Werbick (1995): Vom Wagnis des Christseins.

-                     Wischnath, R. (1994): Kein Kompromiß mehr? In: Das Sonntagsblatt vom 3.9.

-                     Wischnath, R. (1996): “Schule ohne Gott?!” - Religionsunterricht und LER im Land Brandenburg. In: Einführung in das öffentliche Diskussionsforum des Ev. Arbeitskreises der CDU am 23. 3. 1996 auf Hermannswerder bei Potsdam - für den Druck in „Evangelische Theologie“ redigiertes Redemanuskript.

 

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[1] So ist in der um Ausgewogenheit bemühten Darstellung des Hamburger Wochenblattes „DIE ZEIT“ nach der harschen Kritik in Nr. 53/98 durch den Leiter der Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofkonferenz in Bonn, Eckard Nordhofen, in 3/99 ein befürwortender Artikel von Ulrike Brunotte erschienen. „Die Autorin ist Religionswissenschaftlerin in Berlin und arbeitet seit Jahren an der Entwicklung von LER mit“ schreibt die ZEIT. Wie schwer es fällt, unabhängige Fürsprecher für LER zu finden, wird bei einem Blick auf die Namen und Funktionen der Autoren positiver Artikel deutlich. So ist Jürgen Lott, der in seinem Buch „Wie hast du’s mit der Religion?“ (Lott 1998) eindeutig Stellung für LER bezog und dabei mit Kritik an der evangelischen Landeskirche und ihren Vertretern nicht sparte, Mitglied des Wissenschafltichen Beirates des MJBS zur wissenschaftlichen Begleitung zur Einführung des Schulfaches LER in Brandenburg. Diese Veröffentlichung hat umgehend Reaktionen nach sich gezogen, die sich z.T. selbst als Polemiken bezeichnen (so Scheilke 1998). Als Befürworter tritt auch immer wieder der Religionspädagoge Gert Otto auf, der gleichzeitig Vorsitzender des Gesellschaftlichen Beirates ist. Seitens der etablierten Religionspädagogik der Bundesrepublik wird er jedoch oft als Enfant terrible abgetan. Ansonst müssen häufig die jeweiligen MinisterInnen und die MitarbeiterInnen des Ministeriums und des Landesinstitutes in die Bresche springen.

Die außergewöhnlichste in der unübersehbaren Vielzahl der Veröffentlichungen zum Thema ist die materialreiche Habilschrift von Dieter Fauth: Religion als Bildungsgut - Sichtweisen in Staat und evangelischer Kirche. (Fauth 2000), Fauth, der auch schon mit einer Vielzahl von Artikeln und einem dickleibigen Band zu dem Thema hervorgetreten ist, läßt sich trotz seiner Profession als Religionspädagoge und der damit zu vermutenden Nähe zur ablehnenden kirchenoffiziellen Position nicht auf ein einfaches Pro oder Contra festlegen. Wegen seiner sachlichen Darstellung wird in diesem Artikel des öfteren auf diesen Band verwiesen.

[2] Eine Zuspitzung, die zumindest unter prominenten Vertreterinnen der Kirche, die ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche der DDR haben, erhebliche Besorgnis ausgelöst hat, wie die Erklärung: „Wir sind in Sorge“ (1996), zeigte. Unterzeichnerinnen waren u.a.: Friedrich Schorlemmer, Wolfram Hülsemann, Heino Falcke, Curt Stauss, Wolfgang Ullmann und Hans & Ruth Misselweitz.

[3] Vgl. z.B.: Meyer-Blanck 1995, S. 151 a: “Noch ist – zumindest theoretisch – alles offen, und hier könnten im Hinblick auf Organisation und Konzeption des Faches / der Fächergruppe im ganzen Weichen für ganz Deutschland gestellt werden.“ oder auch Wischnath 1996, S. 6: “..., daß den konfessionell bestimmten Religionsunterricht auch in den anderen Bundesländern auf lange Sicht hin aufmischen wollte?”

