Ich will Ihnen jetzt ein wenig zu Ludwig Wittgensteins Buch "Tractatus
Logico-Philosophicus" erzählen. Davor muss ich eine kleine
Vorwarnung platzieren, die wohl für alle Texte gilt, die wir uns
in diesem Semester ein bisschen genauer, aber natürlich nicht
wirklich genau anschauen: Das ist ein notorisch schwieriger Text, dem
oft einzelne Lehrveranstaltungen über ein Semester und manchmal
ganze Gelehrtenleben gewidmet werden. Ich werde also nicht mehr als
Stichworte liefern können, die vielleicht zu Ihrer eigenen
Lektüre anregen. Dabei folge ich zumeist Wittgensteins Jargon, was
vielleicht auch ein wenig gewöhnungsbedürftig ist. Aber schon
im Vorwort steht ja: "Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen,
der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind [...] schon selbst
einmal gedacht hat." Ehrlich gesagt, kann ich nicht behaupten, solche
Gedanken wie Wittgenstein schon einmal gedacht zu haben. Aber mit der
Hilfe von Kommentaren und Einführungen (sh. Literatur) sollte es
gelingen, die zentralen Gedankenzüge nachzuvollziehen.
1. Der Entstehungskontext
Zunächst zum Entstehungskontext: Ludwig Wittgenstein wurde am 26.
April 1889 in Wien geboren, in eine reiche jüdische
Industriellenfamilie. Nach der Schule besuchte er zunächst die
Technische Hochschule in Berlin, dann die Universität in
Manchester. Im Zuge seiner dortigen Studien begann er, sich mit
mathematisch-logischen Probleme auseinanderzusetzen. Die
Beschäftigung mit einer Antinomie Russells aus der Mengenlehre
bewog ihn schließlich – wahrscheinlich auf Anraten Freges, den
Wittgenstein 1911 in Jena besuchte --–, Logik und Philosophie in
Cambridge zu studieren. Dort verkehrte er bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges in einem äußerst anregenden Umfeld: Neben dem
Freund und Mentor Russell lernte Wittgenstein Moore und Keynes kennen.
Bald entwickelten sich Wittgenstein zum intellektuellen Zentrum der
philosophischen Debatten. Immer wieder kehrte er aber Cambridge den
Rücken zu, um in Norwegen, in einem kleinen Haus, alleine zu
arbeiten. In Norwegen scheint Wittgenstein auch mit jenen
Tagebuchaufzeichnungen begonnen zu haben, die später den
Grundstock für den "Tractatus" bilden sollten. Während des
Weltkrieges diente Wittgenstein als Freiwilliger und wurde mehrfach
ausgezeichnet. Selbst während seiner Kriegsgefangenschaft in
Italien gelang es ihm, weiter mit seinen Notizen fortzufahren. Der
Tractatus wurde schließlich 1921, nach längerer
Verlagssuche, in den "Annalen der Naturphilosophie"
veröffentlicht. Diese erste Publikation war noch voller Fehler und
Ungenauigkeiten, die erst in der englischen Übersetzung durch
Ogden (und Ramsey) behoben wurden. Russell hat zu dieser
Übersetzung auch ein Vorwort verfasst, mit dem Wittgenstein aber
keineswegs einverstanden war. Im "Tractatus" sind Spuren
vielfältiger Beeinflussung zu bemerken. Zum einen gibt es
explizite Bezugnahmen auf Russell und Frege im Vorwort. Wittgenstein
scheint jedoch auch andere Philosophen und Naturwissenschaftler wie
Hertz, Boltzmann und Schopenhauer intensiv rezipiert zu haben. Im
Gesamtwerk Wittgenstein ist der "Tractatus" der Gründungstext
für den Korpus von "Wittgenstein I".
