Ursprünge und Anfänge der Philosophie
Texte, zusammengestellt von Franz M. Wimmer (1998ff)


Im folgenden sind einige Belegtexte aus der europäischen Geistesgeschichte zusammengestellt, welche die Frage nach dem einen Ursprung oder mehreren Ursprüngen des Philosophierens betreffen. Die Texte sind chronologisch nach Jahrhunderten, innerhalb dieser Epochen alphabetisch angeordnet.

Autoren:

17.Jh.:    Bolduanus 1616
18.Jh.:    Barthelemy (dt. 1802), Diderot (dt. 1984), Gmeiner (1788), Heumann (1715), Klaus (1757), Montesquieu (dt. 1944) 
19.Jh.:    Ast (1807), Bachmann (1811), Hegel (ed. 1982), Kirchner (1896)
20.Jh.:    Burnet (1930), Gadamer (1993), Jaspers (1949), Kinyongo (1982), Mall und Hülsmann (1989), Moritz (1988), Nehru (dt 1958), Russell (dt 1962), Thomson (dt 1980)  


17. JAHRHUNDERT

Paulus Bolduanus: Bibliotheca philosophica
Lipsiae: Th. Schureri 1616
Aus der "epistula dedicatoria": Adam und Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie Gott lobpriesen und theoretische Untersuchungen über die Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des ersten Meisters, habe somit das "specimen philosophicum" begründet und Eva war seine erste Schülerin. Von Generation zu Generation wurde diese Urweisheit weitergegeben, und noch Noah habe in der Arche seine Söhne gelehrt; später folgten die Schulen des Abraham und des Moses, wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium", also eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"), die bis zur Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten werden als Philosophen betrachtet, und während des Exils der Juden in Babylon habe sich ihre Weisheit auch unter den Orientalen verbreitet, sei nach Persien gelangt, von wo dann die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst sei dann der wahre Meister gewesen, habe sich auch als solcher deklariert (Math. 23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern. Dieser heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber sei die profane Weisheit der Griechen und anderer Völker sekundär. (Referiert nach Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990)