[4] Verweise auf diese quantitativen Verhältnisse werden oft einfach abgetan. So Nipkow 1996a gegen Ministerpräsident Stolpe gewandt: “Aus einem quantitativen Verhältnis wird ein der Logik sich entziehender qualitativer Schluß gezogen.” (S. 132.) Gerade im Sinne des Minderheitenschutzes sei doch lieber ein Wahlpflichtbereich einzurichten. Solches Nichtzurkenntnisnehmen der Verhältnisse rächt sich denn auch, weil es zu unsinnigen Schlußfolgerungen führt. So Nipkow wieder in Bezug auf Stolpe, der sich für eine religionskundliche Grundbildung ausspricht, die auch den Nichtchristen nahezubringen sei. Worauf Nipkow reagiert: “Man fragt sich unwillkürlich, ob die Kenntnisse, die die Bedeutung des Kreuzes betreffen, nicht erst recht, nämlich noch gründlicher, in einem christlichen Religionsunterricht vermittelt werden können.” (S. 136.) Ein solcher RU würde jedoch nur von einem Bruchteil der Schülerinnen besucht. Die Situation beschreibt trefflich ein katholischer Pfarrer in dem Artikel von Schneider 1993, S. 835): „Ein katholisches und zwei evangelische Kinder sind unter den zwanzig ABC-Schützen dieses Jahres. Wenn bei uns der Artikel 7 des Grundgesetzes über den konfessionellen RU buchstabengetreu übernommen wird, dann bin ich endgültig raus aus der Schule, denn wie soll ich dort mit einem Kind Religionsunterricht halten?“

Besonders verwundert es jedoch, wenn die Zahlenverhältnisse sehr genau gekannt und genannt werden, wie z.B. von Wolfgang Huber, und aus diesen Kenntnissen keinerlei Schlußfolgerungen gezogen werden, sondern weiterhin auf einer Trennung von Ethik und Religionsunterricht bestanden wird. (Vgl. Huber 1996b, S. 84.)

[5] Christoph Demke  bezieht sich auf das Problem, wenn er schreibt: „Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Schule aus zurückliegenden Zeiten der alten Bundesrepublik werden eingeschleppt in eine Landschaft, die durch 40jährige Geschichte der DDR ganz anders geprägt ist.“ (Demke 1996, S. 209.) Vgl. auch Fauth, der diese Beobachtung anhand der Vorgänge im Berliner Konsistorium der EKBB dokumentieren kann.. (Fauth 2000, s. 276-280).

[6] Aus der Dastellung der Quellenlage bei Fauth wird deutlich, daß dies jedoch unbeschadet einer relativ restriktiven, jedoch eher passiven Haltung des Bischofs geschuldet war. (Vgl. Fauth 2000 S. 260ff.) Die Phase von 1990-1992 beschreibt Fauth als die „liberale“ Phase. Sicher nicht zufällig deshalb, weil hier der Ostteil der EKBB noch in relativer struktureller Selbständigkeit agierte (vgl. Fauth 2000 S. 239-244).

[7] Zur kritischen Würdigung der Position des Bischofs Huber (vgl. Fauth 2000 S. 263-271).

[8] Dafür, daß die Internalisierungsthese für Meyer-Blanck eine bedeutende Rolle spielt, spricht auch seine unbedenkliche Verwendung der Worte “geprägt” und der “jahrelangen Sozialisation”.

[9] So z.B. Huber 1996b, S. 87:  “Auch dies ist ein Reformkonzept. Es weicht beispielsweise an wichtigen Punkten von der Tradition in den alten Bundesländern ab. Dort wird dem Fach “Ethik”, wo es eingeführt ist, weithin nur der Status eines Ersatzfaches zuerkannt; im hier dargestellten Modell dagegen geht es um gleichberechtigte Fächer innerhalb eines Wahlpflichtbereichs.”

[10] Der Artikel 141 des Grundgesetzes bezieht sich auf das Bundesland Bremen, in dem auf dem Hintergrund einer langen Tradition 1905 bereits ein Religionskundeunterricht („Biblische Unterweisung“) eingeführt wurde und besagt im Wortlaut, daß der Religionsunterricht dort nicht verpflichtend ist wo: “am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.” Dies hat auch für Berlin Gültigkeit, das, aufgrund des Alliiertenstatus nach dem Krieg eine andere Regelung hatte.

[11] Dabei wäre zu berücksichtigen, daß von einer Ablösung des Religionsunterrichtes durch LER in Brandenburg eben nicht gesprochen werden kann. Hier gab es zuvor keinen Religionsunterricht.