2. Zum Inhalt
Die Struktur des Buches ist sehr streng. Als Grundgerüst dienen
sieben Grundsätze oder Thesen, die, so wie alle Absätze des
"Tractatus", durchnummeriert sind. An diese Grundsätze sind, einem
Dezimalsystem folgend, erläuternde Bemerkungen angeschlossen. Der
Satz 1.1 stellt also eine Erläuterung oder Vertiefung des Satzes 1
dar, und der Satz 1.11 verfährt ebenso mit Satz 1.1. Insgesamt
beinhaltet der "Tractatus" etwa 500 Thesen. Die strikte Gliederung sagt
aber nichts über das jeweilige argumentative Gewicht der Thesen
aus – so ist etwa unter der Nummer 4.0312, also an wenig prominenter
Stelle, der "Grundgedanke" des Buches zu finden. Die Nummerierung ist
also für die Lektüre durchaus nützlich, aber man sollte
sich nicht immer sklavisch daran halten. Jedenfalls sind die Thesen
nicht in Form eines Syllogismus (Prämisse – Konklusion)
formuliert. Ich werde Ihnen nun in Stichworten zusammenfassen, welche
Thesen im "Tractatus" verteidigt werden.
In den Thesen 1 und 2 behauptet Wittgenstein, dass die Welt die
Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Gegenstände, ist, und dass
Tatsachen bestehende Sachverhalte sind. Ein Sachverhalt wiederum ist
eine Verbindung von Gegenständen. Wittgenstein meint, dass ein
Gegenstand einfach ist und daher die Verbindung von Gegenständen –
der Sachverhalt – komplex. Jeder Sachverhalt lässt sich also
zerlegen. Ab dem Satz 2.1 bewegt sich Wittgenstein von der Welt zum
Gedanken und schließlich zur Sprache, und um diese drei Themen –
Welt, Gedanke und Sprache – geht es ja im "Tractatus" an vorderster
Stelle. Dort heißt es dann: "Das Bild ist ein Modell der
Wirklichkeit." (2.12) Der Bild-Begriff ist im "Tractatus" von
größter Bedeutung. (Noch in den "Philosophischen
Untersuchungen" (115), wo Wittgenstein den Bild-Begriff zugunsten des
"Sprachspiels" aufgibt, schreibt er: "Ein Bild hielt uns gefangen. Und
heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien
es uns nur unerbittlich zu wiederholen.") Als Denkende und sprechende
machen wir uns Bilder von der Welt, in denen sich einzelne Elemente auf
bestimmte Weise zu einander verhalten. Jedes dieser Elemente bildet
einen Gegenstand im Sachverhalt ab. Die logische Struktur des Bildes
ist also isomorph oder gleichförmig mit der logischen Struktur des
Sachverhaltes, den es abbildet. Die logische Form verbindet das Bild
und das Abgebildete miteinander.
In These 3 sagt Wittgenstein, dass das logische Bild der Tatsachen der
Gedanke ist. Satz 4 behauptet, daran anschließend, dass der
Gedanke der sinnvolle Satz sei. Ein Gedanke lässt sich mittels
eines "Satzzeichens" sinnlich ausdrücken. Auch hier gilt wieder
die Abbildtheorie: Der komplexe Sachverhalt ist darstellbar, indem ein
komplexes Satzzeichen verwendet wird, das man zerlegen kann. Dann muss
es aber auch etwas geben, das nicht mehr zerlegbar ist – ein Analogon
zum einfachen Gegenstand auf der Ebene der Welt. Als Urzeichen
bezeichnet Wittgenstein den "Namen", und hier ist er ganz stark von
Frege beeinflusst. "Namen" alleine können aber nichts bezeichnen,
sondern bedeuten erst etwas im Satzzeichen. Das hat zur Konsequenz,
dass nur ein Satz sinnvoll oder unsinnig sein kann, wobei Sinn mit
Bezug auf die Welt synonym ist. Das bedeutet, dass nur im Satz die
Bezugnahme auf die Welt erfolgen kann. Sinnvolle Sätze können
wahr oder falsch sein, nicht-sinnvolle Sätze erfüllen diese
Bedingung nicht. Dazu gleich mehr. "Namen" alleine – und hier
unterscheidet sich Wittgenstein von Frege – können keinen Sinn,
keinen Bezug auf einen Gegenstand haben.
Aus dieser Annahme leiten sich weit reichende Folgen ab. Wittgenstein
möchte eine logische Zeichensprache entwickeln, die uns die
Grenzen der Sprache/Welt zu ziehen hilft. Die Logik basiert auf der
Idee, dass ein sinnvoller Satz entweder wahr oder falsch sein kann.
