Franz M. Wimmer

Geschichtsschreibung als literarische Kunst. Hayden V. Whites 'Metahistory'


In: Neue Ansätze in der Geschichtswissenschaft, herausgegeben gemeinsam mit Herta Nagl-Docekal
Wien: VWGÖ 1984, 172 S. (= Conceptus-Studien 1), S. 153-162


Aus dem Text:

Hayden V. Whites Buch "Metahistory" darf gewiß als ein scharfsinniger und differenzierter Versuch angesehen werden, Möglichkeiten und Formen unseres Verhältnisses zur Geschichte zu beleuchten und aufgrund dieser Analyse allen Anspruch der Geschichtsforschung auf Wahrheitsfähigkeit und Wissenschaft zu leugnen. Dem Untertitel zufolge handelt es sich dabei (nur) um eine Darstellung der "historischen Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa", aber dies scheint mir eine Untertreibung zu sein. Tatsächlich spricht White über das geistige Unternehmen ,Geschichtsschreibung` überhaupt und behauptet sehr weitreichende Thesen darüber: daß es sich dabei nicht und in keinem Sinn um eine "Wissenschaft" (science) handle, daß die unterschiedlichen Formen der "Erklärung" (explanation) des Gegenstandes durch die "Modellierung" (emplotment) historischer Berichte (als "Romanze", Komödie", "Tragödie", "Satire") letztlich ebenso nur aufgrund "ästhetischer" und "moralischer" Kriterien einander vorgezogen würden wie die verschiedenen Formen der "Erklärung durch Schlußfolgerung" (argument), wovon er ebenfalls vier aufführt: die "formativistische, mechanistische, organizistische und kontextualistische" Erklärung. Und schließlich erkläre der historische Bericht seinen Gegenstand drittens stets auch durch "ideologische Implikation" (ideological implication) - auch hier werden vier Typen unterschieden: "Anarchismus, Radikalismus, Konservativismus und Liberalismus"(10) Einen Typus, in irgendeinem der drei unterschiedenen Erklärungsbereiche, der aufgrund rationaler oder wissenschaftlicher Kriterien anderen Typen vorzuziehen wäre, kann White nicht ausmachen; dazu ein Zitat aus dem Schlußkapitel:
"Es ist ... unzulässig zu sagen, Michelets Geschichtsauffassung sei durch
die ,wissenschaftlichere` oder ,empirischere` oder ,realistischere` Konzeption
Rankes widerlegt oder überwunden worden; oder das Werk Rankes sei durch
das noch ,wissenschaftlichere` oder ,realistischere` Werk Tocquevilles
gegenstandslos geworden; oder daß alle drei vom ,Realismus` Burckhardts
in den Schatten gestellt würden. Ebensowenig ist es mit irgendeiner
theoretischen Gewißheit möglich zu sagen, daß Marx`
Geschichtsidee ,wissenschaftlicher` sei als die Hegels, oder daß
Nietzsche in seinen Überlegungen zum Geschichtsbewußtsein mehr
,Tiefe` beweise als jene beiden. (561)
In keinem dieser Fälle läßt White also einen Vergleich zu, der auf einen Fortschritt in historischen Erkenntnisbemühungen, auf eine größere Zuverlässigkeit der Objektivität aufbaut; in jedem dieser Fälle handelt es sich nach White bloß um eine nach "ästhetischen" oder "moralischen" Gesichtspunkten getroffene Wahl einer Darstellungsform, einer Ideologie und einer passenden Argumentierweise. Dies ist es, was Rüsen in seiner Diskussion des Buches von der "Gefahr einer Entrationalisierung der Historiographie" sprechen läßt.

Zum Weiterlesen vgl. die Vorlesung Geschichtsphilosophie (2004-05)


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