Theoretische Modelle, empirische Befunde und
Implikationen für die Praxis"
(Hrsg: Harald Werneck
und Sonja
Werneck-Rohrer)
erschienen am 3. Juni 2003 im Facultas Universitätsverlag,
Wien
ISBN 3-85076-636-5 (22,90 Euro)
(vgl. auch das Titelblatt)
Inhaltsverzeichnis
1. Psychologische Aspekte von
Scheidung und Trennung. Ein Überblick
Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer
2. Theoretische Konzeptionen des Scheidungsprozesses
Biljana Djurdjevic
3. Partnerschaftsforschung im Überblick
Stephanie Grössinger
4. Prädiktoren der Partnerschaftsstabilität
Vera Engenhart-Klein
5. Ursachen für Scheidung / Trennung
Andrea De Angelis
6. Präventionsansätze von Scheidung und Trennung
Martina Rabl
7. Ein Partnerschaftliches Lernprogramm (EPL)
Monika Müller
8. Kurzfristige Folgen elterlicher Scheidung / Trennung für die
Kinder
Ulrike Pokorny
9. Langfristige Folgen einer erlebten elterlichen Scheidung /
Trennung
Natascha Levnaic
10. Die Entwicklung Jugendlicher in Scheidungs-/ Trennungsfamilien
Simone Brauner-Runge
11. Vor- und Nachteile verschiedener Obsorgeregelungen
Nadine Aigner
12. Folgen einer Trennung für die Partner
Heidelinde Hirsch
13. Die Situation von Alleinerziehenden
Sabine Köllner
14. Stiefmütter, Stiefväter, Stiefkinder
Reinelda Proprentner
15. Scheidungsmediation
Tanja Eckhardt und Emanuel Foltyn
16. Scheidungsberatung
Regina Kleewein
17. Gruppeninterventionen mit Scheidungskindern
Christine Kuca
18. Das Konzept von „Rainbows“
Gabriele Zeiner
1.
Psychologische Aspekte von Scheidung und Trennung. Ein
Überblick
Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer
Alleine schon die hohen Scheidungsquoten lassen erkennen, wie wichtig
und notwendig gerade in unserer Gesellschaft eine umfassendere
Auseinandersetzung mit der Thematik Scheidung bzw. Trennung, mit deren
Ursachen und Folgen für alle Beteiligten auch aus psychologischer
Sicht ist. Europaweit wird in einigen (v. a. skandinavischen)
Ländern durchschnittlich bereits jede zweite Ehe geschieden. In
Österreich entfielen im Jahr 2001 auf 100 Ehen (eines
durchschnittlichen Heiratsjahrganges) ca. 46 Scheidungen, was
gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von über 5 % bedeutete.
46 von 100 geschlossenen Ehen werden also (unter der Voraussetzung
konstanter Scheidungsraten) mit einer Scheidung enden, in der
Großstadt Wien z. B. sogar 59 von 100. Im Durchschnitt ist fast
von jeder Scheidung auch ein minderjähriges Kind betroffen – in
Österreich 18.961 Minderjährige bei 20.582 Scheidungen im
Jahr 2001 (Statistik Austria, 2002b). Die Wahrscheinlichkeit für
Kinder
und Jugendliche, die Scheidung ihrer Eltern zu erleben, beträgt
österreichweit
über 20 %, in Wien über 25 % (vgl. Bundesministerium für
Umwelt, Jugend und Familie, 1999). Dazu kommt noch die relativ hohe
Anzahl
unehelicher Kinder – im Jahr 2001 waren österreichweit 33.7 %
aller
Neugeborenen unehelich (Statistik Austria, 2002a) –, deren Eltern sich
trennen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Trennungsrisiko
bei
Lebensgemeinschaften, etwa aufgrund geringerer (v. a. finanzieller)
Abhängigkeiten generell noch um mindestens 50 % höher liegt
als bei Ehegemeinschaften, auch wenn Kinder vorhanden sind (z. B.
Prinz, 1998). Das bedeutet, die Zahl der von der Trennung ihrer Eltern
betroffenen Kinder liegt de facto noch
weit über jener der Scheidungskinder, nach Hochrechnungen erlebt
bereits
ca. jedes dritte österreichische Kind die Trennung seiner Eltern
mit
(vgl. z. B. Werneck, 2000, 2001; Werneck & Rollett, 2001). Dies
unterstreicht die soziologische und gesellschaftspolitische Dimension
des Themas, die
„Makroebene“.
