"Psychologie der Scheidung und Trennung.

Theoretische Modelle, empirische Befunde und Implikationen für die Praxis"

(Hrsg: Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer)

erschienen am 3. Juni 2003 im Facultas Universitätsverlag, Wien
ISBN 3-85076-636-5 (22,90 Euro)
(vgl. auch das Titelblatt)

Inhaltsverzeichnis

1. Psychologische Aspekte von Scheidung und Trennung. Ein Überblick

    Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer

2. Theoretische Konzeptionen des Scheidungsprozesses
    Biljana Djurdjevic

3. Partnerschaftsforschung im Überblick
    Stephanie Grössinger

4. Prädiktoren der Partnerschaftsstabilität
    Vera Engenhart-Klein

5. Ursachen für Scheidung / Trennung
    Andrea De Angelis

6. Präventionsansätze von Scheidung und Trennung
    Martina Rabl

7. Ein Partnerschaftliches Lernprogramm (EPL)
    Monika Müller

8. Kurzfristige Folgen elterlicher Scheidung / Trennung für die Kinder
    Ulrike Pokorny

9. Langfristige Folgen einer erlebten elterlichen Scheidung / Trennung
    Natascha Levnaic

10. Die Entwicklung Jugendlicher in Scheidungs-/ Trennungsfamilien
      Simone Brauner-Runge

11. Vor- und Nachteile verschiedener Obsorgeregelungen
      Nadine Aigner

12. Folgen einer Trennung für die Partner
      Heidelinde Hirsch

13. Die Situation von Alleinerziehenden
      Sabine Köllner

14. Stiefmütter, Stiefväter, Stiefkinder
      Reinelda Proprentner

15. Scheidungsmediation
      Tanja Eckhardt und Emanuel Foltyn

16. Scheidungsberatung
      Regina Kleewein

17. Gruppeninterventionen mit Scheidungskindern
      Christine Kuca

18. Das Konzept von „Rainbows“
      Gabriele Zeiner


1. Psychologische Aspekte von Scheidung und Trennung. Ein Überblick
Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer

