J. Henning Schluß

Wer will mit der Herrschaft des Zufalls leben?

AUS PÄDAGOGISCHER SICHT:

An den Grundfragen von Bildung und Erziehung ändert die Digitalisierung nichts

Mehr Mäuse an die Schulen", hieß 1999 ein Wahlslogan der Berliner SPD. Aber nicht nur zu Wahlkampfzeiten hallt die Parole "Internet in alle Schulen" durch die Lande. Der Bundeskanzler setzt sich unermüdlich für die Computerausstattung der Schulen ein. Telekom und AOL überbieten sich mit nicht ganz selbstlosen Offerten für Schulen, Schüler und Lehrer. So deutlich es ist, dass unsere Welt in zunehmendem Maße computerisiert wird - in Deutschland wird bald jeder Dritte einen Internetanschluss sein eigen nennen -, und so deutlich es ist, dass die öffentlichen Schulen dieser Entwicklung hinterherhinken, so wenig ist damit jedoch schon geklärt, was der Internetanschluss an unseren Schulen überhaupt bewirkt. Die allenthalben aufzufindende Reduktion des Themas Bildung & Schule auf die Computerausstattung stellt für die grundlegenden Probleme der Schulen nur die Fata Morgana einer Lösung dar.

Ändert sich die Struktur der Bildung?

Um beurteilen zu können, was der Internetanschluss für die Schule als öffentliche Bildungsinstitution überhaupt bedeutet, sind mindestens zwei pädagogische Fragen notwendig. Die erste: Was ändert sich durch das Internet an der Struktur der Bildung? Dafür muss man sich erst einmal verdeutlichen, was das Internet eigentlich ist. Am Ehesten lässt es sich vielleicht als eine Art Transportmittel beschreiben. Ein Transportmittel der besonderen Art, das Informationen in ungeheurer Fülle transportiert und synchron an beinahe jedem beliebigen Ort für beliebig viele Menschen zur Verfügung stellen kann. Raum und Zeit, nach Kant die Kategorien unserer Wahrnehmung, werden durch das Internet in einer bislang nicht da gewesenen Weise entschränkt. Entgegen der landläufigen Meinung ändert sich aber allein durch die Menge der Bildungsangebote, die das Internet mit dieser Entschränkung bereitstellt, die Struktur der Bildung nicht. Arno Schmidt hat in einer Zeit, da an das Internet noch nicht zu denken war, ausgerechnet, wie groß die Zahl der Bücher ist, die ein Mensch in seinem Leben lesen kann. Er kam damals auf die Zahl 3.000. Es ist deshalb nicht entscheidend, ob durch das Internet die möglichen Informationen nun hundert-, millionen-, oder milliardenfach größer sind als die Akkumulationsfähigkeit des Menschen.

Und auch, wenn Informationen jetzt, weil orts- und zeitunabhängig, einfacher zugänglich sind, bildet sich daneben zunehmend ein Problem. Die Qualitätsgarantie, die herkömmliche Medien übernehmen, entfällt im Internet. Einen Artikel über die Bildung im digitalen Zeitalter in den Freitag zu bringen, bedeutet, ihn mit einem Redakteur abzusprechen, der ihn wiederum in der Redaktionskonferenz verantworten muss. Einen Artikel ins Internet zu stellen, bedeutet, ihn von dem Textprogramm auf den Server der Homepage herüberzuladen. Dies kann jede und jeder zu jedem x-beliebigen Thema tun.

Für das Rezeptionsverhalten hat diese Qualitätsgarantie bedeutende Auswirkungen. Leser des Freitag wissen, dass sie eine "intellektuelle Wochenzeitung" lesen (was auch immer das im Einzelnen sei). Ein solches Labeling wird durch die Struktur des Internet unterlaufen, da alle Informationen ins Netz gestellt und dann über Suchmaschinen aufgefunden werden können, völlig unabhängig von irgendeinem Standart oder Kanon. Diese Struktur wird oft als "demokratisch" bezeichnet. Da die Menge der Einträge beispielsweise zum Thema "Newton" jedoch jegliche Rezeptionsfähigkeit überschreitet, müsste man sich wahrscheinlich auf die ersten sechzig Nennungen einer Suchmaschine beschränken. Dies bedeutete jedoch keine Demokratisierung, sondern viel eher eine Herrschaft des Zufalls, eine Tychekratisierung. Alle, die mit dem Internet zu tun haben, wissen, dass es so gerade nicht funktioniert. Es gilt, sinnvoller als nach dem Zufallsprinzip aus der Menge der verfügbaren Informationen auszuwählen. Diese Auswahlkriterien sind interessanterweise den alten ganz ähnlich. Der Grund liegt nicht so sehr in der mangelnden Phantasie der Internetanbieter, sondern viel eher in der Struktur unserer Bildung. Das menschliche Bewusstsein funktioniert nicht wie ein großer Speicher, der alle Informationen wahllos sammelt, sondern sie werden interpretiert und so mit Sinn versehen. Dies geschieht auf dem Hintergrund von bereits erworbenen Wissen. Wer etwas über Newton wissen will und den Suchbegriff in die Suchmaschine eingibt, wird vermutlich auf der Seite eines Fotomodels oder einer Computerfirma landen, kaum jedoch etwas zu Isaac Newton erfahren. Der Hintergrund unseres bisherigen Wissens lässt merken, dass wir dort falsch sind, und hilft uns zugleich, gezielter zu suchen. Das Labeling ist dabei eine Art kategorisiertes Vorwissen. Ich weiß vielleicht nichts über Newton, aber ich weiß, dass ich in der Enzyklopedia Brittanica verlässliche Informationen finden werde. Diese Struktur des Anschlusses an bisheriges Wissen und eine so bewirkte Horizonterweiterung gilt nicht nur für klassische Bildungsgüter, sondern für beliebige Objekte, seien es Donald Duck oder Lara Croft.

