Sexismus ohne Sexisten. Die acta philosopharum als Beispiel (1989)*
Tatsächlich ist die Methodologie,
so wie sie praktiziert wird,
von beispielloser Armut:
was zählt, ist das, wovon man spricht.
(F. Chatelet)
Die Abwesenheit von Philosophinnen in den allermeisten Darstellungen der Philosophiegeschichte ist eklatant. Nicht so eklatant ist die Abwesenheit von Philosophinnen in der Geschichte des philosophischen Denkens selbst.
Die Sprache der Historiographie in der Philosophie ist in mehrerer Hinsicht und ziemlich ohne Ausnahme sexistisch. Unter einer "sexistischen Darstellungssprache" in der Philosophiehistorie verstehe ich solche Beschreibungsbegriffe und Ausdrucksweisen, die stillschweigend oder ausdrücklich durch die bloße Verwendung von bestimmten Wörtern, semantischen Umfeldern und durch ähnliche Mittel — also ohne direkte Formulierung von Thesen oder deren Belegung durch Quellen — die Auffassung vermitteln, daß große Leistungen in der Philosophie ausschließlich durch Männer erbracht worden oder zu erbringen sind.
Offen sexistische Thesen, die zumindest
in der von mir durchgesehenen Literatur nicht vertreten werden, von
denen ich auch unterstelle, daß die Autor/inn/en sie nicht
vertreten, wären z.B.
——Echte Autoritäten in der Wissenschaft (der Philosophie) sind
immer Männer.
——Frauen sind in der Wissenschaft (in der Philosophie) zu
selbständigen Leistungen nicht fähig.
——Wichtige theoretische Neuansätze in der Wissenschaft stammen
stets von Männern.
——Ein in der Wissenschaft (in der Philosophie) behandeltes Thema, mit
dem sich vorwiegend oder ausschließlich Männer
beschäftig(t)en, ist von allgemeinem (Menschheits—) Interesse. Ein
Thema, mit dem sich vorwiegend oder ausschließlich Frauen
befassen, ist nur für Frauen von Interesse und führt zu deren
Ghettoisierung.
Ich brauche, wie gesagt, nicht anzunehmen, daß eine dieser Thesen ausdrücklich vertreten wird, um zu bemerken, daß in der Wissenschaft der Philosophie (und wohl auch in anderen Disziplinen) derartige Sprech—, Schreib— und Leseregeln befolgt werden, die nur dann einen vernünftigen Sinn ergeben, wenn eine oder mehrere dieser problematischen Thesen zumindest als plausibel angenommen werden.
Sexismus ohne Sexisten liegt etwa dann vor, wenn keine Thesen über eine (wissenschaftliche, intellektuelle, soziale, moralische etc.) Unterlegenheit eines der beiden Geschlechter, in unserer Historiographie zumeist des weiblichen, im Verhältnis zum anderen Geschlecht behauptet, bzw. wenn solche Thesen bei Gelegenheit sogar ausdrücklich geleugnet, aber dennoch Verhaltensweisen und sprachliche Handlungsweisen praktiziert werden, die nur bei Annahme solcher Thesen einen vernünftigen Sinn ergeben.
Es scheint mir, daß Sexismus ohne Sexisten ein ziemlich verbreitetes Phänomen der Gegenwart ist, auch im Bereich der (Human—)Wissenschaften. Das erklärt sich einfach: es scheint untunlich und beinahe unmöglich, gegen die heute bekannten Daten kultursoziologischer, psychologischer und historischer Art, sowie gegen die durch die zweite feministische Bewegung gewonnenen Möglichkeiten für Frauen, sich öffentlich zu Wort zu melden, klar sexistische Thesen in der Weise zu vertreten (etwa in akademischen Abhandlungen), wie wir das noch bei Weininger und Möbius finden. In dieser offenen, erklärten Form findet sich Sexismus meines Wissens nicht mehr im akademischen Diskurs (wenngleich bei Personal— und ähnlichen Entscheidungen immer noch Stereotype von weiblichem Denken etc. an entscheidenden Stellen der Diskussion genannt werden können). In erklärter, thesenartiger Form findet sich also Sexismus heute nicht unter Philosophen oder Philosophiehistorikern.