Alleine schon die hohen Scheidungsquoten lassen erkennen, wie wichtig und notwendig gerade in unserer Gesellschaft eine umfassendere Auseinandersetzung mit der Thematik Scheidung bzw. Trennung, mit deren Ursachen und Folgen für alle Beteiligten auch aus psychologischer Sicht ist. Europaweit wird in einigen (v. a. skandinavischen) Ländern durchschnittlich bereits jede zweite Ehe geschieden. In Österreich entfielen im Jahr 2001 auf 100 Ehen (eines durchschnittlichen Heiratsjahrganges) ca. 46 Scheidungen, was gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von über 5 % bedeutete. 46 von 100 geschlossenen Ehen werden also (unter der Voraussetzung konstanter Scheidungsraten) mit einer Scheidung enden, in der Großstadt Wien z. B. sogar 59 von 100. Im Durchschnitt ist fast von jeder Scheidung auch ein minderjähriges Kind betroffen – in Österreich 18.961 Minderjährige bei 20.582 Scheidungen im Jahr 2001 (Statistik Austria, 2002b). Die Wahrscheinlichkeit für Kinder und Jugendliche, die Scheidung ihrer Eltern zu erleben, beträgt österreichweit über 20 %, in Wien über 25 % (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie, 1999). Dazu kommt noch die relativ hohe Anzahl unehelicher Kinder – im Jahr 2001 waren österreichweit 33.7 % aller Neugeborenen unehelich (Statistik Austria, 2002a) –, deren Eltern sich trennen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Trennungsrisiko bei Lebensgemeinschaften, etwa aufgrund geringerer (v. a. finanzieller) Abhängigkeiten generell noch um mindestens 50 % höher liegt als bei Ehegemeinschaften, auch wenn Kinder vorhanden sind (z. B. Prinz, 1998). Das bedeutet, die Zahl der von der Trennung ihrer Eltern betroffenen Kinder liegt de facto noch weit über jener der Scheidungskinder, nach Hochrechnungen erlebt bereits ca. jedes dritte österreichische Kind die Trennung seiner Eltern mit (vgl. z. B. Werneck, 2000, 2001; Werneck & Rollett, 2001). Dies unterstreicht die soziologische und gesellschaftspolitische Dimension des Themas, die „Makroebene“.
Was aber bedeuten diese Zahlen nun aus psychologischer Sicht? Wie erleben die einzelnen betroffenen Frauen und Männer sowie gegebenenfalls deren Kinder den Verlauf einer Scheidung/Trennung? Was verändert sich im Zuge einer Scheidung bzw. Trennung unter welchen Bedingungen für wen? Eine deutlich zunehmende Zahl an wissenschaftlichen Studien befasst sich mit der Erforschung der Ursachen von familiären Trennungen bzw. Scheidungen, den Konsequenzen und auch – darauf basierend – mit der Erstellung diverser Präventions- bzw. Interventionsprogramme (vgl. z. B. Bodenmann, 2002; Bodenmann & Hahlweg, in Druck). Neben der Klinischen Psychologie, der Entwicklungspsychologie u. a. befasst sich insbesondere die Familienpsychologie intensiv mit dieser Thematik. International sind hier v. a. die weltweit agierende „International Academy of Family Psychology (IAFP)“ und die „American Psychological Association (APA)“ mit ihrer Sektion für Familienpsychologie zu nennen. Auf europäischer Ebene etabliert sich seit kurzem die „European Society on Family Relations (ESFR)“, u. a. mit Forschungsarbeiten zum Thema Scheidung bzw. Trennung. Auf nationaler Ebene ist z. B. die „Österreichische Gesellschaft für Interdisziplinäre Familienforschung (ÖGIF)“ zu nennen, die 2002 ihren Forschungsschwerpunkt auf die Analyse familiärer Trennungen bzw. deren Bewältigung zu legen beschloss.
Der Wandel im Stellenwert und in der Sichtweise von Scheidung bzw. Trennung findet aber nicht nur Ausdruck in demographischen Kennzahlen, sondern auch in der theoretischen Konzeption von Scheidung/Trennung: ging man früher von einem sogenannten „Defizitmodell“ aus, wonach die Verfügbarkeit beider Elternteile die Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstelle und dementsprechend die Abwesenheit eines Elternteiles automatisch mit negativen Konsequenzen für die kindliche Entwicklung assoziiert sei, so wurde dieses Forschungsparadigma Mitte der 1980er-Jahre von einem „Re-Organisationsmodell“ abgelöst, wonach eine Familie durch Trennung der Eltern nur neu organisiert werde. Die familiären Beziehungen hören nicht auf, die alte Kernfamilie bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die emotionalen Bindungen der betroffenen Kinder an beide Elternteile deren Trennung. Parallel zu diesem Paradigmenwechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von einer klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise von Scheidung als eine vorerst neutral zu bewertende Übergangsphase, eine „Transition“ im Familienentwicklungsprozess – mit zunehmend normativem Charakter (vgl. z. B. Fthenakis, 2000).
