Gastkommentar. Ein Aufruf an die Europäische Friedens-Union.
von Heinz Gärtner, Max Haller und Werner Wintersteiner
In der Ukraine tobt seit bald zwei Monaten ein Krieg mit 4,7 Millionen Flüchtlingen, darunter zwei Millionen Kindern, gut 30.000 toten Soldaten, 3400 getöteten, zuvor oft schwer misshandelten Zivilisten und zerbombten Städten. Dass es so etwas mitten in Europa wieder gibt, ist unvorstellbar. Die Ukrainer haben die völkerrechtswidrige Invasion Russlands mit ihrem mutigen Widerstand zum Stocken gebracht, anscheinend sogar den Rückzug von der geplanten Eroberung von Kiew erreicht.
Nun bleibt die Frage: Wie lang wird der Krieg dauern? Der Ausgang ist höchst ungewiss: Ein Sieg der Ukrainer, indem sie die Russen aus ihrem Land hinauswerfen, erscheint unwahrscheinlich. Die wirtschaftliche und militärische Ungleichheit der Ressourcen beider Länder, vor allem, wenn der Krieg länger dauert, ist zu massiv.
Ist es in dieser Situation noch zu vertreten, dass der Krieg weitergeführt und vom Westen befeuert wird? Die USA leisten logistische Hilfe und überwiesen der Ukraine wohl schon zwei Milliarden Dollar Militärhilfe. Präsident Joe Biden pflegt eine erschreckende Kriegsrhetorik. Die meisten westeuropäischen Länder (England, Frankreich, Niederlande usw.) schicken Waffen. Der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, wird für seine zögerliche Haltung gescholten, jedoch steht er damit in guter sozialdemokratischer Tradition, für welche der Frieden seit jeher ein zentraler Wert war. Inzwischen hat auch die Bundesrepublik ihre bisherige Politik aufgegeben, keine Waffen an kriegsführende Staaten zu liefern, und überweist der Ukraine fast eineinhalb Milliarden Euro — schamhaft „Ertüchtigungshilfe“ genannt. Auch die EU selbst zahlt eine Milliarde Euro. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen rief am Karsamstag alle Mitgliedstaaten auf, Waffenlieferungen an die Ukraine zu beschleunigen. Sie stellte fest: „Wir müssen alles tun, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Und wir müssen uns zugleich vorbereiten, dass er schlimmstenfalls noch Monate, gar Jahre dauern kann.“ Ja, würde es nach Jahren Krieg überhaupt noch eine Ukraine geben, in der die Bürger menschenwürdig leben können? Auch die schärfsten Wirtschaftssanktionen werden Russland nicht in die Knie zwingen. Ohne irgendeinen benennbaren Erfolg wird Putin sich nicht aus der Ukraine zurückziehen. Dagegen haben er und noch deutlicher seine Handlanger sogar den Einsatz von Nuklearwaffen in den Raum gestellt.
„Jeder Krieg ist ein Verbrechen“, stellte der berühmte französische Schriftsteller Émile Zola fest. Der Krieg in der Ukraine ist zwar ohne Zweifel ein Abwehrkampf; ein solcher wird sogar, wie Kardinal Schönborn bekräftigte, von der katholischen Kirche akzeptiert. Aber: Wie lang bleibt ein Krieg ein Abwehrkampf? Jeder Krieg führt auch zu massiven Menschenrechtsverletzungen. Ein möglicher langer Abnützungskrieg hätte für beide — Russland und die Ukraine — schwerwiegende Konsequenzen. Dies zeigt nicht nur die sowjetische Intervention in Afghanistan von 1979 bis 1989. Sie hinterließ eineinhalb Millionen Tote und leitete den Zusammenbruch der Sowjetunion ein. Es muss auch im Interesse Russlands sein, den Krieg möglichst rasch zu beenden. Dass bei Interventionen in fremden Ländern selbst lange und brutale Kriege oft keine Vorteile auf dem Schlachtfeld bringen, mussten auch die USA zur Kenntnis nehmen. Dies zeigte die Teilung Koreas nach dem Krieg 1950 bis 1953, die Übernahme Vietnams durch die Kommunisten nach dem zehn Jahre langen Krieg gegen Nordvietnam und zuletzt der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan nach 20 Jahren Besatzung. Lange Kriege dieser Art wirken wirtschaftlich und politisch äußerst destabilisierend und können auch weit entfernte, arme Länder treffen, wie der Ukraine-Krieg schon jetzt zeigt.