[12] Sehr viel vorsichtiger formuliert Nipkow diese Problematik, wenn er schreibt: “Die pädagogische Schwäche des ersten Modells ist, daß es über einen informierenden, beschreibenden und wertneutral vergleichenden Unterricht im wesentlichen nicht hinausgehen darf, obwohl man dies erklärtermaßen möchte.” (Nipkow 1996b S. 64.) Seine Begründung ist jedoch keine wissenschaftstheoretische, wie bei Tiedtke & Wernet, sondern er argumentiert eher pragmatisch mit der gesetzlichen Verpflichtung zur Wertneutralität (nicht Wertefreiheit!). Auf dieses Bedenken gehe ich weiter hinten mit Überlegungen zum Charakter eines erziehenden Unterrichts ein.

[13] Vgl. Francis Schüssler Fiorenza 1992

[14] Reinhard Schilmöller legt plausibel dar, daß es keinen „inhaltlich bestimmten, materialen Kanon christlicher Normen und Werte (gibt, H.S.), der sich aus Bibel oder christlichem Sinnverständnis zwingend ableiten und im RU vermitteln ließe“, und kommt zu der Schlußfolgerung: „Prinzipiell kann der RU demnach auf die Fragen normativer Ethik keine andere Antwort geben als die anderen Unterrichtsfächer auch.“ Schilmöller 1998, S. 428.

[15] Ausgehend von dem Satz Nicolai Hartmanns; „Die Pädagogik setzt als erkannt voraus, was die Ethik erst zu erfassen sucht.“ stellt Klaus Prange (1993) am Ende seines Artikels über das „Erziehungsziel Gerechtigkeit“ fest: „Ein Lernen, das nicht mehr nur Gegebenes thematisiert, sondern Aufgegebenes zu artikulieren und zur Realisierung vorzubereiten sucht, bringt den Unterricht an seine Grenze.“

[16] Am Bsp. der thüringischen vorläufigen Lehrplanhinweise für das Fach Sozialkunde von 1991 habe ich diese Dimensionen eines Unterrichts mit bildendem und erziehendem Anspruch mit Hilfe des im DFG-Forschungsprojekt „Bildungstheorie & Unterricht“ entwickelten Kriterienkataloges aufzuzeigen versucht. Gescheitert ist dieser Versuch daran, daß auch diese Lehrpläne bildungs- und erziehungstheoretischen Ansprüchen nicht genügen. Wohl aber kann anhand des Gebrauchs der Kriterien deutlich werden, wo die Mängel dieser Unterrichtskonzeption liegen. Vgl.: Schluß 1999.

[17] Den ganzen Komplex des Bezuges von Selbstverhältnis und Gottesverhältnis erleuchtet in großer Schärfe die sehr informative und materialreiche Arbeit von Reinhard Kähler: Was Gottesbesinnung in den Seelenlauf einstreuen kann. Manuskript 1999. Hier auch interessante Aussagen dazu, wie sich Zweifel (eben auch durchaus durch rationale Religionskritik begründeter Zweifel) und Glauben zueinander verhalten, sich keineswegs ausschließen, sondern zu einem differenzierteren Glaubensstandpunkt beitragen können, der dennoch nie „zweifellos“ sein wird. (Dazu bes. Fußnote 56 mit Verweis auf Werbick 1995.)

[18] Besonders verwundert ein solches assoziatives Vorgehen bei zwei Autoren, die durchaus über Kompetenz in der Sache verfügen sollten, da sie Einblick in die Arbeit der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes LER von Achim Leschinsky hatten.

[19] ähnliches versuchen Doyé/Scheilke nachzuweisen, können aber nur aufzeigen, „daß Religion eine Dimension von Bildung für alle ist“ (Doyé/Scheilke 1997 S. 178). Dies jedoch ist ganz unstrittig. Es fragt sich jedoch ob daraus ein Pflichtfach Religionsunterricht ableitbar ist.

[20] Vgl.: Die bildende Kraft des Religionsunterrichtes 1996; Mette 1997, S. 207f. Die Auseinandersetzung mit der Haltung der katholischen Kirche zu LER macht den umfangreichsten Teil in der Arbeit Dieter Fauths „Religion als Bildungsgut - Sichtweisen weltanschaulicher und religiöser Minderheiten“ aus Fauth 1999.

[21] EKD 1994.

