Mareike Degen: Freies Wort (Suhl) 13.8.2005

 

Wenn Henning Schluss an seine Schulzeit in der DDR zurückdenkt, dann erinnert er sich neben den guten Erlebnissen vor allem an eins: den politischen Druck im Unterricht, festgeschrieben in den strikten staatlich-ideologisierten Lehrplänen. An die mussten sich alle Lehrer, von der Ostsee bis Thüringen, halten: „Heute behaupten zwar viele, dass sie die Inhalte anders aufbereitet und den Kindern beigebracht haben“, sagt Schluss. „Das habe ich persönlich so aber nicht in Erinnerung.“ Schluss hatte schon als Teenager wenig übrig für Schule und DDR-Strukturen – Abitur machen und studieren, „das wäre für mich damals nicht möglich gewesen“, sagt er. Heute ist Henning Schluss, 36, Theologe und promovierter Erziehungswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Einer seiner Forschungsschwerpunkte: Lehrpläne in der DDR. Am vergangenen Donnerstag stellte er das Ergebnis seines letzen Projekts vor: eine DVD mit Unterrichtsmitschnitten aus einer Ostberliner Schule von 1977 – das Thema der Stunde ist, lehrplangerecht, die „Sicherung der Staatsgrenze am 13.8.1961“. Die DVD soll Schülern von heute zeigen, wie mit dem Mauerbau im DDR-Unterricht umgegangen worden ist.

Oranienburg bei Berlin, es ist Montag Morgen und vorlesungsfreie Zeit. Henning Schluss sitzt auf der Terrasse vor seinem gelben Haus, auf dem Frühstückstisch liegen halb aufgegessene Nutella-Brötchen, seine kleine Tochter Antonia wuselt mit Oma und Opa durch den Garten und seine Frau Verena trägt einen kugelrunden Babybauch vor sich her. „Es kann jeden Moment losgehen“, freut sich der Familienvater. Seine Eltern sind extra zu Besuch gekommen, damit sie auf Antonia aufpassen können, wenn die Eltern ins Krankenhaus flitzen. Seine ganze Familie auf einem Haufen – so mag es der große Mann mit der sanften Stimme am liebsten.

Henning Schluss kommt Ende der Sechziger Jahre in Halle zur Welt und wächst in Dessau auf. Sein Vater ist Elektroingenieur, seine Mutter arbeitet als Krankenschwester – „mein Großvater und meine Onkel waren aber alle Pfarrer“, erzählt Schluss. Die Kirche spielt also eine wichtige Rolle im Leben der Familie: „Wir sind jetzt nicht übertrieben fromm, aber die Gemeinde ist schon unser zweites Zuhause“, sagt der Theologe, „und für mich war sie in der DDR ein Freiraum.“ Von klein auf nimmt Henning Schluss an der Christenlehre teil und fährt auf Kirchenfreizeiten, später kümmert er sich selbst um die Jugendlichen in der Gemeinde. 1985, mit 16 Jahren, verlässt er die Polytechnische Oberschule und wird Elektroniker beim VEB Waggonbau in Dessau. ‚Henning Schluss interessiert sich nicht gesellschaftlich und ist stark kirchlich engagiert’ schrieb sein Abteilungsleiter damals in eine Beurteilung – „sich ‚gesellschaftlich interessieren’ hieß, Mitglied in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft zu sein und dergleichen“, sagt Schluss. Doch das sei für ihn nie in Frage gekommen - die DDR und er, „das beruhte auf gegenseitiger Abneigung“. Noch in seiner Lehrzeit tritt der überzeugte Christ aus der FDJ aus und verweigert den Militärdienst bei der NVA. Stattdessen betreut Schluss freiwillig, von 1988 bis 1990, geistig behinderte Männer auf einem Bauernhof im Harz.

„Das war eine sehr wichtige Erfahrung“, erinnert sich Henning Schluss – eine von vielen in der turbulenten Wendezeit. Zusammen mit Freunden, anderen Christen, Umweltaktivisten und Atomkraftgegnern, gründet er 1989 die Dessauer Gruppe des „Neuen Forums“ und fährt mit ihnen im Sommer zum berühmten Leipziger Straßenmusikfest – mit einem provokanten Programm im Gepäck. Einer der Höhepunke: „Ohrenverstopfen“. Schluss liest vor Publikum aus dem Jugendweihe-Buch „Vom Sinn unseres Lebens“ vor, während der Rest der Gruppe sich ostentativ die Ohren zuhält. Gegen Mittag waren die meisten seiner Freunde bereits verhaftet, „an den Haaren auf den Lastwagen gezogen, nicht sehr fein“, sagt Schluss. Ihn ließ die Stasi in Ruhe – zunächst. „Abends habe ich mich dann auf den Weg zum Bahnhof gemacht und bin gerade über den Alten Markt gelaufen, und – wumm! –  plötzlich, mit quietschenden Reifen, halten Stasi-Beamte neben mir, reißen die Türen auf, springen aus dem Auto und stürzen sich auf mich – das war wie im Krimi!“ Schluss hält sein Espressotässchen in der Hand und kichert. „Die Nacht habe ich dann in Stasi-Gewahrsam verbracht.“ Seine Verhörprotokolle von diesem Abend sind ein paar Jahre später in einem Buch über das Straßenmusikfest wieder aufgetaucht. Über die Stasi, sagt Schluss, hätten sie sich damals, „ein bisschen naiv“, eher lustig gemacht. „Im Nachhinein ist es allerdings nicht mehr lustig, wenn man seine Akten durchsieht und merkt, dass man schon als Kind bespitzelt worden ist.“