18. JAHRHUNDERT

Barthelemy, Abbé de: Reise des jungen Anacharsis durch Griechenland vierhundert Jahre vor der gewöhnlichen Zeitrechnung. Bd. 3.
Wien: Franz Haas. 1802.
XXIX. Kapitel: Bibliothek eines Atheners. Das Fach der Philosophie (113-128)
115: Ich will mit dem philosophischen Fache anfangen. Dieß steigt nicht über Solons Jahrhundert hinauf, welcher vor ungefähr 250 Jahren blühte. Vorher hatten die Griechen Theologen, aber keine Philosophen. Die Dichter achteten wenig darauf, die Natur zu erforschen...
XXX Kapitel. Fortsetzung des vorhergehenden Kapitels. Rede des Oberpriesters der Göttinn Ceres über die ersten Grundursachen (129-155)
((Traum des Kallias:))
"Mir träumte einst, sagte Kallias zu mir, daß ich mich mit einemmahl auf einer Landstraße befände, mitten unter einer unermeßlichen Anzahl Menschen von allerley Alter, Geschlecht, und Stande. Wir gingen mit eilfertigen Schritten, und mit Binden vor den Augen; Einige stießen ein Freudengeschrey aus, die Mehresten waren voll Kummer und Verdruß. Ich wußte nicht, von wannen ich kam, und wohin ich ging. Ich befragte diejenigen hierüber, welche ich um mich sah. Ein Theil sagte: "Wir wissen es eben so wenig, wie du; aber wir folgen unseren Vordermännern und gehen vor unseren Hintermännern her." Andere antworteten: "Was kümmern uns deine Fragen! Siehst du, da sind Leute, die uns drängen; wir müssen sie also wohl wieder drängen." Andere, Aufgekläretere, endlich sagen zu mir: "Die Götter haben uns verurtheils, diese Bahn zu laufen; wir vollführen ihren Befehl, ohne an der eitlen Freude, noch an dem eitlen Kummer dieser Menge vielen Antheil zu nehmen." Ich ließ mich durch den Strom mit fortreissen, als ich eine Stimme hörte, welche rief: "Hier ist der Weg des Lich-
130: tes und der Wahrheit!" Ich folgte ihr, mit innerer Bewegung. Ein Mann ergriff mich bey der Hand, nahm mir die Binde ab, und brachte mich in einen Wald, dessen Finsterniß eben so groß, wie die vorige, war. Bald verloren wir die Spur des bis jetzt von uns betretenen Pfades, und begegneten einer Menge Leute, die sich gleich uns verirrt hatten. Ihre Führer wurden jedesmahl, wenn sie auf einander stießen, handgemein; denn es lag ihrem Eigennutze daran, sich einander diejenigen, welche ihnen folgten, abspänstig zu machen. Sie hatten Fackeln in den Händen, und ließen diese Funken sprühen, welche uns blendeten. Ich bekam oft einen andern Wegweiser; oft fiel ich in Abgründe; oft fand ich mich von einer undurchdringlichen Mauer aufgehalten: dann verschwanden meine Wegweiser, und ließen mich in den Schrecken der Verzweiflung. Ganz ermattet, bedauerte ich es, den Weg, worauf sich die große Menge befand, verlassen zu haben; und mitten in diesem Bedauern erwachte ich."
"O, mein Sohn! mehrere Jahrhunderte durchlebten die Menschen in einer Unwissenheit, welche ihrer Vernunft keine Quaal anthat. Sie begnügten sich mit den ihnen überlieferten verwirrten Sagen von dem Ursprung der Dinge; sie suchten nicht nach Kenntnissen, aber sie hatten Genuß. Allein seit ungefähr zweyhundert Jahren treibt eine innere Unruhe sie an, die Geheimnisse der Natur, von welchen sie vorher keine Ahndung hatten, zu ergründen; und diese neue Krankheit des menschlichen Geistes hat an die Stelle großer Vorurtheile große Irrthümer gesetzt."

Diderot, Denis: Artikel aus Diderots Enzyklopädie
Naumann, Manfred (Hg.)
Leipzig: Reclam 1984
77: Einige von denen, die den Ursprung der Philosophie zu ergründen suchen, machen nicht bei dem ersten Menschen halt, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, sondern schwingen sich zum Himmel auf, als ob die Erde keine Stätte wäre, die ihres Ursprungs würdig wäre. Sie suchen die Philosophie bei den Engeln, wo sie sie uns in ihrem vollen Glanz zeigen. ...
79: Ich versage mir das Vergnügen, hier zu beweisen, wie kläglich alle diese Gedankengänge sind, durch die man darlegen will, daß die Engel und die Teufel Philosophen, ja sogar große Philosophen seien. Lassen wir diese Philosophie der Bewohner des Himmels und der Unterwelt auf sich beruhen; sie ist uns zu hoch. Sprechen wir von der Philosophie, die den Menschen eigentlich zukommt und für die wir zuständig sind.
(Artikel: "Antediluvienne")

Gmeiner, Franz Xaver: Litterärgeschichte des Ursprungs und Fortgangs der Philosophie, Bd. I, II.
Grätz: 1788-89.
16: In Rücksicht nun des historischen Ursprunges der Weltweisheit machen viele unsern Stammvater Adam zum Urheber derselben, und beruffen sich deshalb auf die Erzählung des Moses, allein es ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob man in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas Zuverläßiges schöpfen könne.
16f: Da ... aus der Erzählung Mosis sich nicht schließen läßt, daß Adam eine solche Fertigkeit gehabt habe, so ist bei den ersten Menschen keine Philosophie im strengen Verstande zu suchen.
18: Indessen kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch würde man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man nicht zugeben wollte, daß sie ein undeutliches Kenntniß der ersten Grundwahrheiten hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in dieselben zeigt sich nicht die geringste Spur.