[22] Dagegen gibt es auch Stimmen, die einzig in einem überkonfessionellen oder gar interreligiösen RU eine zukunftsträchtige Perspektive sehen. Z.B. Gloy 1997.

[23] Auch hier gibt es natürlich Ausnahmen. So bemüht sich Nipkow 1996a, S. 135 explizit um diese Unterscheidung: “Zur Beurteilung sei zwischen faktischen Schwächen und grundsätzlichen Einwänden unterschieden...” Vgl. auch Nipkow 1996b, S. 61.

[24] Aber: „Doch solche Einzelfälle wie auch bestehende Ressentiments dürfen den Blick darauf nicht verstellen, daß die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kirchlichen Lehrkräften dort, wo sie zustande gekommen ist, aus der beiderseitigen Sicht insgesamt positiv bewertet worden ist“ (Leschinsky/Schnabel 1996, S. 49). Ganz anders die Einschätzung von Rolf Wischnath in seinem Vortrag vor dem evangelischen Arbeitskreis der CDU. “Es sind diese Mitarbeiter mit diesen Benachteiligungserfahrungen gewesen - Ihre ehemaligen Katechetinnenkolleginnen und - Kollegen, Frau Birthler -, die das Konsistorium unserer Kirche gedrängt haben, angesichts neuer unmöglicher Bedingungen für sie in brandenburgischen Schulen auszusteigen aus dem Modellversuch.” (Wischnath 1996, S.7.) Einen Beleg für das zahlenmäßige Verhältnis bringt er jedoch nicht.

[25] Der Lehrerbildung widmet Dieter Fauth ein ganzes Kapitel (Fauth 2000, S. 123-234).

[26] Karl Ernst Nipkow spricht deshalb in der Zeitschrift für Theologie von LER pejorativ als “Einheitsmodell”, das einheitlich im doppelten Sinne sei, einerseits wegen seiner “vereinheitlichenden religionswissenschaftlich- religionskundlichen Betrachtungsweise” zum anderen alle Schülerinnen zur Teilnahme verpflichten möchte (Nipkow 1996a, S. 130). Dagegen führt er im Artikel in der Zeitschrift für Pädagogik nur den zweiten Grund für die Benennung als “Einheitsmodell” auf, das andere Argument wird außerhalb des Benennungszusammenhanges genannt (Nipkow 1996b, S. 59).

[27] Die Formulierung dafür im Schulgesetz ist allerdings zumindest recht eigentümlich. Dort steht, daß bei einem „wichtigen Grund“ eine Befreiung ausgesprochen werden kann. Darüber, was ein wichtiger Grund ist, befindet das Schulamt. Ein Manko, auf das Wolfgang Huber zu Recht immer wieder hinweist (z.B. Huber 1996a).

[28] So an prominenter Stelle die Bischöfe Wolfgang Huber und Georg Kardinal Sterzinsky in der “Gemeinsamen Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und des Erzbistums Berlin zum Entwurf des brandenburgischen Landesschulgesetzes”: “... Bei der Teilnahme am Religionsunterricht können Schülerinnen und Schüler von der Teilnahme an LER befreit werden. Damit hat die Landesregierung anerkannt, daß ein staatliches Fach im Bereich wertorientierten Unterrichts nicht mit einem Monopolanspruch ausgestattet werden kann. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. 2. Es ist aber inkonsequent, daß dann dem konfessionellen Religionsunterricht nicht eine gleichberechtigte Stellung zuerkannt worden ist.” (Huber/Sterzinsky 1996, S. 19.)

[29] Eine kritische Würdigung des Textes von Meyer-Blanck findet sich auch bei Fauth 2000, S. 553-558, bes. Anm. 1916.

[30] Anders die erste Bildungsministerin Marianne Birthler selber, die sich auch nur auf den didaktischen Erfahrungsbegriff bezieht. (Vgl.: Birthler 1992, S. 41.)

[31] Im Gegenteil spricht die im Rahmen der Lehrplanrevision in Brandenburg geplante Einführung von Zensuren in LER dafür, daß bestimmte pädagogische Lernziele definiert werden müssen, um überhaupt bewerten zu können. Vgl.: Berliner Zeitung Nr. 120, 27.Mai 1999.