Was aber bedeuten diese Zahlen nun aus psychologischer Sicht? Wie
erleben die einzelnen betroffenen Frauen und Männer sowie
gegebenenfalls deren Kinder den Verlauf einer Scheidung/Trennung? Was
verändert sich im Zuge einer Scheidung bzw. Trennung unter welchen
Bedingungen
für wen? Eine deutlich zunehmende Zahl an wissenschaftlichen
Studien
befasst sich mit der Erforschung der Ursachen von familiären
Trennungen
bzw. Scheidungen, den Konsequenzen und auch – darauf basierend – mit
der Erstellung diverser Präventions- bzw. Interventionsprogramme
(vgl. z. B. Bodenmann, 2002; Bodenmann & Hahlweg, in Druck). Neben
der Klinischen Psychologie, der Entwicklungspsychologie u. a. befasst
sich insbesondere die Familienpsychologie intensiv mit dieser Thematik.
International sind hier v. a. die weltweit agierende „International
Academy
of Family Psychology (IAFP)“ und die „American Psychological
Association
(APA)“ mit ihrer Sektion für Familienpsychologie zu nennen. Auf
europäischer Ebene etabliert sich seit kurzem die „European
Society on Family Relations (ESFR)“, u. a. mit Forschungsarbeiten zum
Thema Scheidung bzw. Trennung. Auf nationaler Ebene ist z. B. die
„Österreichische Gesellschaft
für Interdisziplinäre Familienforschung (ÖGIF)“ zu
nennen,
die 2002 ihren Forschungsschwerpunkt auf die Analyse familiärer
Trennungen bzw. deren Bewältigung zu legen beschloss.
Der Wandel im Stellenwert und in der Sichtweise von Scheidung bzw.
Trennung findet aber nicht nur Ausdruck in demographischen Kennzahlen,
sondern auch in der theoretischen Konzeption von Scheidung/Trennung:
ging man früher von einem sogenannten „Defizitmodell“ aus, wonach
die Verfügbarkeit beider Elternteile die Voraussetzung für
eine gelungene Sozialisation darstelle und dementsprechend die
Abwesenheit
eines Elternteiles automatisch mit negativen Konsequenzen für die
kindliche Entwicklung assoziiert sei, so wurde dieses
Forschungsparadigma
Mitte der 1980er-Jahre von einem „Re-Organisationsmodell“
abgelöst,
wonach eine Familie durch Trennung der Eltern nur neu organisiert
werde.
Die familiären Beziehungen hören nicht auf, die alte
Kernfamilie
bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die
emotionalen
Bindungen der betroffenen Kinder an beide Elternteile deren Trennung.
Parallel
zu diesem Paradigmenwechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von einer
klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise
von Scheidung als eine vorerst neutral zu bewertende
Übergangsphase,
eine „Transition“ im Familienentwicklungsprozess – mit zunehmend
normativem
Charakter (vgl. z. B. Fthenakis, 2000).
Was bedeutet eine Scheidung/Trennung nun für die Betroffenen? Dazu
muss vorerst festgehalten werden, dass es, entsprechend einem
differentiellen Ansatz, die Scheidungsfamilie oder das Trennungskind
nicht gibt. Darüberhinaus wird, entsprechend einem
perspektivischen Ansatz, das Scheidungsgeschehen von den Involvierten
in aller Regel – teils sehr – unterschiedlich
gesehen und beurteilt. Mavis Hetherington, eine der Pionierinnen der
Scheidungsforschung, sprach daher in diesem Zusammenhang von der
Scheidung
bzw. Trennung der Frau, der Scheidung des Mannes und der Scheidung des
Kindes (z. B. Hetherington, 1989).
Für die betroffenen Erwachsenen geht die Trennung bzw. Scheidung
von einem/einer PartnerIn in aller Regel mit gravierenden
Veränderungen der Lebenssituation einher, welche
beträchtliche individuelle Anpassungsleistungen erfordern. Aus
entwicklungspsychologischer Sicht bergen derartige kritische
Lebensereignisse (Filipp, 1995) aber nicht nur die Möglichkeit
des Scheiterns, sondern auch die Chance auf Wachstum und
Persönlichkeitsreifung in sich (z. B. Reichle & Werneck, 1999;
Sander, 2002; Schneewind, Vierzigmann & Backmund, 1998).