Heumann, Christoph August: (Hg.) Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. , Bd. I
Halle: 1715
290: Um nun alle Confusion, wie auch alle homonymie, zu vermeiden, so müssen wir den originem philosophiae Stuffenweis also beschreiben. Bey denen alten Hebräern finden wir den Ursprung (zwar nicht der Philosophie, aber doch) der schlechten und einfältigen Weissheit. In Chaldaea und Egypten, sonderlich aber in dieser letzten Landschafft, sind nicht nur allerhand Künste, sondern auch das Studiren (aber nicht das studium philosophicum) ausgeübet und cultiviret worden. Die Griechen haben zu erst die Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen, und zu philosophiren angefangen: jedoch also, dass sie anfänglich nur particulariter philosophirten, mit der Zeit aber auch systematice, und endlich gar universaliter und systematice zugleich, oder, mit einem Worte, pansophice. Von denen Griechen haben die Christen die Philosophie geerbet, welche, weil sie vollkommen reine Religion, und also eine göttliche Offenbarung darbey haben, auch die gelehrtesten Griechischen Philosophos an Weissheit übertreffen können.

Klaus, Michael: Brevis introductio in philosophiam comprehendens tum doctrinam tum historiam philosophiae.
Viennae: Trattner. 1757.
19: Ortum Philosophiae suum ad mundi exordium refert, & primum hominem, primum sui cultorem censet ... Et certe sine sapientia fieri non potuisse vel Plato (in Cratylo) existimavit, ut omne, quod vocavit Adam, animae viventis, ipsum sit nomen ejus (Genes. Cap. II, v.19)
((Inhalt:))
Marginalia 23ff:
Philosophia antiquissima.
Duplex est, Sacra & Barbara.
Sacra comprehendit Philosophiam Patriarcharum. Mosaicam. Regum Juda & Israel. Hebraeorum. Cabalistarum.
Barbara quadrifariam dividitur:
Orientalium prima, est Chaldaeorum, seu Astronomorum. Duplex partitio Chaldaeorum. Persarum seu Magorum. Indorum. Sinensium Triplex periodus. Malabarica. Siamensium. Sabaeorum. Phoenicum. Meridionalium, speciatim Aegyptiorum. In Mauretania Atlanticorum. Lybicorum.
Occidentalium Philosophiae: Celtarum cum primis. Celebres ist-hic Druidae. Bardi. Huc revocandi Tyrrheni. Hyperboreum Philosophia ad Thraces. Scythasque porrigitur. Veterum Chemica Secta huc forsitan referenda.
37: Antiqua Graeca Philosophiae
Origo philosophiae apud Graecos
Mythologicam consectari sunt Prometheus, Linus, Orpheus, Musaeus etc.; Politicam septem sapientes excoluerunt; Adulta jam apud Graecos Philosophie trifariam spectatur universe: Italica, Jonica, Eclectica.

Montesquieu, Charles de Secondat (1689-1755): Vom glücklichen und weisen Leben.
Stuttgart: Spemann. 1944.
150: Die Mythenschöpfer, die sich vor der schwierigen Aufgabe sahen, die Geschichte und das Geschlecht der
151: Götter zu entwirren, schlugen zwei Wege ein. Die einen - die Dichter und ihre Erklärer - unterschieden und vermehrten die Gottheiten. Die andern waren subtiler und wollten alles vereinfachen, auf eines zurückführen und miteinander verschmelzen; dazu gehörten die Philosophen.

