Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung  04

26.01.2007


 

Henning Schluß

Der ökonomische Schlüssel passt nicht immer

 



LEITGEDANKE VERWERTBARKEIT*In den Entwürfen für das neue SPD-Grundsatzprogramm wird bislang so getan, als seien Wirtschaft und Gesellschaft dasselbe

In der Debatte um das neue Grundsatzprogramm der SPD ist ein zentraler Begriff der des "Vorsorgenden Sozialstaats". Dabei ist durchaus auch innerhalb der SPD höchst umstritten, was mit diesem wohlklingenden Begriff denn gemeint sein könnte. In dem Beschluss des Parteivorstandes von Anfang Januar ist dazu zu lesen: "Das Leitbild unserer Politik für mehr soziale Sicherheit ist der Vorsorgende Sozialstaat. Wir wollen durch vorausschauende Sozialpolitik die Menschen dabei unterstützen, ihr Leben selbst bestimmt zu meistern und ihre Perspektiven zu verwirklichen. Dazu wollen wir stärker aktivierende, präventive und investive Ziele in den Mittelpunkt stellen. Der Vorsorgende Sozialstaat soll Existenz sichernde Erwerbsarbeit, gute Erziehung und Bildung fördern, die Gesundheitsprävention weiter stärken. Er muss Armut und Ausgrenzung jeglicher Art verhindern. Der Vorsorgende Sozialstaat hat die Aufgabe, die Menschen in jeder Lebenslage in die Gesellschaft zu integrieren." (Bremer Erklärung)

In einem Grundsatzpapier sollen freilich möglichst viele Strömungen eingebunden werden und sich darin wiederfinden können. Wollen wir zunächst das formulierte Anliegen ernst nehmen und nicht an der realen Politik der SPD in Regierungsverantwortung messen, die den Vorsorgenden Staat immer mehr seiner Aufgaben entbunden und Risiken individualisiert hat. Liest man dann weiter, sieht man, dass das zentrale Konzept des Vorsorgenden Sozialstaates erst ganz am Ende der Bremer Erklärung auftaucht - und mit den Kernthemen des alten Sozialstaates gefüllt wird: "Wachstum, Arbeit und Sicherheit". Da sich dessen Rezepte allerdings schon etwas verbraucht haben, führt eine solche Sicht der Dinge zuweilen zu sehr vertrackten Sätzen, mit unfreiwilliger Komik: "Das Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland ist gerade nach Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit von großer Bedeutung."

Bildungspotenziale ausschöpfen

Neben diesem eher traditionellen Flügel will ein Reformflügel mit Matthias Platzeck an der Spitze den Vorsorgenden Sozialstaat mit ganz neuen Inhalten füllen. Dies zeigt sich zum Beispiel in dem Papier, das Platzeck gemeinsam mit dem SPD-Chef von Sachsen-Anhalt, Jens Bullerjahn, verfasst hat: Mehr Lebenschancen für mehr Menschen (siehe auch Freitag 46/2006). Die beiden Autoren zeichnen das Bild eines Vorsorgenden Sozialstaats, der Individuen unabhängig von ihrer ethnischen und sozialen Herkunft gleiche "Lebenschancen" einräumt und damit die Chance auf die Teilhabe am ökonomischen Prozess allen ermöglicht. Diese Nivellierung der Lebenschancen soll vor allem durch die Förderung einer menschlichen Praxis erreicht werden, die dem Bremer Papier keine Überschrift und nur einen kleinen Absatz wert ist, durch die Bildung. Ein solches Ansinnen ist im Lichte der immer wieder desaströsen Ergebnisse Deutschlands bei internationalen Schulleistungsvergleichsstudien hoch an der Zeit. Schließlich gibt es in kaum einem anderen Land der OECD einen so engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg wie in Deutschland. Es ist paradox, dass in einer Ökonomie, in der Lernen und Weiterlernen oder gar lebenslanges Lernen zu zentralen Begriffen und geforderten Tatbeständen geworden sind, Kinder aus bildungsfernen Schichten in der Chancenlosigkeit verharren. Wenn im Platzeck/Bullerjahn-Papier dann allerdings steht: "Alle Bildungspotenziale müssen ausgeschöpft werden", fragt man sich, wie diese imperativische Vorgabe gewährleistet werden will. Soll die Idee des Erziehungsstaates wiederbelebt werden? Bildung bleibt nach wie vor eine Sache des sich bildenden Subjekts. Gewiss schöpfen wir alle nicht unsere Bildungspotenziale voll aus, wenn wir zuweilen lieber fernsehen, als ein schlaues Buch zu lesen. Richtig ist aber, dass alle Menschen ein Recht darauf haben, als solche sich bildende Subjekte verstanden, angesprochen und angeregt zu werden, so dass man formulieren könnte: "Bildungspotenziale dürfen nicht künstlich brachgelegt werden, durch Strukturen, die Benachteiligungen manifestieren."