Soviel sich also durch das Internet an der Darbietung der Information ändert, sie schneller, aktueller und endlos verlinkt sein wird, so sehr sich damit auch das Rezeptionsverhalten der Konsumenten ändert, deren "Multitaskingfähigkeit" zu- und Konzentrationsfähigkeit abnimmt, so wenig ändert sich doch die Struktur dessen, wie Information zu Wissen wird, also an der Struktur unserer Bildung. Gleich ob im Mittel- oder im Medienzeitalter.

Ändern sich Lehr-/Lernverhältnisse strukturell?

Damit wären wir bei der zweiten Frage angelangt, was ändert sich an der Struktur des Lehr-/Lernverhältnisses? Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher fasste zu Beginn des 19. Jahrhunderts das pädagogische Verhältnis als eines von älterer und jüngerer Generation. Seine Leitfrage war: "Was will die ältere Generation mit der jüngeren?" Im Medienzeitalter scheint es nun so zu sein, dass nicht mehr die ältere Generation der jüngeren, sondern vielmehr die jüngere Generation der älteren die Welt erklären muss. Diese alltäglichen Erfahrungen gerinnen zuweilen in Thesen, die wechselweise das "Verschwinden der Kindheit" (Postman) oder das "Verschwinden des Erwachsenen" (Lenzen) proklamieren, im wesentlichen aber auf das gleiche Phänomen zielen; die frühzeitige (Medien-)kompetenz der Kinder und Jugendlichen respektive die fehlende Medienkompetenz der Älteren.

Kehrt sich damit jedoch schon das Generationenverhältnis um? Menschen werden nach wie vor nicht als wissende, sondern als lernfähige Wesen geboren. Der Mensch lernt in der Interaktion. Und diese Interaktionen sind, wenn es sich um Lehr-/Lernprozesse handelt, ihrem Wesen nach asynchron strukturiert. Es gibt ein Gefälle zwischen Lehrer und Lernenden. Das Erlernen der Sprache setzt so z. B. Interaktionspartner voraus, die mit dem Kind sprechen. Erst aufgrund von immer schon vorher Gelerntem kann der Mensch aber Autodidakt in der Auseinandersetzung mit den Objekten sein. Ein Anfangspunkt für dies immer schon vorher Gelernte ist nicht auszumachen. Was die Kinder allerdings sagen, wenn sie sprechen, dies entzieht sich dem Verfügungswillen des lehrenden Interaktionspartners.

Seine Aufgabe ist es, mit der Einführung in die Sprache, in die Mathematik, in die Geografie und die Musik ein fundamentales Zurechtfinden in der Welt zu ermöglichen. Diese Struktur ist durchs Internet weder ablösbar noch umkehrbar. Ein riesiger Haufen Bilder ersetzt keine Einführung in Ikonografie. Für unsere Frage bedeutet dies: Auch in der Schule der Zukunft wird es um herkömmliche Lehr-/Lernprozesse gehen, wie auch immer sie medial vermittelt sein mögen. Ziel wird es sein, die grundlegenden Fähigkeiten zur Selbsterschließung der Welt zu vermitteln.

Im Bild gesprochen: Wenn das Internet eine riesige Bibliothek ist, so bleibt die Grundbedingung dafür, diese Bibliothek nutzen zu können, die Fähigkeit des Lesens. Dieses Lesen, im buchstäblichen Sinne wie im Sinne von Verstehen, zu lehren, war und ist die Aufgabe der Schule. Mir scheint keine Institution in Sicht zu sein, die diese Funktion in naher Zukunft adäquat übernehmen könnte. So gehören zwar Computer und das Internet in die Schule, weil sie in Zukunft immer stärker zu unserer Welt gehören werden. Bildungspolitik aber auf die Forderung eines Internetanschlusses zu verkürzen, ist das Ende öffentlicher Bildungsverantwortung. Die strukturellen Probleme der Schule sind durch das Internet nicht einmal berührt. Wenn die Ergebnisse deutscher Schüler im internationalen Vergleich nicht noch weiter absacken sollen, braucht es enormes öffentliches, politisches und auch ökonomisches Engagement.