19. JAHRHUNDERT

Ast, Friedrich: Grundriss einer Geschichte der Philosophie.
Landshut: Thomann. 1807.
S. 10: Den Bildungsperioden der Menschheit gemäß hat auch die Philosophie, in ihrem zeitlichen Leben betrachtet, Perioden, die ihren Elementen gleich sind; und zwar sind die Perioden der Geschichte der Philosophie Eins mit denen der Geschichte der Menschheit, weil die Geschichte der Philosophie ein Element der Geschichte der Menschheit ist. ... spiegelt sich in der Philosophie eines Volkes seine gesammte Bildung auf verklärte und geistige Weise ab, so wie umgekehrt der philosophische Geist eines Volkes nur aus der Gesammtanschauung seines äußeren und inneren Lebens begriffen werden kann. Denn alles ist von Einem Geist und Bildungsprincipe durchdrungen; alles steht in der innigsten Wechselwirkung mit einander, Klima, Boden, Staatsverfassung, Cultur, Künste und Wissenschaften. ...
Die Hauptperioden der Geschichte der Menschheit sind nach den Elementen des Lebens:
1) Die Periode der ungetheilten, in sich verhüllten Einheit ...: die Periode der orientalischen Menschheit, des goldenen (paradiesischen) Zeitalters.
S. 11: 2) Die Periode des aus der Einheit hervorgetretenen äußeren Lebens, das sich durch freie Bildung und öffentliche Gemeinschaft charakterisirt: Periode der griechischen und römischen Welt.
3) Die Periode des aus dem Aeusseren in das Innere in den Geist zurückstrebenden Leens: Periode der christlichen Welt.
4) Die Periode der einträchtigen Bildung des Aeusseren und Inneren zu Einem frei erschaffenen Leben: Periode der kommenden Welt.
S. 12: ... sind die Perioden der Geschichte der Philosophie ... nicht bloß dem Wesen nach mit den Perioden der Menschheitsgeschichte Eins, sondern auch zeitlich ihnen gleichlaufend. ...
S. 13: In die erste Periode der Geschichte der Philosophie fällt demnach der Orientalismus; in die 2te der Realismus der classischen Philosophie, in die 3te der Idealismus der christlichen Welt, und die 4te beginnt mit dem Streben des menschlichen Geistes, die Philosophie zur freien und bewußten Eintracht des Realismus und Idealismus zurückzubilden, also in das orientalische Leben zurückzukehren, oder vielmehr, mit Selbsterkenntniß und Freiheit aus der Eintracht der alten Welt und des Christentums die orientalische Bildung wieder zu erwecken.