Was bedeutet eine Scheidung/Trennung nun für die Betroffenen? Dazu muss vorerst festgehalten werden, dass es, entsprechend einem differentiellen Ansatz, die Scheidungsfamilie oder das Trennungskind nicht gibt. Darüberhinaus wird, entsprechend einem perspektivischen Ansatz, das Scheidungsgeschehen von den Involvierten in aller Regel – teils sehr – unterschiedlich gesehen und beurteilt. Mavis Hetherington, eine der Pionierinnen der Scheidungsforschung, sprach daher in diesem Zusammenhang von der Scheidung bzw. Trennung der Frau, der Scheidung des Mannes und der Scheidung des Kindes (z. B. Hetherington, 1989).
Für die betroffenen Erwachsenen geht die Trennung bzw. Scheidung von einem/einer PartnerIn in aller Regel mit gravierenden Veränderungen der Lebenssituation einher, welche beträchtliche individuelle Anpassungsleistungen erfordern. Aus entwicklungspsychologischer Sicht bergen derartige kritische Lebensereignisse (Filipp, 1995) aber nicht nur die Möglichkeit des Scheiterns, sondern auch die Chance auf Wachstum und Persönlichkeitsreifung in sich (z. B. Reichle & Werneck, 1999; Sander, 2002; Schneewind, Vierzigmann & Backmund, 1998). Tatsächlich finden sich in empirischen Studien große interindividuelle Unterschiede in der Qualität der Reorganisation nach einer Trennung bzw. Scheidung. Versuche, allgemeine Aussagen über Konsequenzen einer Scheidung oder Trennung zu treffen, sind dementsprechend – wenn überhaupt – nur mit großen Einschränkungen möglich. Ein Ansatz in diese Richtung besteht in der Zusammenschau vorliegender empirischer Befunde. So kommt etwa eine ausführliche Metaanalyse amerikanischer Scheidungsstudien aus den 1990er-Jahren (Amato, 2000) zu dem Schluss, dass Geschiedene im Vergleich zu Verheirateten insgesamt weniger glücklich sind, über mehr psychische Belastungen berichten, ein schlechteres Selbstkonzept aufweisen und unter größeren gesundheitlichen Problemen leiden. Diese Ergebnisse relativieren sich allerdings durch diverse methodische Bedenken: So ist etwa nicht eindeutig nachvollziehbar, inwieweit manche Probleme bei der Reorganisation, wie etwa emotionale Labilität, Kommunikationsprobleme usw., nicht nur Folge, sondern auch Ursache der Trennung sein könnten. Trotz gewisser empirischer Evidenz für diese Selektionshypothese scheint die Trennung jedoch auch schon zuvor vorhandene individuelle Stressoren – zumindest temporär – wesentlich zu verstärken und auch neue zu erzeugen (vgl. z. B. Beham, Werneck, Wilk & Zartler, 2002).
Auch in Bezug auf die von einer Scheidung bzw. Trennung der Eltern betroffenen Kinder sind die Auswirkungen generell sehr differenziert und letztlich nur für jeden einzelnen Fall gesondert zu beurteilen: Sie variieren relativ stark, z. B. in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht des Kindes, vom Temperament des Kindes, von den Eltern-Kind-Beziehungen, der sozioökonomischen Situation, dem sozialen und kulturellen Umfeld, dem Verlauf der Trennung, dem Wohlbefinden der Eltern und v. a. von der Qualität der Beziehung der Eltern zueinander nach ihrer Trennung bzw. Scheidung (vgl. z. B. Schmidt-Denter, 2000; Schwarz, 1999; Walper & Schwarz, 2002). In einer weiteren Metaanalyse von 92 Studien über Scheidungsfolgen für Kinder fanden Amato und Keith (1991) gehäuft folgende Beeinträchtigungen:
1) externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Aggressivität);
2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Ängste, Depressionen);
3) Schul- und Leistungsprobleme;
4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten (v. a. weniger soziale Aktivitäten);
5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen Wohlbefinden (z. B. als Erwachsene mehr Gesundheitsprobleme);
6) als Erwachsene negativere Einstellungen zur Ehe und höheres Scheidungsrisiko.