Hingegen fällt es gar nicht sehr schwer, im Sprachverhalten von Philosophen und, wenn auch weniger, von Philosophinnen der Gegenwart Sexismus festzustellen. Das spricht nicht für ein durchgehend verbreitetes oder wirksames kritisches Bewußtsein dieser Disziplin ihrem Sprachverhalten gegenüber — was allerdings in einem Fach, das so sehr wie die Philosophie auf Ausdrücke, Begriffe und deren Klarheit angewiesen ist, kein geringes Manko darstellt.
Beim Sammeln des Materials, an dem ich die Hypothese prüfen wollte, bin ich auf eine (naiverweise) nicht erwartete Schwierigkeit gestoßen. Da ich solche Arbeiten (Bücher oder Aufsätze), die sich ausdrücklich mit Problemen der Vernachlässigung der Leistung von Frauen, oder mit Fragen der Emanzipation von Frauen befassen, nicht heranziehen wollte (aus der Erwägung, daß deren Autor/inn/en in der fraglichen Angelegenheit untypisch, weil überdurchschnittlich sensibel bezüglich bestehender Diskriminierungen seien), ergab sich schlicht das Problem, daß in den meisten meiner Quellentexte Frauen nicht in erkennbar diskriminierender Weise genannt oder zitiert wurden, weil sie nämlich überhaupt nicht vorkamen. Auch daraus läßt sich natürlich einiges schließen, nur läßt sich eben leider bloß vermuten, wie Darstellungen aus den Acta Philosopharum aussehen würden, die nicht existieren.
Interpretationsregel 1: Immer wenn eine philosophische Autorität ohne Geschlechtsindex eingeführt oder genannt wird, ist vorauszusetzen, daß sie männlichen Geschlechts ist.
Die erwähnten Geschlechtsindices können
von zweierlei Art sein:
a) geschlechtsspezifische Titel (wie "Miß, Madame" u.ä.)
b) Vornamen
a) Der Zusatz von Titeln, die rein der
Geschlechtsangabe dienen (im Gegensatz zu solchen Titeln, die die
akademische Rangordnung betreffen, wie z.B. "Professor") kommen meiner
Erfahrung nach in der philosophiehistorischen Literatur nur bei Frauen
vor. Hierbei ist demnach ein Vergleich mit männlichen Autoren
nicht möglich, und ich lasse den Sachverhalt daher uninterpretiert.
b) Der Fall der Verwendung von Vornamen in der
philosophiehistorischen Darstellungssprache ist nicht eindeutig, es
muß daher erläutert werden, was damit gemeint sein kann.
Erstens kann der Vorname bei einer zitierten oder genannten Autorität andeuten, daß der/die Darstellende ein besonders nahes oder besonders ehrfürchtiges Verhältnis zu dieser bestimmten Autorität zum Ausdruck bringen will. Das kann so weit gehen, wie es derzeit etwa bei Vertretern des Kritischen Rationalismus gelegentlich vorkommt, daß Popper nur noch als "Sir Karl" zitiert wird. In den meisten Fällen solcher Art bleibt es jedoch bei der Nennung des Vornamens zusammen mit dem Familiennamen (wie: "Immanuel Kant"). Ein besonders nahes, vielleicht persönlich—freundschaftliches Verhältnis (wenn es sich um Zeitgenossen von geringerem Berühmtheitsgrad handelt) kann ebenfalls durch die Nennung des Vornamens dem Leser suggeriert werden. All dies ist an sich noch keineswegs als sexistisches Sprachverhalten zu kennzeichnen.