Bachmann, Carl Friedrich: Über Philosophie und ihre Geschichte. Drei academische Vorlesungen.
Jena: Crökersche Buchhandlung. 1811.
74: ... ob man nämlich auch die orientalischen Völker, die Indier, Perser etc. in dieselbe aufnehmen, oder gleich bey den Griechen anheben solle. ... Die Entscheidung der Frage beruht auf der Ansicht der Philosophie.
((Philgesch. als Wissenschaft: Anfang bei den Griechen; wenn aber: Asien und Europa als Einheit; Orient ist Wiege der Menschheit; Vernunft und Gemüt als Quellen))
76: so verdienen sie allerdings einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Philosophie, wovon sie niemand ohne großes Unrecht vertreiben kann. ((Aber: Unterscheidung zwischen Mythen und Philosophie nötig:)) denn die mythologischen Dichtungen derselben sind eine in das Gewand der Poesie gekleidete Sammlung nationeller Sagen, Begriffe und Meynungen, die Lehren ihrer Weisen hingegen sind Resultate ihrer Forschungen über das Wesen der Gottheit und der Dinge.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
Zitierte Texte aus: Irrlitz, Gerd und Karin Gurst (Hg.): Bd. 1
Leipzig: Philipp Reclam jun. 1982
91: Anfang der Philosophie und ihrer Geschichte
In der Philosophie ist der Gedanke, das Allgemeine als Inhalt, der alles Sein ist. Dieser allgemeine Inhalt muß bestimmt werden; es wird sich zeigen, wie diese Bestimmungen nach und nach in der Geschichte der Philosophie hervortreten.
91:...da fängt die Philosophie an, wo das Allgemeine als das allumfassende Seiende aufgefaßt wird oder wo das Seiende in einer allgemeinen Weise gefaßt wird, wo das Denken des Denkens hervortritt. Wo ist nun dies geschehen? Wo hat dies begonnen? Das ist das Historische der Frage.
92: Der eigentliche Anfang der Philosophie ist da zu machen, wo das Absolute nicht als Vorstellung mehr ist, sondern der freie Gedanken - nicht bloß das Absolute denkt - die Idee desselben erfaßt...
Die Gesetzgebung, der ganze Zustand des Volkes hat seinen Grund allein im Begriffe, den der Geist sich von sich macht, in den Kategorien, die er hat. Sagen wir, zum Hervortreten der Philosophie gehört Bewußtsein der Freiheit, so muß dem Volke, wo Philosophie beginnt, dies Prinzip zugrunde liegen; nach der praktischen Seite hängt damit zusammen, daß wirkliche Freiheit, politische Freiheit aufblühe...
93: In der Geschichte tritt daher die Philosophie nur da auf, wo und insofern freie Verfassungen sich bilden. Der Geist muß sich trennen von seinem natürlichen Wollen, Versenktsein in den Stoff. Die Gestalt, mit der der Weltgeist anfängt, die der Stufe jener Trennung vorausgeht, ist die Stufe der Einheit des Geistes mit der Natur, welche, als unmittelbar, nicht das Wahrhafte ist. Das ist das orientalische Wesen überhaupt; die Philosophie beginnt in der griechischen Welt.
93: Abscheiden des Orients und seiner Philosophie
95: Der Geist geht wohl im Orient auf, aber das Verhältnis ist noch ein solches, daß das Subjekt nicht als Person ist, sondern im objektiven Substantiellen (welches teils übersinnlich, teils auch wohl mehr materiell vorgestellt wird) als negativ und untergehend erscheint. Das Höchste, zu dem die Individualität kommen kann, die ewige Seligkeit, wird vorgestellt als ein Versenktsein in die Substanz, ein Vergehen des Bewußtseins und so des Unterschiedes zwischen Substanz und Individualität, mithin Vernichtung. Es findet mithin ein geistloses Verhältnis statt, insofern das Höchste des Verhältnisses die Bewußtlosigkeit ist.
95: So unbestimmt die Substanz der Orientalen ist, so unbestimmt, frei, unabhängig kann auch der Charakter sein. Was für uns Rechtlichkeit, Sittlichkeit, ist dort im Staate auch - auf substantielle, natürliche, patriarchalische Weise, nicht in subjektiver Freiheit. Es existiert nicht das Gewissen, nicht die Moral; es ist nur Naturordnung, die mit dem Schlechtesten auch den höchsten Adel bestehen läßt. Die Folge davon ist, daß hier kein philosophisches Erkennen stattfinden kann.
96: Das Orientalische ist so aus der Geschichte der Philosophie auszuschließen; im ganzen aber will ich doch davon einige Notizen geben, besonders über das Indische und Chinesische. Ich habe dies sonst übergangen; denn man ist erst seit einiger Zeit in den Stand gesetzt, darüber zu urteilen. Man hat früher großes Aufsehen von der indischen Weisheit gemacht, ohne zu wissen, was daran ist; erst jetzt weiß man dies, und es fällt natürlich dem allgemeinen Charakter gemäß aus.
96: Beginn der Philosophie in Griechenland
96: Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft.

Kirchner, Friedrich: Geschichte der Philosophie von Thales bis zur Gegenwart, 3. Aufl.
Leipzig: Weber. 1896.
Zitiert nach der 4. Aufl. hg. v. Georg Runze Leipzig 1911
((Orientalische Philosophie?))
13: Der Orient, von geknechteten, unmündigen, phantastischen Volksherden bewohnt, konnte nur Religionssysteme, keine Philosophie hervorbringen. Was von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist Fabel oder Mißverständnis. Die Juden waren ohne philosophische Anlage. Zoroasters Zend-Avesta enthält neben der dualistischen Idee nur religiöse und physikalische Lehren, was darin Philosophisches ist, stammt von späteren, griechischen Einflüssen her. Von der bei den
14: Griechen viel gerühmten ägyptischen Weisheit wissen wir heute nicht mehr als damals, denn sie gehört ins Reich der Sage. Kongfutse und Laotse haben den Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische Mythologie über Himmel und Erde gebracht.
Ja, selbst die höchste dieser orientalischen Spekulationen, die indische, bietet unter grotesken, oft abenteuerlichen Sagen nur den einen großen Gedanken, daß alles aus der einen Naturkraft hervorgehe und in dieselbe zurückkehre ...
Aber hier, wie bei allen orientalischen Urkunden, macht die Unsicherheit der Zeitbestimmung jede genauere Angabe unmöglich.
13: Von Philosophieren kann erst bei den Hellenen die Rede sein. Dieses hochbegabte, unter glücklichem Himmel im günstigsten Lande wohnende Volk hat zuerst eine Ahnung von der Würde und Aufgabe des Menschengeistes gehabt.