Entweder ist das Bild der Welt richtig oder es ist unrichtig. Auf einer
so genannten "Wahrheitstafel" lassen sich sämtliche logischen
Möglichkeiten darstellen. Mit Hilfe der aussagenlogischen
Konnektive kann man komplexe Sätze bauen und alle logischen
Möglichkeiten durchspielen. In These 5 wird schließlich die
Behauptung aufgestellt, dass der Satz eine Wahrheitsfunktion der
"Elementarsätze" ist. In diesem Zusammenhang lanciert Wittgenstein
auch eine Volte gegen die "traditionelle" Philosophie: Die sinnvollen
Sätze über die Wirklichkeit werden von der Naturwissenschaft
artikuliert. Auf diesem Feld hat die Philosophie nichts verloren, sie
kann nicht neben, sondern nur über oder unter der
Naturwissenschaft stehen. Dazu werde ich später noch ein bisschen
mehr erzählen.
Durch These 6, die in eine schwierig anmutende Form gekleidet ist, soll
geklärt werden, worin der Zusammenhang zwischen zusammengesetzten
und so genannten "Elementarsätzen" besteht. Wittgenstein sagt,
dass es eine "allgemeine Form des Satzes" gibt, und daraus ergibt sich,
dass alle sinnvollen Sätze denselben Wert haben. Zwischen den
Sätzen, die einen Bezug auf die Welt haben, gibt es also keine
Rangordnung. Am Schluss des Buches zieht Wittgenstein einige
Konsequenzen aus dieser Theorie zum Verhältnis zwischen Welt,
Gedanke und Sprache: Ethik und Ästhetik sind nicht in der Lage,
sinnvolle Sätze zu produzieren, weil sie etwas Höheres
ausdrücken wollen als die Tatsachen. Sinnvolle Sätze kann,
wie gesagt, nur die Naturwissenschaft hervorbringen. Die Logik wiederum
besteht aus Tautologien (oder Kontradiktionen); das bedeutet, dass
logische Sätze nichts sagen oder beschreiben, aber trotzdem von
Nutzem sind, weil sie die formalen Eigenschaften der Sprache/Welt
zeigen. Das berühmte Ende des "Tractatus", der Satz 7, lautet:
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."
Neben der von Wittgenstein selbst fabrizierten Struktur kann man den
"Tractatus" eigentlich in drei Sektionen einteilen: 1. den sehr
apodiktischen, "ontologischen" Anfang, der einmal mit einem
"Schöpfungsmythos" verglichen wurde; 2. die sprachlogischen
Ausführungen des Mittelteils; 3. die Mystik des Endes. Die
große Faszination, die der "Tractatus" bereits im unmittelbaren
Anschluss an seine Veröffentlichung auf Leute wie Russell, Carnap
oder Schlick ausgeübt hat, scheint auch damit
zusammenzuhängen, dass Wittgenstein alle drei Probleme mit einem
Lösungsvorschlag anzupacken versucht. In einem Brief schreibt
Wittgenstein trotzdem einmal, dass der wichtigste Teil des "Tractatus"
derjenige sei, der nicht geschrieben wurde.
3. Ein Thema: Philosophie
Ich möchte aus der Vielfalt der Themen, die im "Tractatus"
behandelt werden, eines herausgreifen und kurz vorstellen: nämlich
die Frage, welche Rolle der Philosophie im "Tractatus" zukommt. Im
Vorwort meint Wittgenstein: "Das Buch will also dem Denken eine Grenze
ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der
Gedanken. Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir
beide Seiten dieser Grenze denken können [...]." Nachdem
Wittgenstein die Bedingungen festgelegt hat, unter denen Sätze
Sinn haben können, hat er den Naturwissenschaften die Aufgabe
übertragen, innerhalb dieser Grenze zu agieren. Sinnvolle
Sätze können wahr oder falsch sein, sie unterliegen den
Wahrheitsbedingungen der Logik. Vieles von dem, was wir für
gewöhnlich als sinnvolle sprachliche Äußerung erachten,
steht für Wittgenstein außerhalb der Grenze des Sagbaren: Es
ist entweder unsinnig oder sinnlos. Diese Unterscheidung ist
fundamental, weil die Logik sinnlos ist, während Ethik und
Ästhetik mit dem Etikett "unsinnig" versehen werden müssen.