[32] Ein Vorwurf, der, wenn er umgekehrt dem bundesrepublikanischen Religionsunterricht gemacht wird, in bewährter (eingangs beschriebener) Weise abgetan wird. So z.B. Wischnath 1994: “Viele Menschen im Osten sind verletzt von den Zerrbildern ihrer Biographie, die sie durch westliche Gönner in ihrer Würde bestritten sehen. Der  “Religionsunterricht” ist ein umgekehrtes Beispiel: Schwestern und Brüder im Osten, ihr wißt nicht, wovon ihr redet, wenn ihr den Religionsunterricht mit eurer ehemaligen Staatsbürgerkunde vergleicht!” Abgesehen davon, daß Wischnath den „Brüdern und Schwestern im Osten“ nicht einmal eine Biographie, sondern nur deren Zerrbilder zubilligt, sind solche gönnerhaften Sätze, die den Religionsunterricht als das schlechthin ganz andere, über jeden Indoktrinationsverdacht erhabene, darstellen, keine Seltenheit und bedürfen der Kommentierung wohl nicht. Zur bedeutenden Rolle von Wischnath im Streit um LER vgl. auch Fauth 2000, S. 382-391.

[33] Die konzeptionellen Texte aus dem Bereich der kirchlichen Pädagogik der DDR nach 1975 die mir bekannt sind gebrauchen das Wort ”Formung” nicht affirmativ. Ich wage zu behaupten, daß sie auch nicht so unbefangen mit ”Prägung” und ”Internalisierung” umgehen, wie dies Meyer-Blanck in dem zitierten Artikel tut. Gerade in der Einschätzung der Rolle der Arbeit mit Kindern und Konfirmanden in der Ev. Kirche der DDR lassen sich grundsätzliche Differenzen auch unter den LER-Kritikern ausmachen. So sehen Leschinsky und Meyer-Blanck gar keine strukturellen Unterschiede zwischen der Volksbildung, Konzepten kirchlicher Bildung und LER. Dagegen hebt Wolfgang Huber ausdrücklich auf die Herkunft von LER aus der kirchlichen Kritik am DDR Bildungssystem und auf der kirchlichen Alternative, der Christenlehre, zu eben diesem System ab. Dazu beruft er sich vornehmlich auf Texte der "Kommission für kirchliche Arbeit mit Kindern und Konfirmanden.“ (Huber 1996b, S. 85.) Dieter Reiher, einer der konzeptionell federführenden Mitarbeiter eben dieser Kommission jedoch, relativiert die Behauptung solcher Kontinuitäten sehr stark. (Vgl. Reiher 1996.)

[34] Anders Benner/Tenorth 1996, die vermuteten, daß mit dem Begriff “Lebensgestaltung” in LER die Kunde von dem einen, für alle anzustrebenden und gleichermaßen zu gestaltenden Leben gemeint sei (vgl. a.a.O. S. 6). Die Diskussionen um LER haben jedoch gezeigt, daß zumindest konzeptionell nicht in einen bestimmten Entwurf des Lebens eingeführt werden soll, sondern gerade in Lebenszusammenhänge in ihrer Pluralität. So schon Birthler 1992. Dennoch hat vermutlich gerade der Begriff der “Lebensgestaltung” Assoziationen zu Konzepten hervorgerufen, die um das Leben genau Bescheid wissen, in das es einzuführen gilt, nicht zuletzt auch durch die Begriffsnähe zu dem Fach, das der Humanistische Verein in Berlin als Alternative zum kirchlichen Religionsunterricht anbietet.

[35] Geradezu die entgegengesetzte These zu Meyer-Blanck und Leschinsky vertritt  Demke, wenn er schreibt: „Ein Fachbereich ‘Religionsunterricht – Ethik – LER – Philosophie – Lebensführung‘ oder wie auch immer genannt und gestaltet, der das Ziel verfolgt, das Informationsangebot um weitere Sektoren zu verbreitern, deren Notwendigkeit sich natürlich ohne weiteres erweisen ließe, wäre eine verfehlte Sache. Ein Fächerbereich, der mit der Pflicht zur Wahl Gelegenheit bietet, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu stärken und Möglichkeiten zu finden, von sich authentisch zu sprechen, wäre ein integraler Bestandteil der Bildungsaufgabe und des Bildungsangebotes der Schule, wenn es gelingt – freilich nur dann -, ihn aus dem Interessengerangel der Selbsterhaltung der Institutionen und der Selbstachtung der sie repräsentierenden Personen freizumachen“ (Demke 1996, S. 212).