Tatsächlich finden sich in empirischen Studien große
interindividuelle Unterschiede in der Qualität der Reorganisation
nach einer Trennung bzw. Scheidung. Versuche, allgemeine Aussagen
über Konsequenzen einer Scheidung oder Trennung zu treffen, sind
dementsprechend – wenn überhaupt – nur mit großen
Einschränkungen möglich. Ein Ansatz in diese Richtung besteht
in der Zusammenschau vorliegender empirischer Befunde. So kommt etwa
eine ausführliche Metaanalyse amerikanischer Scheidungsstudien aus
den 1990er-Jahren (Amato, 2000) zu dem Schluss, dass Geschiedene im
Vergleich zu Verheirateten
insgesamt weniger glücklich sind, über mehr psychische
Belastungen
berichten, ein schlechteres Selbstkonzept aufweisen und unter
größeren
gesundheitlichen Problemen leiden. Diese Ergebnisse relativieren sich
allerdings
durch diverse methodische Bedenken: So ist etwa nicht eindeutig
nachvollziehbar,
inwieweit manche Probleme bei der Reorganisation, wie etwa emotionale
Labilität, Kommunikationsprobleme usw., nicht nur Folge, sondern
auch Ursache der Trennung sein könnten. Trotz gewisser empirischer
Evidenz für diese Selektionshypothese scheint die Trennung jedoch
auch schon zuvor vorhandene individuelle Stressoren – zumindest
temporär – wesentlich zu verstärken und auch neue zu erzeugen
(vgl. z. B. Beham, Werneck, Wilk & Zartler, 2002).
Auch in Bezug auf die von einer Scheidung bzw. Trennung der Eltern
betroffenen Kinder sind die Auswirkungen generell sehr differenziert
und letztlich nur für jeden einzelnen Fall gesondert zu
beurteilen: Sie variieren relativ stark, z. B. in Abhängigkeit vom
Alter und
Geschlecht des Kindes, vom Temperament des Kindes, von den
Eltern-Kind-Beziehungen, der sozioökonomischen Situation, dem
sozialen und kulturellen Umfeld, dem Verlauf der Trennung, dem
Wohlbefinden der Eltern und v. a. von
der Qualität der Beziehung der Eltern zueinander nach ihrer
Trennung bzw. Scheidung (vgl. z. B. Schmidt-Denter, 2000; Schwarz,
1999; Walper & Schwarz, 2002). In einer weiteren Metaanalyse von 92
Studien über Scheidungsfolgen für Kinder fanden Amato und
Keith (1991) gehäuft folgende Beeinträchtigungen:
1) externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (z. B.
Aggressivität);
2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Ängste,
Depressionen);
3) Schul- und Leistungsprobleme;
4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten (v. a. weniger soziale
Aktivitäten);
5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen
Wohlbefinden (z. B. als Erwachsene mehr Gesundheitsprobleme);
6) als Erwachsene negativere Einstellungen zur Ehe und höheres
Scheidungsrisiko.
Auch hier lassen sich wieder methodische Kritikpunkte anführen,
wie z. B. die zumeist relativ geringen Effektgrößen oder
auch mögliche Konfundierungen mit Außenvariablen (etwa dem
sozioökonomischen Status). Scheidungsfolgen sind nie
ausschließlich
auf die Veränderung der Familienstruktur zurückzuführen,
sondern immer auch vor dem Hintergrund des gesamten Lebenskontextes der
Familie und ihrer Mitglieder zu sehen. Außerdem gilt es, nicht
nur die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die Entwicklung
der Kinder zu berücksichtigen, sondern speziell auch jene
Prozesse,
die überhaupt erst zu diesen Effekten geführt haben (vgl. z.
B. Schneewind, 1999). Die Erwartung, dass sich mit den
gesellschaftlichen Veränderungen (z. B. der zunehmenden Akzeptanz
von Scheidungen) in
den letzten Jahren die Unterschiede zwischen Scheidungskindern und
Nicht-Scheidungskindern zunehmend verringern bzw. nivellieren, konnte
in einer neuerlichen Metaanalyse (Amato, 2001) von 67 Studien in den
1990er-Jahren, also ca. eine Dekade
nach der ersten, allerdings nicht bestätigt werden: Danach
bestehen
nach wie vor – teilweise sogar wieder größer werdende –
Differenzen,
u. a. im Leistungsverhalten, der Anpassung, dem Selbstkonzept und den
sozialen Beziehungen, jeweils zu Ungunsten der Scheidungs- bzw.