Jedoch ist zu bedenken, daß aufgrund der generellen Abwesenheit von Frauen in jenen mentalen Listen von Autoritäten, die in der Philosophie und deren Historiographie offensichtlich weitergegeben und verstärkt werden, Philosophinnen als Kandidatinnen für solche selbstverständliche Autorität ohnedies kaum vorkommen. Es gibt also, um es anders zu sagen, keine "Miß Elizabeth" neben einem "Sir Karl". (Daß es sehr wohl eine "Miß Anscombe" gibt, rechne ich der oben erwähnten, bei männlichen Autoritäten nicht vorkommenden Verwendungsform zu.)
Der Vollständigkeit wegen möchte ich hier anmerken, daß es zwar (in feministischer Literatur) gelegentlich die damit vergleichbaren Nennungen "Rosa" (für Rosa Luxemburg) oder "Simone" (für Simone de Beauvoir) gibt, daß dies aber doch faktisch innerhalb der philosophiehistorischen Literatur insofern einen anderen Stellenwert hat, als eben im Leserbewußtsein (so etwa in meinen eigenen Assoziationen) hierbei die Gedankenverbindung mit einem speziellen, dem feministischen Diskurs, vielleicht sogar mit einem ghettoisierten Diskurs gegeben ist — wogegen die Nennung von "Sir Karl" mir lediglich suggeriert, daß hier die Zugehörigkeit zu einer (vielleicht umstrittenen, vielleicht von mir abgelehnten, aber jedenfalls) bedeutsamen Schule innerhalb des allgemeinen philosophischen Diskurses der gegenwärtigen Menschheit signalisiert wird. Ich habe diese letzte Zuordnung absichtlich so geschwollen formuliert, denn das ist tatsächlich gemeint.
Eine zweite Verwendungsform des Vornamens in philosophiehistorischen Darstellungen findet hingegen tatsächlich bei Philosophinnen Anwendung, und diese ordne ich eindeutig einer sexistischen Darstellungssprache zu. Ich möchte den/die Leser/in bitten, folgende zwei Sätze gemäß seinen/ihren Lesegewohnheiten zu lesen:(1) The British
philosopher Langer has deeply influenced contemporary thinkers in the
field of aesthetics.
Falls Sie
Langer kennen, wird Ihnen beim folgenden Satz nicht viel auffallen.
Aber vielleicht sind Sie sogar dann von der Ausdrucksweise leicht
irritiert.
(2) She has
elaborated the views of E. Cassirer.
Die Vermutung meinerseits war, daß die meisten Leser/innen, sofern sie Langer nicht ohnedies kennen, das She im zweiten Satz auch dann nicht erwarten, wenn hier doch nur von einer Fortsetzung der Arbeit des Meisters die Rede ist. Ich habe für das Beispiel Englisch deswegen gewählt, weil im Deutschen schon die Geschlechtsneutralität des ersten Satzes bei gleichzeitiger Verwendung von respekteinflößenden Epitheta nicht möglich gewesen wäre (sondern nur etwa in der Form Langer hat beeinflußt oder ähnlich).
Ich habe einige Versuche gemacht, die angeführte Vermutung auch empirisch zu überprüfen, darüber habe ich keinerlei Zahlen, und es kommt auch nicht darauf an. Ich will die Beurteilung der Sachlage jeder/jedem Leser/in überlassen, da es ja schließlich in solchen Fragen lediglich darauf ankommen kann, eigenes Sprachverhalten zu korrigieren und bei anderen auf die Korrektur zu drängen; tatsächlich erwarten die wenigsten Leser/innen das She, wenn vorher die Respektfigur aufgebaut wurde. Belegbar ist jedenfalls, daß im Fall der Nennung von Frauen in der Philosophiehistorie — unter den 'ganz Großen' des Faches kommen sie ja überhaupt nicht vor — in der Regel ihr Vorname angeführt wird. Ich möchte dieses seltsame Verhalten mit einer seltsam klingenden, aber recht ernstgemeinten und weitreichenden Hypothese zu erklären suchen:
Die Nennung des Vornamens bei den 'ganz Großen' soll dem/der Leser/in in Erinnerung rufen: Auch er war (noch) ein Mensch (obwohl er fühlte, sterblich war, gelegentlich irrte).