[36] Vgl. auch: Benner 1996, S. 207ff. und  Benner 1985.

[37] Bernd-Rainer Fischer stellt die These auf, daß im Prinzip der Schule immer auch schon Grenzen von Indoktrination angelegt sind. Das gilt für einen wertethematisierenden Unterricht wie für andere Fächer gleichermaßen: “Die Schule ist eine, wenn nicht die Institution, an der Indoktrination systematisch an ihre Grenzen stößt, vielleicht sogar prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist, insofern in ihr nicht verhindert werden kann, daß auch das Lernen und das Denken gelernt werden.” Fischer 1995 S. 97.

[38] Ebenso muß jedoch auf eine andere Gefahr aufmerksam gemacht werden, die dann droht, wenn der Religionsunterricht als pure Besitzstandswahrung fort- (oder ein-) geführt wird. Eine Gefahr, die ja nicht nur durch die absoluten Zahlen handgreiflich ist, sondern noch deutlicher wird, wenn man bedenkt, daß die beiden Kirchen es in Brandenburg nicht einmal schaffen, einen interkonfessionellen Religionsunterricht anzubieten. Deshalb die Mahnung: „In LER würde einer bloßen Ethisierung der Religion in demselben Maße zu begegnen sein wie einer bloßen Ritualisierung des Religiösen“ (Schorlemmer 1996).

[39]Eine ähnliche Kritik bei Nipkow 1996a, S. 134, der kritisiert, daß authentische Vertreter “nicht zu selbständiger Übernahme von Unterrichtssequenzen befugt...” gewesen seien.

[40] So meinte Richard Schröder: „Man kann Werterziehung ganz gut mit dem Spracherwerb vergleichen. Jeder Mensch muß zuerst eine Muttersprache lernen, danach erst kann er Fremdsprachen lernen...“ (Schröder 1995a). Auch wenn man von einer erklecklichen Anzahl von Kindern absieht, die bilingual aufwachsen, ist der Vergleich mit der Muttersprache unzutreffend. Die Muttersprache heißt deshalb Muttersprache, weil sie im familiären Umfeld in den ersten Lebensjahren erlernt wird. LER jedoch ist ein schulisches Unterrichtsfach, das mit Beginn der Sekundarstufe I eingeführt wird. Familialer Werthaltungssozialisation steht der schulische Unterricht also nicht im Wege. Auch der Fremdsprachenunterricht beginnt übrigens in dieser Klassenstufe. Weiterhin stellt die Transaktionsanalyse ein Modell der Herausbildung von Werthaltungen im familialen Umfeld vor, das den Vergleich mit dem Erwerb der einen Muttersprache gewichtige Bedenken entgegenstellt. Die Wertesettings, die wir in frühester Jugend schon angeboten bekommen, internalisieren wir nicht nur vom Vater (wie Freud noch die Bildung des ÜberIch beschrieb), sondern beide Eltern bieten ihre je eigenen Werthaltungen dar. Diese hatten sie je wieder von beiden Eltern, so daß dies allein schon sechs unterschiedliche Wertensemble ausmacht, die ganz unterschiedliche „Muttersprachen“ darstellen.

[41] So zeigt es Gert Ottos Analyse des immer wieder als „zukunftsweisend“ bezeichneten EKD-Papiers: „Identität und Verständigung”: „Daß das, was die Denkschrift unter Kooperation  versteht, sehr begrenzt ist, wird am Ende deutlich. Dort heißt es: Die  ‚Unverwechselbare Eigenständigkeit jedes Faches ist besonders angesichts der inhaltlichen Überschneidungen zu betonen‘“ (Otto 1995, S. 22-23).

[42] Wenn sich Leschinsky in dem Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung dennoch für eine Abfolge von vorauslaufendem gesondertem Religionsunterricht und einer nachfolgenden “Verbindung, wechselseitiger Durchdringung und gegenseitiger Ergänzung“ ausspricht, tut er dies nicht etwa aus schultheoretischen Schlußfolgerungen, sondern explizit aus “rechtlichen und politischen” Überlegungen heraus (Leschinsky u.a. 1995, S. 342). Wolfgang Huber beruft sich also zu unrecht auf diesen Passus, wenn er ihn für einen inhaltlich motivierten ausgibt (Huber 1996b, S. 88).