Trennungskinder.
Betrachtet man die einzelnen empirischen Studien zur Scheidungs- bzw.
Trennungsthematik mit überwiegend psychologischen Fragestellungen,
so stechen aus der international mittlerweile nahezu
unüberschaubaren Fülle zwei hervor (auf die daher in den
folgenden Kapiteln auch Bezug genommen wird), die sich vor allem durch
den Zeitraum auszeichnen, über welchen sie von Scheidung
betroffene Familien mehrfach ausführlich analysierten:
Zu erwähnen ist hier zum einen die Studie von Judith S.
Wallerstein (zuletzt siehe z. B. Wallerstein, Lewis & Blakeslee,
2002) und ihrer Arbeitsgruppe, die 1971 in Kalifornien begannen, 131
Kinder und Jugendliche (aus 60 Familien), deren Eltern kurz zuvor die
Scheidung eingereicht hatten, sowie die Mütter und Väter
selbst
ausführlich zu befragen. 18 Monate später, 5, 10, 15 und
zuletzt
25 Jahre danach erfolgten erneut ausführliche Datenerhebungen,
wodurch
– unter Einbeziehen einer Vergleichsgruppe nichtgeschiedener Familien
– fundierte Aussagen über längsschnittliche Konsequenzen der
Scheidung, v. a. für die mittlerweile 28 bis 43 Jahre alten
„Scheidungskinder“
möglich sind.
Bei der zweiten prominenten Longitudinalstudie handelt es sich um die
„Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remarriage (VLS)“, unter
der Leitung von E. Mavis Hetherington (zuletzt siehe z. B. Hetherington
& Kelly, 2003). Bei dieser ebenfalls sehr aufwändigen Studie
wurden 1972 vorerst 72 vierjährige Scheidungskinder sowie deren
Familien und wichtige Bezugspersonen aus dem Umfeld der Familien sehr
ausführlich (mit Interviews, Beobachtungen, Fragebögen,
strukturierten Tagebüchern etc.) analysiert und außerdem
eine gleichgroße Zahl an nicht-geschiedenen Vergleichsfamilien.
Nachuntersuchungen nach 2 Monaten, 1, 2, 6, 11 und 20 Jahren
komplettieren das umfassende Bild, wobei die Anzahl der untersuchten
Familien zunehmend erhöht wurde, sodass nach 20 Jahren statt der
ursprünglichen 144 Familien (von welchen nach 20 Jahren noch 122
teilnahmen)
insgesamt 450 Familien und 900 Kinder in die Auswertungen eingingen.
Das Bemerkenswerte – und in gewisser Weise für die
Scheidungsforschung Bezeichnende – ist nun die Tatsache, dass die
Schlussfolgerungen aus diesen beiden groß angelegten
Forschungsprojekten sehr differenziert, aber, vor allem was die
Bewertung und Interpretation der Befundlagen
betrifft, auch durchaus heterogen und teils widersprüchlich
ausfallen:
So resümiert Hetherington, die neben der VLS auch an mehreren
anderen
großen Scheidungsstudien in leitender Funktion beteiligt war –
etwa
an der „Philadelphia Divorce and Remarriage Study“ (z. B. Hetherington
& Clingempeel, 1992) oder an der „Nonshared Environment Study“ (z.
B.
Reiss, Hetherington, Neiderhiser, & Plomin, 2003):
Nach vierzig Jahren Forschung hege ich keinen
Zweifel
über das zerstörerische Potential einer Scheidung. Sie kann
das
Leben von Menschen zerstören und tut es auch. Das habe ich
öfter
gesehen, als mir lieb sein konnte. Doch dessen ungeachtet glaube ich
dennoch,
dass das meiste, was heutzutage über Scheidungen geschrieben wird
–
sowohl in Publikums- wie in wissenschaftlichen Medien –, die negativen
Wirkungen übertreibt und die manchmal beträchtlichen
positiven Folgen unterschlägt. Fraglos hat die Scheidung viele
Erwachsene und Kinder vor den Schrecken familiären Missbrauchs
gerettet. Aber sie ist
nicht nur eine präventive Maßnahme. Ich habe erlebt, dass
sie vielen Frauen und besonders Mädchen die Chance zu einem
bemerkenswerten
persönlichen Wachstum eröffnete ... (Hetherington &
Kelly,
2003, S. 16)
Hetherington betont, dass trotz möglicher kurzfristiger
negativer Folgen in der überwiegenden Mehrzahl aller
Scheidungsfamilien
(ca. 75 %) die mittel- und langfristige Anpassung an die neue Situation
gut gelinge und plädiert für den Mut zur Veränderung.