Die Sätze der Logik können tautologisch oder kontradiktorisch
sein. Im ersten Fall ist der Satz unter allen Bedingungen wahr, im
zweiten unter keinen. Dass ein Satz unter allen oder keinen Bedingungen
wahr ist, ist aber nur dann möglich, wenn er keinen Bezug zur Welt
herstellt. Das heißt, die Sätze der Logik bilden nichts ab,
aber sie zeigen die Grenzen der Sprache/Welt. Da sie selbst zur
Bestimmung der Wahrheit von sinnvollen Sätzen dienen, besitzen sie
einen Wert. Deswegen auch der Satz 4. 0312: "Mein Grundgedanke ist,
daß die ‚logischen Konstanten‘ nicht vertreten. Daß sich
die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." Nicht nur die
Logik ist sinnlos, sondern auch die Mathematik.
"Unsinnig" hingegen bezeichnet eine andere Klasse von nicht-sinnvollen
Sätzen. Da nur Tatsachen in der Welt abgebildet und sprachlich
ausgedrückt werden können, muss jeder Versuch, etwas
über Dinge außerhalb der Welt zu sagen, scheitern. Jede Rede
von "Werten" – seien diese nun ästhetisch oder ethisch –
fällt diesem Schicksal zum Opfer: Um einer Sache Wert
zuzuschreiben, muss man außerhalb ihres Bezugsfeldes stehen; man
muss sich außerhalb der Welt aufstellen, was aber nicht
möglich ist und deshalb zu allerlei Unsinn führt. Aber bei
dieser negativen Diagnose bleibt Wittgenstein nicht stehen: Wenn etwas
nicht gesagt werden kann, dann muss man zwar schweigen, aber man kann
es zeigen. Die Dichotomie zwischen Sagen und Zeigen ist
vollständig: Also, was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt
werden, und was gesagt werden kann, kann nicht gezeigt werden. Auf dem
Tableau des Wissens sind jetzt schon einige Plätze besetzt: die
Naturwissenschaft produziert sinnvolle Sätze, die Logik und
Mathematik sinnlose Sätze, die aber immerhin die Grenzen der
Sprache/Welt bestimmen. Wo könnte sich da noch die Philosophie
aufstellen?
Jedenfalls nicht in Konkurrenz zur Naturwissenschaft, die ja hegemonial
über die wahren oder falschen Sätze herrscht. Die Philosophie
kann nicht neben, sondern nur über oder unter der
Naturwissenschaft stehen. Die Philosophie ist für Wittgenstein
keine Doktrin, sondern eine Tätigkeit. Diese Tätigkeit
besteht darin, jene Sätze und Gedanken zu erläutern, die
sonst undeutlich und metaphysisch sind. In 6.53 fasst Wittgenstein
diesen Gedanken zusammen: "Die richtige Methode wäre eigentlich
die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also
Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit der Philosophie
nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas
Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen
Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese
Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte
nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie
wäre die einzig streng richtige." Die Aufgabe der Philosophie ist
also Sprachkritik: Sie muss den Unsinn der traditionellen Philosophie
aufdecken und entlarven. Interessant ist dieses
Philosophieverständnis auch im Blick auf die Sätze des
"Tractatus" selbst: Offensichtlich sind diese Sätze nicht
naturwissenschaftlich und können daher nichts Sinnvolles
ausdrücken. Es sind auch nicht ausschließlich um Sätze
der Logik. Wittgenstein selbst akzeptiert diese Tatsache, wenn er die
Sätze seines Buches als "unsinnig" bezeichnet. Trotzdem hat die
Lektüre und auch die Philosophie eine Funktion, die man im Blick
auf den späten Wittgenstein als "therapeutisch" bezeichnen
könnte. Um dies zu unterstreichen, benutzt Wittgenstein die
Metapher der Leiter, die man nach dem Aufstieg getrost wegwerfen kann.
Ist der Unsinn des "Tractatus" erst erkannt, kann das philosophische
Tun und die Logik und die Naturwissenschaft beginnen.