[43] Dieser Punkt stößt an eine Debatte, in der sehr unterschiedlich argumentiert wird: Richard Schröder bezeichnet einen Zustand des Selbst-wählens als nicht wünschenswert: „Die Idee, den Kindern ein breites Menü verschiedener Religionen anzubieten, damit sie wählen können – soll das heißen: Moslems, Buddhisten oder Christen werden können? oder soll sich jeder seine eigene Religion basteln? – das ist die Idee einer weltanschaulichen Konsumentenerziehung, nicht aber Werterziehung. Sie führt zur Beliebigkeit und Wertlosigkeit, Weltanschauung als Modeartikel. Das gibt es längst, wie die Esoterikläden beweisen. Es ist aber nicht wünschenswert“ (Schröder 1995a).

Eine andere prominente Stimme aus der DDR Kirchenlandschft, Christoph Demke meint dagegen: „Und an nichts muß der Schule in den östlichen Bundesländern mehr gelegen sein als an Spielraum für die Übung eigener Entscheidung und Selbstbestimmung.“ (Demke 1996, S. 211)

Die soziologische Diskussion könnte helfen das Problem zu erhellen, auch wenn sie es nicht einheitlich sieht: So weist z.B. Pollack 1996a, S. 604ff. und Pollack 1996b nach, daß die Kinder überwiegend der Konfession der Eltern treu bleiben, wenn die Eltern jedoch zu einer konfessionellen Minderheit gehören, zu dem im gesellschaftlichen Umfeld dominierenden Bekenntnis wechseln. Das bedeutet, daß die Mehrheit der Kinder konfessioneller Eltern im Osten konfessionslos werden und im Westen die Mehrheit der Kinder konfessionsloser Eltern wieder der jeweilig dominanten Konfession beitreten. Die Erklärung, die Detlef Pollack dafür findet, ist frappant: es ist die Individualisierung. Diese wirke nämlich keineswegs nur befreiend, sondern stelle die Menschen unter einen andauernden Entscheidungszwang. Dieser Zwang wird als Druck empfunden und insofern ist die Mehrheit dankbar, daß es einen Bereich im Leben gibt, die Religion, in dem sich nicht dauernd entschieden werden muß. Dies Ergebnis würde Richard Schröders Wünsche durchaus empirisch stützen. Sieht man jedoch tiefer und fragt, wie denn eine solche, dem Anschein nach traditionelle Konfessionalität gefüllt wird, so kommen die Untersuchungen zu dem erstaunlichen Ergebnis, daß wie, diese Bekenntnisse jeweils persönlich gefüllt sind, keineswegs mit traditionellen theologischen Formen übereinstimmt, sondern hochindividuell formuliert wird. (Vgl.: Jörns 1997; EKD 1998.; DER SPIEGEL 1996, S. 148-153).

Auch Pollack kommt übrigens zu einem Ergebnis, das Schröder kaum begeistern dürfte: Die größten Kunden der  Esoterikläden sind nämlich nominelle Mitglieder der Kirche (die Gruppe der sogenannten Halbdistanzierten) (Vgl. Pollack 1996a; Pollack 1996b; Pollack 1997). Die eigene Entscheidung für oder gegen eine Religion oder Weltanschauung und ihre eigene innere Ausgestaltung mag zwar für manche nicht wünschenswert erscheinen, sie ist dennoch ein Faktum der Moderne, auf das auch in Unterricht und Schule Bezug genommen werden muß. Wenn Richard Schröder einerseits klar verneint, daß der Religionsunterricht zum Glauben erziehen solle, er andererseits aber Werterziehung mit dem Erlernen einer Muttersprache vergleicht, zum dritten meint, daß ein breites Menü verschiedener Religionen nur Konsumentenerziehung sei und deshalb in die eine Religion/Konfession einzuführen sei, ist er zumindest die Erklärung schuldig, wie eine solche Gratwanderung gelingen kann.

[44] Die Wortwahl lehnt sich an Wischnath 1994, S. 2 an: „Unterricht als religiöse Zooveranstaltung! die „authentischen Vertreter“ der Religionen als Vorführobjekte!“