Es ist keine Kapitulation
Ein Waffenstillstand ist keine Kapitulation. Im finnisch-russischen Winterkrieg schloss General Hammerschmied am 13. März 1940 schon nach dreieinhalb Monaten einen Frieden mit Russland, weil ihm klar war, dass weiterer Widerstand nicht aufrechterhalten werden konnte. Finnland musste erhebliche Gebietsabtretungen hinnehmen. Stalin hatte jedoch sein Ziel — die Besetzung und Annexion von ganz Finnland — nicht erreicht.
Um zu einem Waffenstillstand zu gelangen, müssen beide Kriegsparteien bereit sein, in Verhandlungen über einen solchen einzutreten, und konkrete und realistische Bedingungen dafür benennen. Davon ist derzeit auch in der Ukraine keine Rede. Kann man bei Putin ein Interesse an einem Waffenstillstand erwarten? Soll man überhaupt mit ihm reden? Dies steht wohl außer Zweifel. Auf seinen baldigen Abtritt oder gar Sturz zu hoffen ist illusorisch mangels kritischer Eliten, die er ausgeschaltet hat, und einer durch Gleichschaltung der Massenmedien erreichten hohen Zustimmung in der Bevölkerung. Dennoch ist Putin nicht völlig unberechenbar. Den Überfall auf die Ukraine hat er mehr oder weniger unverhüllt als Teil seiner großrussischen Visionen angekündigt. Er musste im jetzigen Krieg zweifellos lernen, dass der Angriff auf ein anderes Land selbst bei dessen klarer militärisch-numerischer Unterlegenheit ein riskantes Unterfangen ist. Noch mehr wird ihm bewusst sein, dass es ein Selbstmordkommando wäre, Nato-Staaten anzugreifen. Auch eine Aussicht auf Aufhebung der Wirtschaftssanktionen wird für ihn nicht ohne Bedeutung sein.
Die Verantwortung Europas
Was könnte ein Ergebnis von Verhandlungen im Rahmen eines Waffenstillstandes sein? Die beiden Extremergebnisse — Vertreibung der Russen aus der ganzen Ukraine vs. Abtretung von Teilen der Ukraine an Russland — erscheinen gleich unwahrscheinlich. Dazwischen gibt es mehrere Möglichkeiten. Dabei muss sowohl die außenpolitische Position der Ukraine als auch das Problem der abtrünnigen „Republiken“ Donezk und Lugansk im Südosten einbezogen werden. In ersterer Hinsicht könnte die Ukraine selbst eine Neutralität vorschlagen, was die Aufgabe ihrer Nato-Ambitionen bedeuten würde. Der Nato-Beitritt der Ukraine ist ohnehin eine Chimäre, für die in diesem Krieg gestorben wird. Weiters könnte über die Gewährung einer starken regionalen Autonomie für Donezk/Luhansk im Rahmen der Ukraine bis hin zur Bildung eines neuen, selbstständigen Staates verhandelt werden. Aber: Diese oder andere Lösungsmöglichkeiten muss natürlich die Ukraine selbst in Verhandlungen einbringen. Alle westlichen Spitzenpolitiker — in allererster Linie die höchsten Repräsentanten der Europäischen Union in Zusammenarbeit mit OSZE und UNO — müssten sich massiv für solche Verhandlungen einsetzen, anstatt den Krieg zu befeuern und damit nur weiter zu verlängern. Die EU konnte zu dauerhaftem Frieden zwischen ihren Mitgliedern beitragen, weil diese alle bereits seit 1945 Demokratien waren.
Sie würde sich als wirkliche Friedensunion erweisen, wenn sie auch einen Krieg mit dem autoritären Russland beenden könnte. Die Alternative zu einem möglichst raschen Waffenstillstand in der Ukraine und in der Folge zu einer Friedenslösung auf europäischer Ebene (auch Russland ist Teil Europas!) sind weiterer Krieg, Zerstörung und Tod.
(Die Presse, 20.4.2022)