Deutlich anders resümiert hingegen Judith Wallerstein ihre
langjährige Erfahrungen aus der Scheidungsforschung: Sie
qualifiziert die Vorstellung, die Folgen einer Scheidung seien für
die Partner und v. a. für die betroffene Kinder überwiegend
bis ausschließlich kurzfristig und vorübergehend als einen
Mythos und eine fundamentale Fehleinschätzung.
Und nachdem ich das Leben so vieler Scheidungskinder
in jedem einzelnen Fall von der frühen Kindheit über die
Adoleszenz und bis in die Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens
hinein verfolgt habe, kann ich ohne allen Zweifel sagen, dass diese
Kinder sich mit
Ängsten und Besorgnissen herumschlagen, die ihre in intakten
Familien
aufgewachsenen Altersgenossen nicht teilen. Diese Ängste und
Besorgnisse
verändern unsere Gesellschaft in einer Weise, wie wir uns dies
nie haben träumen lassen. ...
Im Gegensatz zu dem, was wir lange Zeit glaubten, macht sich
das eigentliche Gewicht der elterlichen Scheidung für die
Kinder nicht in den Jahren der Kindheit oder des Heranwachsens
bemerkbar.
Vielmehr kulminieren die Dinge im Erwachsenenleben, dann, wenn
ernsthafte
Liebesbeziehungen ins Zentrum der Interessen rücken. In dem
Augenblick,
in dem es darum geht, einen Lebenspartner zu wählen und eine
eigene
Familie zu gründen, erfährt die Erfahrung der elterlichen
Scheidung ein Crescendo. Ein zentrales Ergebnis meiner Studien lautet,
dass Kinder sich nicht nur mit Mutter und Vater als zwei separaten
Individuen
identifizieren, sondern auch mit der Beziehung ihrer Eltern zueinander.
Sie nehmen das Musterbild dieser Beziehung mit in ihr Erwachsenenleben
und verwenden es als Vorlage für ihre eigene Familie. Das Fehlen
einer
guten Vorlage wirkt sich negativ auf ihre Suche nach Liebe,
Intimität
und persönlicher Bindung aus. Angst veranlasst viele
Scheidungskinder,
den falschen Partner zu wählen, zu rasch aufzugeben, wenn Probleme
auftauchen, oder sich überhaupt nicht auf eine Partnerbeziehung
einzulassen.
(Wallerstein, Lewis & Blakeslee, 2002, S. 31-32)
Vor allem der Glaube an die Tragfähigkeit von Beziehungen leidet
also stark, auch langfristig, interessanterweise stärker
bei Kindern, welche die Beziehung ihrer Eltern vor der Scheidung eher
positiv wahrnahmen („low-discord parents“; vgl. z. B. Amato &
DeBoer,
2001).
Nicht zuletzt die aus diesen beiden longitudinalen Forschungsprojekten
resultierenden durchaus unterschiedlichen Einschätzungen und
Gewichtungen der Scheidungsfolgen für die Beteiligten führten
in den USA zu einer sehr angeregten öffentlichen wie auch
wissenschaftlichen Diskussion über Vor- und Nachteile von
Scheidungen bzw. Trennungen, vor allem aus psychologischer Sicht.
Weitgehende Übereinstimmung
herrscht allerdings dahingehend, dass eine Scheidung bzw. Trennung das
Leben aller Betroffenen – teils gravierend – verändert.
Weiterführende
Überlegungen und Bemühungen sollten – getragen von Respekt
vor den Entscheidungen der einzelnen – daran orientiert sein, die im
Einzelfall vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen und gegebenenfalls
zusätzliche externe Hilfsangebote anzubieten, um für jede
einzelne
sich trennende Familie die unter den gegebenen Umständen besten
Lösungen für alle Involvierten zu finden und umsetzen zu
können
(z. B. Werneck, 2002). Eine offene Analyse der vorliegenden empirischen
Befundlage, frei von ideologischen Voreingenommenheiten, sowie darauf
aufbauende Überlegungen, mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen und
Unterstützungsangebote für Betroffene systematisch zu
optimieren,
scheinen aufgrund der sich verändernden Beziehungskultur und der
zunehmenden Diversifizierung der Lebensformen auch in unserer
Gesellschaft
absolut sinnvoll und notwenig. Dies ist auch die zugrundeliegende Idee
bzw. Intention hinter der Zusammenstellung der einzelnen Beiträge
des vorliegenden Werkes.
