Berlin

EINMALIGE DOKUMENTE IN DER HU ENTDECKT: UNTERRICHTSMITSCHNITTE ZEIGEN DEN SCHULALLTAG IN DER DDR

Die Schule des Sozialismus

Ein Unbekannter schickte dem Erziehungswissenschaftler Henning Schluß im Jahr 2004 ein interessantes Videoband. Der Inhalt: eine Schulstunde in der DDR von 1977. Henning Schluß war begeistert, obwohl er zunächst nur die Tonspur hören konnte. In Archiven der Humboldt-Universität stieß er schließlich auf 100 ähnliche Mitschnitte. Es sind Schulstunden in Mathe, Deutsch, Physik, Staatsbürgerkunde. Zeitdokumente, die nur 30 Jahre nach ihrer Entstehung wirken wie aus einer anderen Welt.

Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts hat Hennig Schluß die Filmbänder restauriert und digitalisiert. Jetzt stehen die Aufnahmen sogar online zur Verfügung. Zunächst nur für wissenschaftliche Zwecke, da zur Veröffentlichung für die Allgemeinheit das Einverständnis aller auf diesen Videos festgehaltenen Schüler und Lehrer notwendig ist.

Seit Beginn der 1970er-Jahre wurden an der HU zum Zweck der Lehrerausbildung und Forschung ideale Schulstunden aufgezeichnet. Dafür wurde in der sogenannten Kommode, einem Universitätsgebäude Unter den Linden, eigens ein Klassenzimmer eingerichtet und mit modernster, aus dem Westen importierter Videotechnik ausgestattet.

Kostbares Material für die vergleichende Unterrichtsforschung, denn bisher konnten Forscher die DDR-Pädagogik nur auf Basis von Lehrplänen oder Zeitzeugenberichten analysieren. Nun steht zum ersten Mal sichtbare Unterrichtspraxis zur Verfügung, die mit Material aus westdeutschen Schulen verglichen werden kann.

Das erste Band, das Henning Schluß in Augenschein nahm, zeigt eine Schulstunde in Staatsbürgerkunde. Das Thema: der Mauerbau 1961. Der Wissenschaftler hat das Material bereits 2005 als DVD aufbereitet und Interviews mit damaligen Schülern hinzugefügt. Die DVD steht allen Berliner Schulen zur Verfügung und wird häufig im Unterricht eingesetzt.

Am Aufzeichnungstag 1977 brachte ein Bus Jungen und Mädchen einer 10. Klasse aus Köpenick zum Aufnahmestudio in der HU. Die Lehrerin Eva Bethke, im hochgeschlossenen Kleid, erörtert, angereichert mit reichlich DDR-Propaganda, die politische Situation vor dem Mauerbau. 40 Minuten lang erarbeitet sie mit den Schülern "eine Skala verschiedener Methoden", mit denen der Westen den Osten schikanierte: Vorbereitung eines Atomkriegs, Organisation von Republikflucht, Spionage. Die Schüler sollten daraus lernen: Es gab keine Alternative zum Mauerbau.

Henning Schluß hat das Unterrichtskonzept analysiert. "Die Lehrerin hat ein klar definiertes Ziel, auf das sie hinarbeitet", sagt er. "Wortbeiträge der Schüler nimmt sie zwar mit ,Ja' an, schreibt aber stets ihre eigenen, vorbereiteten Schlagworte an die Tafel." Interessant ist auch, dass der Unterricht auf einem sehr theoretischen Niveau stattfindet. "Es gibt keinerlei persönliche Erfahrungsberichte der Schüler. Was sie oder ihre Familien mit der Mauer erleben, steht nicht zur Debatte", so Schluß.

Die 100 Mitschnitte räumen andererseits mit Vorurteilen gegenüber der DDR-Pädagogik auf. "Es gab in der DDR nicht nur Frontalunterricht", sagt Henning Schluß. "Die Aufnahmen zeigen, dass auch mit Gruppenunterricht experimentiert wurde." Dabei wird immer wieder ein Problem der DDR-Pädagogik deutlich: die schwierige Balance zwischen Einheitlichkeit und Differenzierung. Auf der einen Seite wollte man die Schüler zu guten Sozialisten erziehen, die eine konforme Meinung vertreten, auf der anderen Seite wussten die Lehrer, dass sie auch die Individualität der Schüler wahrnehmen müssen, um zu überzeugen.

Sogar Disziplinprobleme sind auf den Bändern zu sehen. In einer Stunde steigen die Schüler über Tische und Bänke, die Kamera scheint vergessen. Ein Hinweis darauf, dass die Schulstunden, trotz der künstlichen Situation im Aufnahmestudio, durchaus den Schulalltag repräsentieren.

Als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie wurde das DDR-Schulsystem mit den strukturierten Lehrplänen und dem straff organisierten Unterricht oft als Vorbild für die Erziehungsmethoden an gesamtdeutschen Schulen gehandelt. Zu Unrecht, wie Hennig Schluß meint. Für ihn zeigt das Originalmaterial, dass in DDR-Klassenzimmern keinesfalls alles besser war. Birgit Rieger

Vom 30. November 2007 bis zum 21. Januar 2008 zeigt das Stadtmuseum Berlin, Wallstr. 32, in Mitte die Ausstellung "Schule in der DDR der 1970er-Jahre". Infos zu den HU-Unterrichtsfilmen unter www.fachportal-paedagogik.de/filme.

Berliner Zeitung, 28.11.2007