Henning Schluß                                                       www.henning-schluss.de

 

Der Zusammenhang von Herkunft  und Bildungserfolg wird als naturgegeben gesehen. - Die Bildungsphilosophie fällt hinter ihre eigenen Ansprüche zurück. Eine Entgegnung auf Konrad Paul Liessmanns Kritik an der PISA-Studie.

 

In: FAZ, 20.01.2011, Nr. 16,  S. 6.

 

Mit seiner Kritik an PISA steht Konrad Liessmann unter Bildungsphilosophen nicht allein. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich diese Kritik mit großer Verve gegen ein Forschungsvorhaben richtet, das die Bildungskatastrophe, die Picht 1964 ausrief, empirisch erhärtet.

Der zentrale Topos der Kritik ist dabei, dass das was PISA messe, nicht Bildung sei, sondern nur Kompetenz. Unter Bildung versteht die Bildungsphilosophie im Anschluss an Humboldt ein In-Beziehung-Setzen des Selbst zur Welt, das auf dieses Selbst verändernd zurückwirkt. Ein solcher Bildungsbegriff werde von Pisa unterboten. Liessmann kritisiert darüber hinaus den Dual von Kenntnissen und Kompetenzen. Pisa messe nurmehr diese Fähigkeiten zum Problemlösen, frage aber nicht mehr nach Wissen. Hieran ist mehreres falsch.

Pisa verwendet einen Wissensbegriff, der Kenntnisse und den Umgang mit diesen Kenntnissen umschließt. Zentral für diesen Wissensbegriff ist, dass es (im Unterschied zu Intelligenztests) um erlernbare Fähigkeiten geht. Dass zwischen diesem Wissensbegriff von Pisa und dem Humboldtschen Bildungsbegriff eine Differenz besteht, ist unstrittig. Zu konstatieren ist jedoch, dass es Pisa gelingt, nicht nur gepaukte Kenntnisse abzufragen, sondern darüber hinaus den verstehenden Umgang mit erlerntem Wissen zu erheben. Bildungsphilosophen müssten insofern zugestehen, dass Pisa eine notwendige Bedingung von Bildung im neuhumanistischen Sinne erhebt.

Ein weiteres Missverständnis Liessmanns ist die Verwechslung von zwei unterschiedlichen Kompetenzbegriffen. Es ist richtig, dass in der Pädagogik seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts viel von den sogenannten „Schlüsselkompetenzen" die Rede war. Dabei ging es um die großen Weltprobleme, die Erwachsene nicht lösen konnten und die nun an die Kinder delegiert wurden. Diese Schlüsselkompetenzen, etwa des Umweltschutzes, waren fachübergreifend konstruiert. Pisa zielt dagegen auf fachspezifische Kompetenzen, die jeweils den Kernbereich eines Unterrichtsfaches betreffen. Viel eher könnte man also die Enge dieses Kompetenzbegriffs als seine Weite kritisieren.

Liessmann findet den Aufwand, den die Pisa-Forschung betreibt, bedenklich. Ebenso bedenklich sind aber der mentale Aufwand und das Ausmaß der Erregung, mit dem sich Bildungsphilosophen gegen das Zur-Kenntnis-Nehmen der Pisa-Ergebnisse sträuben. Zu den Gründen für diese weithin anzutreffende Ablehnung der Pisa-Ergebnisse durch die Bildungsphilosophie könnte es mehrere Ursachen geben.

Die Bildungsphilosophie (Fachterminus: Allgemeine Pädagogik) verstand sich immer als die Königsdisziplin der Erziehungswissenschaft. Sie legte die Grundlagen der Pädagogik von der Erwachsenenbildung bis zur Kleinkindpädagogik. Von diesem Thron wird die Allgemeine Pädagogik durch eine empirische Bildungsforschung verstoßen, die immer mehr zur Grundlage aller pädagogischen Teildisziplinen zu werden scheint. Der zentrale Modus der Bildungsphilosophie war seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (mit Ausnahme der Pädagogik in der DDR) die Kritik. Gerade auf diesem Kernfeld der Bildungsphilosophie betätigt sich nun die empirische Bildungsforschung. Das ist aus mindestens drei Gründen für die Allgemeine Pädagogik besonders schmerzlich.

Die empirische Bildungsforschung ist mit ihrer Kritik - im Unterschied zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft - erfolgreich. Es hat keine 10 Jahre Pisa-Untersuchungen gebraucht, da sind die Bildungssysteme in Deutschland und Österreich tiefgreifender Reformen unterzogen worden. Doch die Kritik an überkommenen standesgesellschaftlich anmutenden Bildungsinstitutionen wird nicht deshalb falsch, weil sie neuerdings auch von anderer Seite geäußert wird. Es bleibt doch die uralte Erkenntnis des Comenius richtig, dass alle alles auf jede Weise zu lehren sei.