4. Wirkung
Die Wirkung des "Tractatus" ist durch mehrere, heterogene Faktoren
bestimmt. Der erste Faktor ist der intellektuelle Werdegang von
Wittgenstein. Bekanntlich wird in der Forschung immer noch zwischen
Wittgenstein I und Wittgenstein II, dem frühen und dem späten
Wittgenstein unterscheiden, auch wenn diese Trennung inzwischen mehr
und mehr in Frage gestellt. Wittgenstein I ist gemäß dieser
Lesart der Autor des "Tractatus", auf den nach einer
Übergangsphase Wittgenstein II, der Verfasser "Philosophischen
Untersuchungen" folgt. Wittgenstein selbst spricht im Vorwort der
"Philosophischen Untersuchungen" von "schwere[n] Irrtümern", die
ihm in seiner ersten Publikation unterlaufen seien. Wittgensteins
Selbstkritik und Weiterentwicklung hat die mittelbare philosophische
Rezeption des "Tractatus" also erheblich beeinflusst. In der
analytischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
hat jedenfalls Wittgenstein II – mit der Idee des Regelfolgens zum
Beispiel – tiefere Spuren hinterlassen. Auch für die Postmoderne,
vor allem für Lyotard, ist Wittgenstein II ein zentraler
Stichwortgeber. Für den Wiener Kreis war der Autor des "Tractatus"
von größtem Interesse.
Ein weiterer Faktor betrifft den stilistischen Charakter des
"Tractatus". Das System der Durchnummerierung von Einzelthesen hat etwa
viele Nachahmer gefunden. Neben den strengen Formulierungen im
Anschluss an Russell und Frege finden sich viele Sätze, die eher
an Aphorismen erinnern. Jedenfalls erhebt Wittgenstein durchaus einen
literarischen Anspruch, der seinem Misstrauen gegenüber jeder Form
von Schlampigkeit in der Sprache entspringt. Insgesamt scheint der
"Tractatus" zuweilen als ein Text gelesen zu werden, der eine beinahe
mystische Autorität auszustrahlen vermag. Dies kann man auch
daraus ersehen, dass sich die Rezeption des "Tractatus" keineswegs nur
auf die Philosophie und Logik beschränkt, sondern von
unterschiedlichen Kunstformen vollzogen wurde und wird. Das hat
natürlich auch mit der Person Ludwig Wittgenstein zu tun. Der
"Tractatus" ist selbst zu einem kulturellen Phänomen stilisiert
worden. Dass die Wittgenstein-Lektüre auch lustige Blüten
treibt, beweist etwa die "Tractatus Suite" des finnischen Musikers M.
A. Numminen aus dem Jahre 1966.
5. Letztbegründung?
Ganz zum Ende will ich noch eine Frage aufwerfen, die im Zusammenhang
mit dem Generalthema unserer Vorlesung steht. Wo würden wir
Wittgenstein, ich meine jetzt den Autor des "Tractatus", in der Frage
der Letztbegründung verorten? Meine sehr naive Vermutung
wäre, dass wir es mit einer ambivalenten Sache zu tun haben: Zum
einen kritisiert Wittgenstein ganz offen die überhebliche Art der
traditionellen Philosophie. Wenn er sagt, dass da hauptsächlich
grober Unsinn produziert wird, dann ist das offenbar eine Entthronung
der Königsdisziplin. Zum anderen aber will Wittgenstein die
Philosophie selbst ja nicht abschaffen, sondern nur reformieren in
Richtung einer für die Naturwissenschaften sensiblen Sprachkritik.
Und dann kann man sich natürlich fragen, wie Wittgensteins Geste
der Grenzziehung – die klassische Handlung des Kritikers – selbst zu
bewerten sei. Welchen Anspruch erhebt jemand, der behauptet, "die
Probleme im wesentlichen gelöst zu haben" (Vorwort)?
6. Literatur zum Tractatus:
Anscombe, G. E. M., An Introduction to Wittgenstein’s Tractatus,
London 1959
Schulte, Joachim (Hg.), Texte zum Tractatus, Frankfurt am Main
1989
Janik, Allan/Toulmin, Stephen, Wittgensteins Wien, München
1986
Monk, Ray, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 1993
Stenius, Erik, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung
seiner Hauptgedanken, Frankfurt am Main 1969
Heinrich, Richard, Wittgensteins Grenze, Wien 1993
McGuiness, Brian, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt am
Main 1992
Schulte, Joachim, Wittgenstein. Eine Einführung, Stuttgart
1989
von Wright, Georg Henrik, Wittgenstein, Frankfurt am Main 1986
Carruthers, Peter, The Metaphysics of the Tractatus, Cambridge
1990
- Tractarian Semantics. Finding sense in Wittgenstein’s
Tractatus, Oxford 1989
Mann, Christian, Wovon man schweigen muß. Wittgenstein
über die Grundlagen von Logik und Mathematik, Wien 1994
Glock, Hans-Johann, A Wittgenstein Dictionary, Cambridge 1996