20. JAHRHUNDERT

Burnet, J.: Early Greek Philosophy. London 1930 (4. Aufl., zuerst 1892)
V: Es war mein Bestreben, zu zeigen, daß mit den altionischen Lehrmeistern etwas Neues in die Welt trat - das, was wir Wissenschaft nennen - und daß sie zuerst den Weg wiesen, dem Europa seitdem immer gefolgt ist, so daß es, wie ich andernorts gesagt habe, eine angemessene Definition der Wissenschaft ist, wenn man sagt, sie ist ein "Denken über die Welt in griechischer Weise." Das ist der Grund, warum es nur bei den Völkern Wissenschaft gab, die unter den Einfluß Griechenlands geraten waren.
ders.: Greek Philosophy, Thales to Plato. London 1914
10: Die Griechen vollbrachten das, was sie taten, in erster Linie deshalb, weil sie geborene Beobachter waren. Die anatomische Richtigkeit ihrer Skulpturen in ihrer besten Periode beweist das, obgleich sie in ihrer Literatur nichts darüber sagen, da sie es für eine ausgemachte Sache hielten. Ferner versuchten die Griechen stets, eine rationale Erklärung der Erscheinungen, die sie beobachtet hatten, zu geben. Ihr Urteilsvermögen war außergewöhnlich, wie wir aus den mathematischen Werken, die sie uns hinterlassen haben, ersehen können. (Beide Zitate nach Thomson, Die ersten Philosophen, s.u., S. 134 und 135)

Gadamer, Hans Georg: Europa und die Oikoumene. In:
Gander, Hans-Helmuth (Hg.) Europa und die Philosophie
Frankfurt/M.: Klostermann 1993, S. 67-86.
68: Es ist im Grunde völlige Willkür, ob wir das Gespräch eines chinesischen Weisen mit seinem Schüler Philosophie nennen oder Religion oder Dichtung.
((Vergleichbares treffe auf indische Traditionen zu. Es sei der)) Begriff der Philosophie ... noch nicht auf die großen Antworten anwendbar, die die Hochkulturen Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen, wie sie in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden, gegeben haben.

Jaspers, Karl: Ursprung und Ziel der Geschichte
Frankfurt/M.: Fischer 1956 (zuerst: 1949)
Charakteristik der Achsenzeit
In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, - in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, - in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, - in Palä-
15: stina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, - Griechenland sah Homer, die Philosophen - Parmenides, Heraklit, Plato - und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten.
Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. ...
Es erwuchsen geistige Kämpfe mit den Versuchen, den andern zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen. ...
In diesem Chaos wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan.
Durch diesen Prozeß wurden die bis dahin unbewußt geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit die überlieferte Substanz noch lebendig und wirklich war, wurde sie in ihren Erscheinungen erhellt und damit verwandelt.
Das mythische Zeitalter war in seiner Ruhe und Selbstverständlichkeit zu Ende. Die griechischen, indischen, chinesischen Philosophen und Buddha waren in ihren entscheidenden Einsichten, die Propheten in ihrem Gottesgedanken unmythisch. Es begann der Kampf gegen den Mythos von seiten der Rationalität und der rational geklärten Erfahrung (der Logos gegen den Mythos), - weiter der Kampf um die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen, die es nicht gibt, - und der Kampf gegen die unwahren Göttergestalten aus ethischer Empörung gegen sie. ...
16: Diese gesamte Veränderung des Menschseins kann man Vergeistigung nennen. ... Der Mensch ist nicht mehr in sich geschlossen. Er ist sich selbst ungewiß, damit aufgeschlossen für neue, grenzenlose Möglichkeiten. ...
Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind. ...

