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17.06.2010

GESELLSCHAFT: Über-Leben im Umbruch

Das Wittenberge-Projekt und was wir daraus lernen können / Wohlwollendes Fazit einer Alltagsstudie

Wittenberge in der Prignitz ist keine außergewöhnliche Stadt in Brandenburg oder überhaupt in den neuen Bundesländern. Gerade diese Vergleichbarkeit ist es, die von einem interdisziplinären Forschungsprojekt von Sozialwissenschaftlern und Theater-Leuten Ergebnisse erwarten ließen, die weit über diese Stadt hinaus bedeutsam sein können. Die Ergebnisse wurden in der vergangenen Woche in Berlin präsentiert. Außergewöhnlich dabei war schon die Form der Präsentation. Es gab nicht nur die wissenschaftliche Veranstaltung im Collegium Hungaricum, sondern gleichzeitig verschiedene künstlerische Projekte im Maxim-Gorki-Theater, die die Ergebnisse der Forschung als Steinbruch für unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen nutzten.

Immer wieder wurde das Wittenberge-Projekt verglichen mit einem legendären Projekt der sozialwissenschaftlichen Forschung, das unter dem Titel „Die Arbeitslosen von Marienthal“ bekannt geworden ist und in den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts eine Kommune, die besonders von Arbeitslosigkeit betroffen war, wissenschaftlich vermessen hat. Heinz Bude, der Leiter des Wittenberge-Projekts, hat immer wieder betont, dass eine solche konstatierende Sozialforschung, die die Betroffenen zu Beobachtungsobjekten macht, nicht mehr den wissenschaftlichen Realitäten unserer Zeit entspricht.

Die Soziologie sage nicht mehr, wie es in Wirklichkeit sei, sondern sie sei eine Perspektive auf diese Wirklichkeit neben anderen. Vor allen Dingen die Perspektive der Betroffenen selbst. Das gelang zum einen durch die Auswahl der Forschungsmethoden, die nicht nur die Welt von Wittenberge vermaßen, sondern auf die Berichte der Wittenberger hörten, die über lange Zeit zu vertrauten Gesprächspartnern der Forscher wurden. Beabsichtigt war aber auch, die Forschungsergebnisse den Wittenbergern selbst zugänglich zu machen. Dazu waren die Künstler da, aber auch Medien wie das „Zeit-Magazin“, die Zusammenarbeit mit Fotografen wurde dafür genutzt und verfehlte ihre Wirkung nicht. Entrüstete Proteste zeigten, dass die Forschung von den Erforschten wahrgenommen worden war. Auch dieser Widerspruch war gewollt, als ein Teil des Kommunikationsprozesses zwischen Wissenschaft/Kunst und Öffentlichkeit.

Hier wurde ganz unbemerkt ein neues Kapitel der sozialwissenschaftlichen Forschung aufgeschlagen, ein Kapitel, in dem sich die Forschung selbst nicht mehr eine Bedeutung über alle anderen Formen der Weltzugänge hinaus zuschreibt. Sie erhebt nicht mehr den Anspruch, wahrer als die Kunst oder das Selbstverständnis der Menschen zu sein, sondern sie ist ein Partner in einem Interpretationszusammenhang, vielleicht ein Partner, der etwas Spezifisches beizutragen hat, der Überblicke und Systematisierungen dort versuchen kann, wo die Akteure selbst im Agieren dafür den Blick nicht frei haben. Anders als die künstlerischen Formen sind sie darauf angewiesen, nicht nur Einzelfälle ergreifend darzustellen, sondern auf Begriffe zu bringen.

Die kleinen Einzelstudien machten diesen Anspruch par excellence deutlich. Zum Beispiel zeigte die Studie über die Kleingärtner, welche Bedeutung diese in Wittenberge haben. Sie stellen in der Stadt „eine Macht“ dar. Allerdings ist Kleingärtnern nichts, mit dem man Geld sparen könnte (wie vielfach die Vorschläge aus der Politik an Arbeitslose unterstellen), sondern Kleingärtnern ist teuer. Nicht nur die jährliche Pacht will aufgebracht sein, sondern auch die Samen und Pflanzen gehen ins Geld, erst recht, wenn man jeden Cent zweimal umdrehen muss. Da ist der Einkauf beim Discounter deutlich billiger als der Eigenanbau. Dennoch sind Kleingärten gerade bei denen, die sie sich eigentlich nicht leisten können, sehr beliebt.

Oft stehen sich hier „klassische“ Kleingärtner und nachwachsende Grillfreunde gegenüber. Den Schrebergartensparten fehlt es an Nachwuchs, aber die Jüngeren, die kommen, sind alles andere als willkommen. Warum tun sich die jungen Einkommensschwachen das dann überhaupt an? Weshalb nehmen sie den Unmut der „Gärtner“ in Kauf und beharren auf der Parzelle, die ihre Finanzkraft eigentlich bei weitem übersteigt? Die Antwort, die die Sozialforscher fanden, hätten die Betroffenen selbst vermutlich gar nicht geben können: Kleingärtner zu sein, bedeutet, in die Gesellschaft integriert zu sein, noch Teil der Gesellschaft zu sein, nicht zu den Ausgeschlossenen zu gehören, auch wenn man keine Arbeit mehr hat.