Zweitens wird diese Kritik am Bildungssystem gerade von der Empirischen Bildungsforschung geübt, die nach Überzeugung der Bildungsphilosophie gar nicht zur Kritik befähigt ist. Denn empirische Forschung könne ja nur beschreiben was ist, während es die Philosophie sei, die beschreibt, was sein soll. So wird immer wieder das Argument des „naturalistischen Fehlschlusses" bemüht, um zu denunzieren, dass die empirische Bildungsforschung doch zu der Kritik gar nicht berechtigt sei, die sie so erfolgreich übt. An Pisa bemäkelt diese Kritik Erhebungsmethoden, die, wenn sie in dem geforderten Sinne verbessert würden, möglicherweise Verschiebungen in der Stelle nach dem Komma brächten, aber doch an dem eigentlichen Skandal nichts ändern würden, dass etwa ein Viertel eines Jahrganges nicht sinnerfassend lesen kann. Aber zumindest implizit liegt Pisa eben auch eine demokratiekompatible Bildungstheorie zu Grunde, indem nämlich keine und keiner systematisch von seinem Recht auf Bildung ausgeschlossen werden darf. Genau das geschieht jedoch, wenn ein Viertel eines Jahrgangs von 15 Jahre alten Jugendlichen nicht sinnerfassend lesen kann. Und wenn dafür nicht etwa mangelnde Leistungsbereitschaft, sondern sehr schulferne Faktoren, wie der Bildungshintergrund oder Migrationserfahrungen der Eltern der beste Indikator sind, dann ist etwas faul im Bildungssystem der Staaten Deutschland und Österreich und weniger des Staates Dänemark.

Vor dem Hintergrund einer tiefsitzenden Skepsis gegen den Einfluss der Ökonomie mit ihren kurzfristigen Verwertungsinteressen auf das Bildungssystem, gerät es zum durchschlagenden Argument gegen Pisa, dass diese Untersuchung von der OECD, als einer „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung" getragen wird. Genährt wird diese Skepsis auch von der Ausrichtung des Testkonzepts, das bemüht ist Fähigkeiten zu erfragen, die Voraussetzungen zu einer in gesellschaftlicher, persönlicher und ökonomischer Hinsicht befriedigenden Lebensführung sind. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft offenbar selbst ein verstärktes Interesse an eben diesen Bildungsfragen entwickelt.

An der bildungsphilosophischen Warnung gegenüber dem Einfluss der Wirtschaft auf das Bildungssystem ist deshalb vieles berechtigt, weil sich die Ökonomie gegenwärtig am stärksten expansiv auf andere Handlungslogiken verpflichtete Zusammenhänge einwirkt. Dahinter steht die Erfahrung, dass die Ökonomie Menschen zur Heranbildung von fügsamen Arbeitskräften brauche. Allerdings hat der Bildungsphilosoph Heinz-Joachim Heydorn bereits in den sechziger Jahren einen gegenläufigen Effekt in dieser Beziehung prognostiziert.

Die moderne Wirtschaft sei aus ökonomischem Eigeninteresse zunehmend auf gut ausgebildete aber auch innovative Mitarbeiter angewiesen, die nicht nur Tätigkeiten ausüben, sondern Eigeninitiative zeigen. Die Anforderung, die aus der Ökonomie an das Bildungssystem gestellt wird, rückt deshalb sehr nah an das von der Bildungsphilosophie selbst formulierte Ziel des mündigen Menschen heran, der an der menschlichen „Mitgesamttätigkeit" (Schleiermacher) teilhaben kann. Ein solches Aneinanderrücken von Interessen, nimmt die Bildungsphilosophie jedoch nicht wahr, weil sie den Eigenwert von Bildung bedroht sieht. Alles was Bildung verzwecke, stelle eben diesen Eigenwert in Frage.

Die Bildungsphilosophie wäre gut beraten, statt vermeintliche Widersacher in der empirischen Bildungsforschung und sogar der Wirtschaft Verbündete zu entdecken, die es vermögen, alte bildungsphilosophische Anliegen mit einer Kraft zur Wirksamkeit zu verhelfen, die der Bildungsphilosophie allein trotz aller Marxschen Feuerbachthesen, nie zu Gebote stand.

Wenn die Bildungsphilosophie nun diese Bestrebungen ablehnt, die sie selbst in ihrer damaligen Avantgarde gegen die Standesgesellschaft gefordert hat, nur weil alte „Feinde" mittlerweile von der Notwendigkeit eben dieser Forderungen - aus freilich anderen Gründen - überzeugt sind, dann fällt sie faktisch zurück in die Verteidigung eben jener standesgesellschaftlichen Strukturen, die sie einstmals mutig kritisiert hat. Während die Ökonomie längst eine Umstrukturierung des öffentlichen Bildungssystems fordert und Schritte auf diesem Weg durchsetzt, verteidigt die Bildungsphilosophie die Zusammenhänge von Herkunft und Bildungserfolg als anscheinend naturgegebene Tatsache. Damit verabschiedet sie sich von den besten ihrer Traditionen des Streites für das Recht auf Bildung unabhängig vom Vermögen und Wollen der Eltern und redet faktisch einer Gesellschaft das Wort, in welcher der Stand der Eltern bestimmt, was den Kindern zu werden möglich ist. Schlimm genug, wenn Pisa zeigt, dass dies auch unter demokratischen Bedingungen in Deutschland und Österreich für viel größere Bevölkerungsgruppen als in anderen Ländern der Fall ist.