Innerhalb des Bildes der Philosophiegeschichte, das standardmäßig die „philosophia barbarica“ als älteste (und höchste) Stufe menschlicher Weisheit sah und darstellte, nimmt die Frage nach einer Philosophie in China, von der man weder aus der Bibel noch aus antiken Quellen etwas wusste, eine besondere Stellung ein.


Seit den ersten neuzeitlichen Berichten über China war die Frage virulent, von wem die Bewohner dieses Landes abstammen könnten. Da es Nachrichten darüber gab, dass sie sehr weit in die Vergangenheit reichende Annalen hätten, kam im Rahmen eines biblisch geprägten Bildes der Menschheitsgeschichte nur jemand in Frage, der nicht lange nach der Sintflut gelebt hatte. Deren Datum war mehr oder weniger errechnet, und älter konnte kein Volk sein, denn die biblische Flut hatte bekanntlich alle Menschen verschlungen, die nicht mit Noah in der Arche überlebten. In einer 1585 erschienenen spanischen Geschichte Chinas sind es darum Noahs Enkel, die als erste Chinesen anzunehmen sind.1 Andere Autoren nahmen Ham, Noahs Sohn, als identisch mit „Fo hi“ (Fu Xi) dem ersten der mythischen Urkaiser der Legende an, von dem die chinesischen Annalen selbst sprachen. Ein geologisch-archäologisches Werk zu Ende des 17. Jahrhunderts klärt die Frage vorläufig: „… the Chinese mean no other by their first Monarch Fohi, than Noah himself.“2 Die Sache ist darum von Interesse, weil ja die „vorsintflutliche“ Philosophie häufig als höchste Form der Weisheit eingestuft wurde, zumal sie auf göttliche Uroffenbarung an Adam im Paradies zurückging. Und wer, wenn nicht Noah oder seine direkten Nachkommen, konnte von dieser Weisheit etwas über die große Flut gerettet haben? Gottsched übernimmt die These 1734 in seiner Darstellung der „Weltweisheit“3, sie findet sich bei einer Reihe von Autoren, und noch 1827 schreibt Windischmann4 die Besiedlung Chinas biblisch-patriarchalischen Geschlechtern von Westen her zu.


Perioden der Menschheitsgeschichte:

Ein Schulbuch von 1725 gibt beispielsweise folgende sechs Zeitalter an:

1) Adam bis Sintflut: 1 - 1657 anno mundi (a.m.)

2) Noah bis Abraham: 1658 - 2039 (382 J.)

3a) Abraham bis Tod Moses: 2039 - 2583

3b) Kadmus (griech. Schrift) bis Untergang Trojas: 2601 - 2871

3c) Samson bis Saul: 2880 - 2962

4a) David bis Oseas: 2969 - 3314

4b) Ezechias bis babylon. Gefangenschaft: 3322 -3446

5) Nabuchodonosor bis Tod Cäsars: 3464 - 4011

6) Geburt Christi - : 4052 a.m. = 1 bis. .. gegliedert in (bisher) xviii saeculi, mit Ereignissen für jedes bis 1700

Aus: Amadeus a S. Josepho: Institutio Syntactica Emmanuelis Alvari Sententiis, Proverbiis et Exemplis maxime Historicis ab Orbe Condito usque ad Nostram Aetatem Instructa. Pragae: Typis Wolffgangi Wickhart, 1725.


Nach dem „annus mundi“ oder „Jahr der Welt“ (J.d.W.) zu berechnen, hält sich ziemlich lang. Mein derzeit spätester Beleg dazu in einer allgemeinen Geschichte der Philosophie ist (wobei ich nicht verglichen habe, ob hier dieselbe Berechnung wie im vorigen Beispiel vorliegt):

Johann-Gottfried Gurlitt: Abriß der Geschichte der Philosophie. Zum Gebrauch der Lehrvorträge. Leipzig: J. G. Müller, 1786.

mit der Überschrift:

Zweytes Hauptstück. Philosophie der Griechen in Klein-Asien, Unteritalien und dem eigentlichen Griechenland, vom J.d.W. 2500 (Orpheus) bis 3850 (Karneades)

vgl.: https://books.google.at/books?id=g9VRAAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s


Die (sehr unterschiedlichen) Berechnungen des „annus mundi“ stellt zusammen:

Gabriel Bucelinus: Der gantzen Universal Historia Nußkern / Darinnen selbige auf das kürtzeste und annehmlichste / nit allein auf die Jahr / sondern auch Tag gebracht / die gantze heilige Schrifft / ja auch beynebens alle Heydnische / Assyrische / Medische / Persische / Griechische / Römische und anderer Landen Geschichte / in liebster Kürtze mit einverleibt worden. Etc. Ulm: Johann Gorlins Seel. Wittib, 1678. (Faksimile Druck: Antiqua-Verlag, Lindau 1977.)


Die Frage nach dem Datum der Sintflut – in dem obigen Beispiel von 1725 mit 2395 vor Christi Geburt, bzw. 1657 nach Erschaffung der Welt angenommen – war von Bedeutung (auch) für Philosophiehistoriker, die die Geschichte der vorsintflutlichen (letztlich auf die Uroffenbarung an Adam zurückgehende) Philosophie beschrieben. Und die Frage hatte ihre Tücken, zumal aus den Annalen der Chinesen zu erfahren war, Fo Hi habe als Kaiser bereits 2952, also fast 600 Jahre vor der universalen Flut, regiert, so schreibt:

Philippe Couplet SJ: Tabula chronologica monarchiae sinicae. Viennae: Leopold Voigt, 1703. (Erstdruck: 1686 Paris)

S. 1: Qui annales Sinarum conscripserunt, omnes fere ab eo, qui Imperii conditor fuit, Fo hi dictus, ordiuntur. Hic autem coepit imperare anno ante Christum 2952.
vgl http://books.google.at/books?id=FOxAAAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de#v=onepage&q&f=false

Eine einfache Lösung – die Chinesen haben falsch gerechnet – stellte sich als nicht so einfach heraus. Aber das ist eine lange Geschichte.


1Gonzalez de Mendoza: Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del Gran Reyno de la China. Roma: Vincentio Ascolti, 1585, S. 11: „ay opinion, que los primeros, que le poblaron, fueron los nietos de Noe“.

2William Whiston: A New Theory of the Earth. From Its Original, to the Consummation of All Things. Wherein the Creation of the World in Six Days, the Universal Deluge, and the General Conflagration, as Laid Down in the Holy Scriptures, are Shewn to be Perfectly Agreeable to Reason and Philosophy. London: Benjamin Tooke, 1708, S. 140. (Erstdruck: 1696)

3Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Hg.: P.M. Mitchell. 7. Aufl., (Ausgewählte Werke Bd. 5,1). Berlin: de Gruyter, 1983. (EA: 1734; Erstdruck der 7. Aufl. letzter Hand: 1762), S. 23f.: „… nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist ...“ und führt die These, weil sie in Deutschland „nicht sehr bekannt“ sei, mit elf Argumenten aus.

4Carl Josef Hieronymus Windischmann: Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte. Erster Theil: Die Grundlagen der Philosophie im Morgenland. Erste Abtheilung. 3 Bde. Vol. 1. Bonn: Marcus, 1827, S. 19 und 85.