Arbeit ist einer der mächtigsten Integrationsfaktoren unserer westlichen Gesellschaft, aber eben nicht der einzige. Wenn sie wegfällt, dann müssen andere integrierende und damit sinnstiftende Tätigkeiten her.

Dazu gehört in besonderer Weise auch das Einkaufen, der Konsum. Kaufen zu können, bedeutet ebenfalls, noch dazuzugehören, teilzuhaben – und sei es an der Warenwelt. Dieses Einkaufen allerdings ist kein Lustkaufen, sondern streng durchkalkulierte Arbeit, sogenanntes Discounting. Es geht darum, mit einem hohen Maß an Planung beim Einkauf Cent-Beträge einzusparen – was freilich bedeutet, viele Läden anzufahren. Somit wird nicht nur Zeit verbraucht (die sonst im Übermaß zur Verfügung stünde), sondern über die Teilnahme am Konsum die Zugehörigkeit an der Gesellschaft markiert. Wenn durch optimales Discounting im Laufe des Tages bares Geld gespart worden ist, dann entspricht das schon beinahe einer Erwerbsarbeit. Und so wird es hoch plausibel, fasste Anna Eckert ihre Forschungsergebnisse zusammen, „wenn nach einem anstrengenden Arbeitstag mit Discounting im Garten am Abend zur Erholung der Grill angeworfen wird“.

Wie nebenbei kommt noch heraus, dass die Einschätzung, Arbeitslose würden ihre Tage ungenutzt verdämmern, nicht von der Forschung unterstützt werden kann. Vielmehr zeigte sich, dass es hoch komplexe Tagesabläufe gibt, die stark strukturiert und geplant sind. Selbst für die Interviews standen den arbeitslosen Wittenbergern nur enge Zeitfenster zur Verfügung, weil dann die nächste Verpflichtung, vom Kartenspieltreff über den Sozialamtstermin oder eben das Einkaufen anstand.

Was hat diese Forschung nun gebracht? Manche Berichte erwecken den Eindruck, sozialwissenschaftliche Forschung sei nur erfolgreich, wenn am Ende die Arbeitslosigkeit halbiert ist oder zumindest eine klare Option zum Handeln beschrieben wurde. Das verkennt allerdings die Aufgabe der Soziologie, die in erster Linie eine beschreibende ist. Es geht darum, unser Zusammenleben so zu beschreiben, dass Strukturen, die in unserem Handeln unbewusst verborgen liegen, aufgedeckt und somit überhaupt erst einmal verstehbar werden. Dass die Soziologie kein Monopol auf solche kollektiven Handlungsdeutungen mehr hat, diese Einsicht hat das Wittenberge-Projekt vielleicht erstmalig auch praktisch berücksichtigt. Schon deshalb ist seine Bedeutung kaum hoch genug einzuschätzen.

Nachweisbar wurde, dass viele Versprechen, die die Gesellschaft und insbesondere die Politik immer wieder gern gibt, zum Beispiel, durch eine gute Ausbildung hätte man gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, für manche Teile Deutschlands nicht mehr zutreffen. Wer nicht weggeht aus Wittenberge, hat dort kaum eine Chance.

Allerdings zeigen die blitzlichtartigen Vergleiche mit anderen Städten, die durchaus ähnliche Ausgangspositionen haben, dass dort anders mit den Problemen des Umbruchs umgegangen wird. Städte wie etwa Beeskow (Oder-Spree-Kreis) würden den Weg zur insgesamten Musealisierung beschreiten, ein Weg, der Wittenberge in seinem Selbstbewusstsein als Industriestadt ebenso versperrt ist, wie die Option sächsischer Städte, die Eigeninitiativen massiv fördern und dabei auch ungewohnte Ideen anpacken. In Wittenberge denkt man da eher in vertrauten Bahnen und stand zum Beispiel der Ansiedlung von ökologischen Energieformen eher skeptisch gegenüber. Das Geschäft machen nun private Betreiber, und der Gewinn geht an der Kommune vorbei.

Die Chance des Wittenberge-Projekts besteht zum einen für die Wissenschaft darin, dass sie lernt, auf die Stimmen aus der Region zu hören und diese als eine gültige Interpretation ernst zu nehmen. Zum anderen besteht aber auch die Chance der Wittenberger, an der einen oder anderen Stelle doch noch einmal genauer hinzuhören, was die Wissenschaftler zum Beispiel über subtile Prozesse der Teilhabe herausgefunden haben, wie wichtig das für eine städtische Gesellschaft ist und wie man solche Prozesse unterstützen könnte. Wie wäre es zum Beispiel mit ermäßigten Sätzen für die Schrebergartenpacht?

Henning Schluß (41) ist Erziehungswissenschaftler und Theologe und bei der Evan- gelischen Kirche zuständig für Bil- dungsfragen in Brandenburg. Zu- dem ist er Lehrbeauftragter u.a. der Universitäten Pots- dam und Wien. (Von Henning Schluß)


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