1990 beschließt Schluss, Theologe zu werden: „Ich fand Theologie schon immer spannend“, sagt er, „eine Wissenschaft, die Fragen über das Leben stellt und kontroverse Antworten bereit hält – im Gegensatz zur DDR-Philosophie.“ Im August 1990 beginnt er sein Studium am Theologischen Seminar Paulinum in Berlin-Friedrichshain und betreut nebenher kranke Menschen, um über die Runden zu kommen. Nach seinem Examen studiert Schluss weiter Theologie an der Berliner Humboldt-Universität, „um sich noch intensiver mit einigen Themen zu beschäftigen“, wie er sagt, und belegt „eher zufällig“ als zweites Fach Erziehungswissenschaften: „Dort bin ich dann aber hängen geblieben.“ Seit 1998 ist er hier wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent. In seiner Doktorarbeit hat er untersucht, wie sich die Lehrpläne – vor allem in den Fächern LER und Sozialkunde (Thüringen) – in den neuen Ländern nach der Wende entwickelt haben, hat nebenbei noch an diversen Forschungsprojekten mitgewirkt und zuletzt die Mitschnitte aus dem DDR-Unterricht aufbereitet. „An der Uni zu arbeiten ist wunderbar“, schwärmt er, „ich kann fast alles selbst gestalten, viel von zu Hause aus machen und bin sehr gerne mit Studenten zusammen.“ Die lädt der Dozent sogar einmal pro Semester ein – in sein gelbes Haus nach Oranienburg.

Seine Frau Verena, Cellistin am Prenzlauer Kammerorchester und Musikpädagogin, hat Henning Schluss schon 1992 während eines Praktikums in Quedlinburg kennen gelernt. Geheiratet hat der junge Theologie-Student damals zwar zuerst eine andere, „Verena und ich sind allerdings die ganze Zeit sehr gut befreundet geblieben.“ 2001 haben sie endlich zueinander gefunden, vor zweieinhalb Jahren kam ihre Tochter Antonia auf die Welt, die „auch schon ziemlich genau weiß, was sie will“. 2004 haben die beiden geheiratet und sind kurz darauf vom Berliner Stadtteil Alt-Moabit ins beschauliche Oranienburg gezogen, vor allem wegen Antonia. „Wir vereinsamen hier aber bestimmt nicht“, sagt Schluss, „wir haben viele Freunde in ganz Deutschland, die gerne hierher kommen – oder die wir am Wochenende besuchen.“ Die Wochenenden sind nämlich für die Familie reserviert, Arbeit und Freizeit möchte das Paar auseinander halten. „Wenn meine Frau dann doch mal  samstags mit dem Orchester auftritt, kommen Antonia und ich natürlich mit“, sagt Schluss.

Sein Vertrag mit der Humboldt-Universität läuft noch bis 2009, und bis dahin gibt es noch viel zu erforschen - auch jenseits des DDR-Schulsystems. „Diese hohlen Phrasen in der DDR-Literatur gehen einem so auf die Ketten, damit könnte ich mich nicht ausschließlich beschäftigen“, lacht er. Sein nächstes Forschungsprojekt ist bereits bewilligt: Qualitätsstandards für den Religionsunterricht möchte der Theologe und Erziehungswissenschaftler erarbeiten - für Ost und West. Man habe ja in der DDR gesehen, wohin religiöse Nicht-Bildung führt, so Schluss: „Wer glaubt, ist blöd, das war damals die Devise“. Dass Religion - unabhängig davon, ob man an Gott glaubt oder nicht - die Grundlage unserer Kultur ist, wurde „einfach ignoriert“. Dabei, sagt er, „versteht man ja noch nicht mal einen Auto-Werbespot, wenn man die Geschichte von Adam und Eva und dem Sündenfall nicht kennt.“  Vielleicht bekommt er in diesem Jahr noch seine Habilitation fertig -  Schluss würde gerne als Professor weiter forschen und lehren. Aber er könnte sich genauso gut  vorstellen, Pfarrer zu werden oder einen Erziehungs-Beratungsdienst aufzubauen. Doch das nächste und wichtigste Projekt, sagt Henning Schluss, „ist jetzt natürlich erst einmal unser Baby.“