Auch hier lassen sich wieder methodische Kritikpunkte anführen, wie z. B. die zumeist relativ geringen Effektgrößen oder auch mögliche Konfundierungen mit Außenvariablen (etwa dem sozioökonomischen Status). Scheidungsfolgen sind nie ausschließlich auf die Veränderung der Familienstruktur zurückzuführen, sondern immer auch vor dem Hintergrund des gesamten Lebenskontextes der Familie und ihrer Mitglieder zu sehen. Außerdem gilt es, nicht nur die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen, sondern speziell auch jene Prozesse, die überhaupt erst zu diesen Effekten geführt haben (vgl. z. B. Schneewind, 1999). Die Erwartung, dass sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen (z. B. der zunehmenden Akzeptanz von Scheidungen) in den letzten Jahren die Unterschiede zwischen Scheidungskindern und Nicht-Scheidungskindern zunehmend verringern bzw. nivellieren, konnte in einer neuerlichen Metaanalyse (Amato, 2001) von 67 Studien in den 1990er-Jahren, also ca. eine Dekade nach der ersten, allerdings nicht bestätigt werden: Danach bestehen nach wie vor – teilweise sogar wieder größer werdende – Differenzen, u. a. im Leistungsverhalten, der Anpassung, dem Selbstkonzept und den sozialen Beziehungen, jeweils zu Ungunsten der Scheidungs- bzw. Trennungskinder.
Betrachtet man die einzelnen empirischen Studien zur Scheidungs- bzw. Trennungsthematik mit überwiegend psychologischen Fragestellungen, so stechen aus der international mittlerweile nahezu unüberschaubaren Fülle zwei hervor (auf die daher in den folgenden Kapiteln auch Bezug genommen wird), die sich vor allem durch den Zeitraum auszeichnen, über welchen sie von Scheidung betroffene Familien mehrfach ausführlich analysierten:
Zu erwähnen ist hier zum einen die Studie von Judith S. Wallerstein (zuletzt siehe z. B. Wallerstein, Lewis & Blakeslee, 2002) und ihrer Arbeitsgruppe, die 1971 in Kalifornien begannen, 131 Kinder und Jugendliche (aus 60 Familien), deren Eltern kurz zuvor die Scheidung eingereicht hatten, sowie die Mütter und Väter selbst ausführlich zu befragen. 18 Monate später, 5, 10, 15 und zuletzt 25 Jahre danach erfolgten erneut ausführliche Datenerhebungen, wodurch – unter Einbeziehen einer Vergleichsgruppe nichtgeschiedener Familien – fundierte Aussagen über längsschnittliche Konsequenzen der Scheidung, v. a. für die mittlerweile 28 bis 43 Jahre alten „Scheidungskinder“ möglich sind.
Bei der zweiten prominenten Longitudinalstudie handelt es sich um die „Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remarriage (VLS)“, unter der Leitung von E. Mavis Hetherington (zuletzt siehe z. B. Hetherington & Kelly, 2003). Bei dieser ebenfalls sehr aufwändigen Studie wurden 1972 vorerst 72 vierjährige Scheidungskinder sowie deren Familien und wichtige Bezugspersonen aus dem Umfeld der Familien sehr ausführlich (mit Interviews, Beobachtungen, Fragebögen, strukturierten Tagebüchern etc.) analysiert und außerdem eine gleichgroße Zahl an nicht-geschiedenen Vergleichsfamilien. Nachuntersuchungen nach 2 Monaten, 1, 2, 6, 11 und 20 Jahren komplettieren das umfassende Bild, wobei die Anzahl der untersuchten Familien zunehmend erhöht wurde, sodass nach 20 Jahren statt der ursprünglichen 144 Familien (von welchen nach 20 Jahren noch 122 teilnahmen) insgesamt 450 Familien und 900 Kinder in die Auswertungen eingingen.
Das Bemerkenswerte – und in gewisser Weise für die Scheidungsforschung Bezeichnende – ist nun die Tatsache, dass die Schlussfolgerungen aus diesen beiden groß angelegten Forschungsprojekten sehr differenziert, aber, vor allem was die Bewertung und Interpretation der Befundlagen betrifft, auch durchaus heterogen und teils widersprüchlich ausfallen: So resümiert Hetherington, die neben der VLS auch an mehreren anderen großen Scheidungsstudien in leitender Funktion beteiligt war – etwa an der „Philadelphia Divorce and Remarriage Study“ (z. B. Hetherington & Clingempeel, 1992) oder an der „Nonshared Environment Study“ (z. B. Reiss, Hetherington, Neiderhiser, & Plomin, 2003):
Nach vierzig Jahren Forschung hege ich keinen Zweifel über das zerstörerische Potential einer Scheidung. Sie kann das Leben von Menschen zerstören und tut es auch. Das habe ich öfter gesehen, als mir lieb sein konnte. Doch dessen ungeachtet glaube ich dennoch, dass das meiste, was heutzutage über Scheidungen geschrieben wird – sowohl in Publikums- wie in wissenschaftlichen Medien –, die negativen Wirkungen übertreibt und die manchmal beträchtlichen positiven Folgen unterschlägt. Fraglos hat die Scheidung viele Erwachsene und Kinder vor den Schrecken familiären Missbrauchs gerettet. Aber sie ist nicht nur eine präventive Maßnahme. Ich habe erlebt, dass sie vielen Frauen und besonders Mädchen die Chance zu einem bemerkenswerten persönlichen Wachstum eröffnete ... (Hetherington & Kelly, 2003, S. 16)