So unterschiedlich in den beiden Entwürfen an gesellschaftlich drängende Probleme herangegangen wird, entwerfen doch beide ein Bild vom Menschen, das diesen weitgehend auf seine ökonomische Funktion reduziert. Beinahe alle Argumente im Kontext von Bildung beziehen sich auf wirtschaftliche Überlegungen. In den vorliegenden Entwürfen wird so getan, als sei die Ökonomie schon die Gesellschaft. Die Bremer Erklärung des Parteivorstandes erwähnt Bildung überhaupt nur an einer Stelle, nämlich in ihrer Funktion als ökonomischer Schlüssel: "Eine innovative und wettbewerbsfähige Wirtschaft braucht deutlich mehr Investitionen in Bildung, berufliche Aus- und Weiterbildung, Forschung und Infrastruktur. Wissen und Ideen sind unverzichtbar für unsere Arbeitsplätze. Weil wir in den meisten Märkten nicht im Kosten-, sondern nur im Qualitätswettbewerb bestehen können, müssen wir den weltweiten Spezialisierungs-, Qualitäts- und Innovationswettbewerb annehmen. Wir setzen auf eine Industriepolitik, die Forschung und Produktentwicklung eng miteinander verzahnt. Wir brauchen eine Standortdebatte in Deutschland, die die Bedingungen für einen Qualitätswettbewerb in den Mittelpunkt stellt." Eine solche reduzierte Auffassung von Bildung ist jedoch ein verhängnisvoller Kurzschluss, vor allem, weil sie auf einer Logik der Verwertbarkeit basiert, die - abgesehen davon, dass sie eindimensional ist - in Zeiten von anhaltender Massenerwerbslosigkeit kaum mehr aufrecht erhalten werden kann.

Das Platzeck/Bullerjahn-Papier setzt ebenfalls den Akzent auf Produktivität: "Dabei wird jedes heutige Kind, jeder einzelne junge Mensch in Zukunft als produktive Arbeitskraft, als Steuer- und Beitragszahler sowie als aktiver Bürger unserer Demokratie ganz dringend benötigt." Erst an letzter Stelle wird der "aktive Bürger unserer Demokratie" genannt. Wird denn das künftige Parteiprogramm der SPD vor allem für die Wirtschaft geschrieben? Schon durch eine kleine Umstellung, nämlich die Erstnennung und Hervorhebung des Bürgers als mitgestaltendes Glied unserer Gesellschaft, ließe sich der gesellschaftliche Horizont dieser Aussage deutlich über ökonomische Zusammenhänge hinaus erweitern.

Falsches Versprechen

Problematisch sind diese Aussagen aber vor allem auch inhaltlich, denn hier wird ein Versprechen abgegeben, das die SPD aller Voraussicht nach nicht wird einlösen können. Wir müssen uns wohl eingestehen, dass ohne eine grundlegende Umgestaltung des ökonomischen Teilsystems, die Aussage eben nicht zutrifft, weil nicht "jedes heutige Kind, jeder einzelne junge Mensch in Zukunft als produktive Arbeitskraft" gebraucht werden wird, selbst wenn die Arbeitslosenzahlen unter die Vier-Millionen-Grenze gesunken ist. Es ist derzeit auch bei noch so viel Bildungsinitiative nicht abzusehen, wie die strukturelle Erwerbslosigkeit abgeschafft werden könnte.

Vielmehr ist es schon jetzt so, wie Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen, dass durch Maßnahmen wie Studiengebühren mehr Abiturienten in die Ausbildungsberufe drängen, dort die Realschüler vertreiben, und diese wiederum den letzten Hauptschülern die Lehrstellen wegschnappen. Inzwischen sind in dem "Übergangssystem", was einst für diejenigen geschaffen wurde, die ohne Schulabschluss die Schule verließen, um für sie die Chance auf einen Ausbildungsplatz zu erhöhen, überwiegend Hauptschüler. Diese verbleiben oft auf diesem Niveau, erreichen also mitnichten höhere Bildungsabschlüsse, sondern das Übergangssystem nimmt Klienten lediglich für gewisse Zeit aus der Arbeitslosenstatistik. Diejenigen am unteren Ende der Bildungspyramide werden tendenziell auch weiter dort bleiben und bei der Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzvergabe entsprechend weniger Chancen haben.

Richtig am Ansatz der Sozialdemokraten ist, dass gesellschaftliche Integration etwas mit ökonomischer Teilhabe zu tun hat. Ein Problem besteht allerdings dann, wenn man gesellschaftliche Teilhabe auf ökonomische reduziert und man diese ökonomische Teilhabe dann nicht einmal für alle gewährleisten kann. Wenn gesellschaftliche Integration lediglich über Integration in die Erwerbsarbeit gedacht wird, verhindert dies für die wohl auch künftig bestehende Gruppe der Erwerbslosen eine gesellschaftliche Perspektive. Es ist an der Zeit, vor der wohl auch künftigen Realität der Massenerwerbslosigkeit nicht länger die Augen zu verschließen und stur Konzepte der Vollbeschäftigung zu verfolgen, die schon seit den siebziger Jahren der alten Bundesrepublik obsolet sind. Das SPD-Grundsatzprogramm wird sich insgesamt um einen weiteren Bedeutungshorizont bemühen müssen, wenn es nicht nur ein Programm für den Wirtschaftskurs der Partei sein will, sondern sich an Menschen richtet, die bei dem Satz Brechts, dass erst das Fressen und dann die Moral käme, nicht schon beim Fressen aufhören, zuzuhören.

Henning Schluß ist Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, www.henning.schluss.de.vu

   
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