Kinyongo, Jean: La philosophie africaine et son histoire. In: Les Études Philosophiques, Paris. 1982. Nr. 4, S. 407-418
407: L'on sait ... que pour certains théoreticiens de l'histoire, celle-ci se situe inéluctablement dans un cadre quadripartite comprenant une unité de lieu qui devrait être l'Europe; une unité d'origine qui ne serait que grecque; une unité de temps actualisée par le calendrier européen et une unité d'action qui s'enfonce bien loin dans le temps: des Présocratiques à M. Heidegger.
((Bekanntlich spielt sich nach gewissen Theoretikern die Geschichte innerhalb eines vierfachen Rahmens ab, der eine Einheit des Ortes kennt - der Ort ist Europa; eine Einheit des Ursprungs- dieser ist griechisch; eine Einheit der Zeit - im europäischen Kalender, und eine Einheit des Handelns, die sich über weite Zeiträume erstreckt, von den Vorsokratikern bis zu M. Heidegger. dt.: FW))

Mall, Ram Adhar; Hülsmann, Heinz: Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa.
Bonn: Bouvier. 1989.
56: Die heutigen gegenseitigen Kontakte der Kulturen, Philosophien und Religionen stellen eine nie dagewesene Herausforderung dar, und von dem Ausgang dieser Begegnung hängt die Zukunft der Menschheit ab. Bis jetzt haben die Philosophen, Hegel eingeschlossen, mehr oder minder eine Einheit gedacht, spekulativ sich vorgestellt und von einem bestimmten mehr oder minder nationalen philosophischen Standpunkt her, diesen fast immer verabsolutierend, das Schema einer Weltgeschichte der Philosophie entworfen. Heute ist ein solches Schema nicht mehr am Platze.
58f.: Wir sind der Ansicht, daß die Hegelsche Art der Geschichtsbetrachtung heute nicht nur nicht ausreicht, sondern prinzipiell verfehlt ist und einer interkulturellen Kommunikation im Wege steht. Dazu lassen sich folgende Gründe angeben: 1) Für Hegel gilt die Geburt Christi als die Achse der Weltgeschichte. ... Einem solchen Denken ist heute der Boden entzogen worden. 2) Die Geschichtsauffassung Hegels und auch die seiner Nachahmer zeugt von einer Glaubensthese, welche die gesamte Geschichte von einem Offenbarungsgeschehen oder spekulativ-ideologischen Denken her begreift. Das absolut Wahre ist uns weder in einer historisch lokalisierten Offenbarung noch in einer Ideologie gegeben. Ließe (59) man eine theologische Geschichtsdeutung zu, so müßte man gerechterweise dem religiösen Pluralismus entsprechend auch eine vielfältige gläubige Geschichtsdeutung zugestehen. 3) Die einheitliche Vernunft in der Geschichte ist ein Dogma. Daß in der Geschichte Vernunft herrscht, muß sich noch zeigen. Wer dem Fortschritt gegenüber skeptisch ist, ist deswegen kein Irrationalist.
195f.: Vergleicht man die indische Philosophie mit der europäischen, so stellt man sowohl verblüffende Ähnlichkeiten als auch erhellende Differenzen fest. Die Ähnlichkeiten bestehen in dem Befassen mit den Problemen der Welt, Seele, Immanenz, Transzendenz u.a. Zum Teil werden auch ähnliche Lösungsmöglichkeiten bzw. Theorien vorgeschlagen, freilich mit anderer Akzentuierung, unterschiedlicher Formulierung und Argumentation.
Die Differenzen treten bei Fragen auf, die für die indischen Philosophen von fundamentaler Bedeutung, während sie für die europäischen Philosophen nicht von Rang sind. Dies betrifft z.B. die Genesis (utpatti) und das Erfassen bzw. Gewahrwerden (jnapti) der Wahrheit (pramanya). Auch hier erkennt man den Brückenschlag zur Religion, das Intuitive, Unmittelbare, Spirituelle darf nicht außer acht gelassen werden.
Andererseits haben die indischen Philosophen einige für die europäische Philosophie sehr wichtige Fragen gar nicht gestellt oder nur oberflächlich behandelt: Erkenntnis in bezug auf Vernunft und Erfahrung, die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen, zwischen kontingenten und unbedingten Wahrheiten. Dies führt uns zu der Überzeugung, daß das Studium der europäischen Philosophie für die indische und das der indischen für die europäische nützlich ist. Wir vertreten eine Komplementaritätsthese hinsichtlich der beiden Philosophien.