Die einzelnen Themenbereiche
Wie schon in dem Band „Psychologie der Familie. Theorien, Konzepte,
Anwendungen“ (Werneck & Werneck-Rohrer, 2000) wurden auch im
vorliegenden Buch die einzelnen Kapiteln aufeinander abgestimmt, aber
zugleich so konzipiert, dass sie auch jeweils eine in sich geschlossene
Einheit bilden und daher problemlos einzeln – gezielt, je nach
Interesse – gelesen werden können.
Am Beginn steht ein theoretisches Kapitel, in welchem Konzeptionen des
Scheidungsprozesses, insbesondere einige ausgewählte
Phasenmodelle, vorgestellt und diskutiert werden. Es folgt ein
Überblick über wesentliche Grundannahmen und empirische
Befunde zur Partnerschaftsforschung. Um sich fundiert mit Scheidung
bzw. Trennung auseinandersetzen zu können, ist es notwendig, sich
zuerst mit der Entstehung von Partnerschaften, Kriterien der
Partnerwahl, der Entwicklung von Partnerschaften, verschiedenen
Auffassungen von Partnerschaften usw. auseinanderzusetzen. Danach
werden Ansätze erörtert, Partnerschaftsqualität und
-stabilität zu erklären bzw. vorherzusagen. Ein
ausführliches Kapitel widmet sich der Analyse möglicher
Ursachen für Scheidung bzw. Trennung. Zwei Beiträge werden
dem für die Praxis hochrelevanten Thema Prävention gewidmet,
wobei zuerst allgemeine Überlegungen zur Entwicklung von
Programmen zur (v. a. primären) Prävention von
Partnerschaftskonflikten beschrieben werden – besonders von solchen
Programmen, die beim Kommunikationsverhalten in stressinduzierten
Situationen ansetzen. Danach wird ausführlich auf ein spezielles
partnerschaftliches Lernprogramm zur Schulung von Gesprächs- und
Problemlösefertigkeiten bei
jungen Paaren eingegangen. Auf kurzfristige und langfristige Folgen
einer
elterlichen Scheidung bzw. Trennung sowie speziell auf die Entwicklung
Jugendlicher in Trennungsfamilien beziehen sich die nächsten drei
Kapitel.
Ein eigener Beitrag wird den Vor- und Nachteilen verschiedener
Obsorgeregelungen
gewidmet, da in Österreich 2001 (in Deutschland 1998)
Änderungen
im Kindschaftsrecht – nach einem sehr intensiven Diskussionsprozess –
u.
a. die geteilte Obsorge beider Elternteile, die „gemeinsame Obsorge“,
nach einer Scheidung ermöglichen bzw. vorsehen. Die
anschließenden
beiden Kapitel fokussieren auf die Situation der getrennten Partner:
Mit
welchen Veränderungen müssen betroffene Frauen und
Männer
rechnen, was erschwert, was erleichtert die Reorganisation nach einer
Scheidung bzw. Trennung, und wie gestaltet sich typischerweise die
Situation
für alleinerziehende Elternteile? Ein eigener Beitrag
beschäftigt
sich auch mit den Besonderheiten der – immer häufiger gelebten –
Situation
von Stieffamilien. Die letzten vier Kapitel beziehen sich auf
Hilfsangebote
für Scheidungsfamilien: Zuerst wird genauer auf das – in
Österreich
seit dem Eherechtsänderungsgesetzt 1999 gesetzlich verankerte –
außergerichtliche
Konfliktregelungsinstrument der Scheidungsmediation eingegangen. Ein
weiterer Beitrag beschreibt Konzepte und Formen von
Scheidungsberatungsangeboten, und die letzten beiden Abschnitte
befassen sich schließlich mit
Gruppeninterventionsprogrammen, insbesondere mit dem Konzept von
„Rainbows“.
Diese Programme setzen sich zum Ziel, Kindern, die von der Scheidung
bzw.
Trennung ihrer Eltern betroffen sind, zu helfen, mit ihrer Situation,
ihren Sorgen und Nöten, besser zurecht zu kommen.
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Universitätsverlag.
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