Hingegen soll die Nennung des Vornamens bei Philosophinnen gerade von der entgegengesetzten Seite her den/die Leser/in einstimmen: Auch sie ist (bereits) ein denkender, kompetenter Mensch (obwohl sie eine Frau ist).
Wenn diese Hypothese einiges für sich hat,
so besagt sie, daß hier ein Sprachverhalten vorliegt, wie es auch
sonst angesichts der Leistungen von Angehörigen von (qualitativen)
Minderheiten festzustellen ist: an sich seien diese als latent
inkompetent vom ernstzunehmenden Diskurs der Menschheit
auszuschließen, doch gebe es immer wieder einzelne Individuen,
die aus der anonymen Masse herausragten und in der Darstellung von ihr
abzusondern seien. Bei Frauen kann es dann durchaus vorkommen,
daß ihnen männliches Denken oder eine andere
lobenswerte Qualifikation zugesprochen wird (wie einzelne
schwarzafrikanische Literaten und Intellektuelle dieses Jahrhunderts
auch gelegentlich wohlmeinend als gar keine echten Neger apostrophiert
worden sind).
Interpretationsregel 2: Die Abhängigkeit einer Philosophin von (meist männlichen) Lehrern oder Meistern ist relativ größer und schwerer zu überwinden als dies bei männlichen "Jüngern" der Fall ist.
Zur Orientierung der Leserschaft wird es, wenn diese Regel stimmt, häufiger bei einer Philosophin als bei einem Philosophen vorkommen, daß ihre Affiliation zu einem anerkannten Meister, Schulgründer, großen Philosophen angegeben wird. Auch die Ausdrucksweisen, mit denen solche Sachverhalte ausgesprochen werden, dürften verschieden sein: bei Männern liest man eher, sie stehen nahe, sind beeinflußt von, sind (z.B.) Marxisten, Kritische Rationalisten, Phänomenologen etc. An vergleichbaren Stellen erfährt man über Frauen eher, sie seien Schülerin von, stehen in der Nachfolge von, gehören der x—Schule an etc.
Zwei weitere Interpretationsregeln könnten hier formuliert und belegt werden:
Interpretationsregel 3: Wenn ein theoretisch bedeutender Neuansatz in der Philosophie auftaucht, so ist ein männlicher Philosoph als dessen Schöpfer anzunehmen.
Interpretationsregel 4: Wenn eine Philosophin ein Thema behandelt, das männliche Philosophen nicht behandeln, so ist dieses Thema nicht von allgemeinem, systematisch—philosophischem Interesse. Das Umgekehrte trifft nicht zu.
Die vier genannten und eventuell weitere Regeln sind zugleich Schreib— und Lese—Regeln in philosophiehistorischer Literatur der Gegenwart. Es ist daher anzunehmen, daß, wenn derzeit ein sehr hoher Prozentsatz der philosophischen Texte nach solchen Regeln der Sprachverwendung (von zumeist männlichen Autoren) geschrieben werden, die entsprechenden Lese—Gewohnheiten (bei weiblichen wie bei männlichen Lesern) ziemlich gut entwickelt und internalisiert sind. Vorschläge, wie sie zu einer Änderung der Sprache (auch der Wissenschaftssprache) von Linguistinnen/en vorgebracht werden, müssen daher zunächst als verwirrend erscheinen; sie sind nichtsdestoweniger notwendig, wenn die in solchen kollektiven Gewohnheiten wirksamen Mechanismen des Abgrenzens und des Vor—Beurteilens durchschaut und kritisiert werden sollen.
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