Hetherington betont, dass trotz möglicher kurzfristiger negativer Folgen in der überwiegenden Mehrzahl aller Scheidungsfamilien (ca. 75 %) die mittel- und langfristige Anpassung an die neue Situation gut gelinge und plädiert für den Mut zur Veränderung.
Deutlich anders resümiert hingegen Judith Wallerstein ihre langjährige Erfahrungen aus der Scheidungsforschung: Sie qualifiziert die Vorstellung, die Folgen einer Scheidung seien für die Partner und v. a. für die betroffene Kinder überwiegend bis ausschließlich kurzfristig und vorübergehend als einen Mythos und eine fundamentale Fehleinschätzung.
Und nachdem ich das Leben so vieler Scheidungskinder in jedem einzelnen Fall von der frühen Kindheit über die Adoleszenz und bis in die Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens hinein verfolgt habe, kann ich ohne allen Zweifel sagen, dass diese Kinder sich mit Ängsten und Besorgnissen herumschlagen, die ihre in intakten Familien aufgewachsenen Altersgenossen nicht teilen. Diese Ängste und Besorgnisse verändern unsere Gesellschaft in einer Weise, wie wir uns dies nie haben träumen lassen. ...
Im Gegensatz zu dem, was wir lange Zeit glaubten, macht sich das eigentliche Gewicht der elterlichen Scheidung für die Kinder nicht in den Jahren der Kindheit oder des Heranwachsens bemerkbar. Vielmehr kulminieren die Dinge im Erwachsenenleben, dann, wenn ernsthafte Liebesbeziehungen ins Zentrum der Interessen rücken. In dem Augenblick, in dem es darum geht, einen Lebenspartner zu wählen und eine eigene Familie zu gründen, erfährt die Erfahrung der elterlichen Scheidung ein Crescendo. Ein zentrales Ergebnis meiner Studien lautet, dass Kinder sich nicht nur mit Mutter und Vater als zwei separaten Individuen identifizieren, sondern auch mit der Beziehung ihrer Eltern zueinander. Sie nehmen das Musterbild dieser Beziehung mit in ihr Erwachsenenleben und verwenden es als Vorlage für ihre eigene Familie. Das Fehlen einer guten Vorlage wirkt sich negativ auf ihre Suche nach Liebe, Intimität und persönlicher Bindung aus. Angst veranlasst viele Scheidungskinder, den falschen Partner zu wählen, zu rasch aufzugeben, wenn Probleme auftauchen, oder sich überhaupt nicht auf eine Partnerbeziehung einzulassen. (Wallerstein, Lewis & Blakeslee, 2002, S. 31-32)
Vor allem der Glaube an die Tragfähigkeit von Beziehungen leidet also stark, auch langfristig, interessanterweise stärker bei Kindern, welche die Beziehung ihrer Eltern vor der Scheidung eher positiv wahrnahmen („low-discord parents“; vgl. z. B. Amato & DeBoer, 2001).
Nicht zuletzt die aus diesen beiden longitudinalen Forschungsprojekten resultierenden durchaus unterschiedlichen Einschätzungen und Gewichtungen der Scheidungsfolgen für die Beteiligten führten in den USA zu einer sehr angeregten öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Diskussion über Vor- und Nachteile von Scheidungen bzw. Trennungen, vor allem aus psychologischer Sicht. Weitgehende Übereinstimmung herrscht allerdings dahingehend, dass eine Scheidung bzw. Trennung das Leben aller Betroffenen – teils gravierend – verändert. Weiterführende Überlegungen und Bemühungen sollten – getragen von Respekt vor den Entscheidungen der einzelnen – daran orientiert sein, die im Einzelfall vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen und gegebenenfalls zusätzliche externe Hilfsangebote anzubieten, um für jede einzelne sich trennende Familie die unter den gegebenen Umständen besten Lösungen für alle Involvierten zu finden und umsetzen zu können (z. B. Werneck, 2002). Eine offene Analyse der vorliegenden empirischen Befundlage, frei von ideologischen Voreingenommenheiten, sowie darauf aufbauende Überlegungen, mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen und Unterstützungsangebote für Betroffene systematisch zu optimieren, scheinen aufgrund der sich verändernden Beziehungskultur und der zunehmenden Diversifizierung der Lebensformen auch in unserer Gesellschaft absolut sinnvoll und notwenig. Dies ist auch die zugrundeliegende Idee bzw. Intention hinter der Zusammenstellung der einzelnen Beiträge des vorliegenden Werkes.