Moritz, Ralf, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann: (Hg.) Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?
Berlin: Akademie-Verlag 1988
8: In Indien, China und Griechenland hat sich philosophisches Denken als solches autochthon ausgeprägt, wenngleich gerade in Griechenland Elemente anderer Kulturen - so Ägyptens - mit zur Schaffung von Voraussetzungen dafür beigetragen haben. Es fällt auf, daß dort, wo philosophisches Denken als solches autochthon entstanden ist, dies in deutlicher Distanz zu vorangegangenen religiösen Vorstellungen geschah ... (R. Moritz)

Nehru, Jawaharlal: Briefe an Indira. Weltgeschichtliche Betrachtungen.
Düsseldorf: Progress. 1958.
43: Um diese Zeit (= um 600 v., FW) gab es eine Anzahl großer Männer. Es waren die großen
44: Denker, die Begründer von Religionen in den verschiedenen Ländern, in China, Indien, Persien und Griechenland. Sie lebten nicht alle um die gleiche Zeit. Aber ihr Auftreten erfolgte immerhin in so dichter Zeitfolge, daß man das sechste Jahrhundert vor Christus ohne weiteres als eine hochinteressante Epoche bezeichnen kann. Damals muß eine Woge des Denkens um die ganze Welt gegangen sein, eine Woge der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen und der Hoffnung und Aussicht auf etwas Besseres.

Russell, Bertrand: Denker des Abendlandes. Eine allgemeinverständliche Geschichte der Philosophie.
Stuttgart: Belser. 1962.
10: Die Philosophie wie auch die exakte Wissenschaft beginnt dann, wenn jemand eine allgemeine Frage stellt. Das erste Volk, das eine solche Wißbegier zeigte, war das griechische. Die Philosophie und die exakte Wissenschaft, wie wir sie heute auffassen, sind griechische Entdeckungen. ... Weder vorher noch nachher geschah etwas Ähnliches. ...
Die Philosophie und die exakte Wissenschaft begann mit Thales von Milet im 6. Jahrhundert vor Chr.

Thomson, George: Die ersten Philosophen (=Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft Bd. 2). Berlin: Verlag Das Europ. Buch 1980 (4. Aufl., zuerst engl. 1955)
50: Die chinesischen Sprichwörter sind ebenso charakteristisch für die Frühkonfuzianer wie die griechischen für die Vorsokratiker. Aber das ist noch nicht alles. Die chinesischen Denker dieser Epoche befaßten sich, wie die griechischen, mit der Gesamtheit des Lebens, mit dem Menschen und mit der Natur. Ihr Ziel war, mittels rationaler Untersuchung ein wahres Bild von der Welt um sich herum zu gewinnen und nach der erkannten Wahrheit zu leben. Daher befaßten sie sich mit Ethik nicht weniger als mit Physik und suchten auf beide Wissenszweige die gleichen Grundsätze anzuwenden.


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Letzte Bearbeitung: 6. Dezember 1998
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