Die einzelnen Themenbereiche

Wie schon in dem Band „Psychologie der Familie. Theorien, Konzepte, Anwendungen“ (Werneck & Werneck-Rohrer, 2000) wurden auch im vorliegenden Buch die einzelnen Kapiteln aufeinander abgestimmt, aber zugleich so konzipiert, dass sie auch jeweils eine in sich geschlossene Einheit bilden und daher problemlos einzeln – gezielt, je nach Interesse – gelesen werden können.
Am Beginn steht ein theoretisches Kapitel, in welchem Konzeptionen des Scheidungsprozesses, insbesondere einige ausgewählte Phasenmodelle, vorgestellt und diskutiert werden. Es folgt ein Überblick über wesentliche Grundannahmen und empirische Befunde zur Partnerschaftsforschung. Um sich fundiert mit Scheidung bzw. Trennung auseinandersetzen zu können, ist es notwendig, sich zuerst mit der Entstehung von Partnerschaften, Kriterien der Partnerwahl, der Entwicklung von Partnerschaften, verschiedenen Auffassungen von Partnerschaften usw. auseinanderzusetzen. Danach werden Ansätze erörtert, Partnerschaftsqualität und -stabilität zu erklären bzw. vorherzusagen. Ein ausführliches Kapitel widmet sich der Analyse möglicher Ursachen für Scheidung bzw. Trennung. Zwei Beiträge werden dem für die Praxis hochrelevanten Thema Prävention gewidmet, wobei zuerst allgemeine Überlegungen zur Entwicklung von Programmen zur (v. a. primären) Prävention von Partnerschaftskonflikten beschrieben werden – besonders von solchen Programmen, die beim Kommunikationsverhalten in stressinduzierten Situationen ansetzen. Danach wird ausführlich auf ein spezielles partnerschaftliches Lernprogramm zur Schulung von Gesprächs- und Problemlösefertigkeiten bei jungen Paaren eingegangen. Auf kurzfristige und langfristige Folgen einer elterlichen Scheidung bzw. Trennung sowie speziell auf die Entwicklung Jugendlicher in Trennungsfamilien beziehen sich die nächsten drei Kapitel. Ein eigener Beitrag wird den Vor- und Nachteilen verschiedener Obsorgeregelungen gewidmet, da in Österreich 2001 (in Deutschland 1998) Änderungen im Kindschaftsrecht – nach einem sehr intensiven Diskussionsprozess – u. a. die geteilte Obsorge beider Elternteile, die „gemeinsame Obsorge“, nach einer Scheidung ermöglichen bzw. vorsehen. Die anschließenden beiden Kapitel fokussieren auf die Situation der getrennten Partner: Mit welchen Veränderungen müssen betroffene Frauen und Männer rechnen, was erschwert, was erleichtert die Reorganisation nach einer Scheidung bzw. Trennung, und wie gestaltet sich typischerweise die Situation für alleinerziehende Elternteile? Ein eigener Beitrag beschäftigt sich auch mit den Besonderheiten der – immer häufiger gelebten – Situation von Stieffamilien. Die letzten vier Kapitel beziehen sich auf Hilfsangebote für Scheidungsfamilien: Zuerst wird genauer auf das – in Österreich seit dem Eherechtsänderungsgesetzt 1999 gesetzlich verankerte – außergerichtliche Konfliktregelungsinstrument der Scheidungsmediation eingegangen. Ein weiterer Beitrag beschreibt Konzepte und Formen von Scheidungsberatungsangeboten, und die letzten beiden Abschnitte befassen sich schließlich mit Gruppeninterventionsprogrammen, insbesondere mit dem Konzept von „Rainbows“. Diese Programme setzen sich zum Ziel, Kindern, die von der Scheidung bzw. Trennung ihrer Eltern betroffen sind, zu helfen, mit ihrer Situation, ihren Sorgen und Nöten, besser zurecht zu kommen.

Literatur:
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Werneck, H. & Werneck-Rohrer, S. (Hrsg.). (2000). Psychologie der Familie. Theorien, Konzepte, Anwendungen. Wien: WUV | Universitätsverlag.






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