Die in dieser Liste
beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit
Erscheinungsjahr zwischen 1900 und 1914 zeigen das Vorherrschen
bestimmter Problemstellungen, wobei insbesondere auffällt:
Es gibt eine starke Diskussion, wie schon im späten 19.
Jahrhundert (vgl. dazu Frege 1879 und 1892), um die Stellung und den
Begriff der Logik z.B.: Husserl 1901: Logische
Untersuchungen,
Marty 1908: Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik
und Sprachphilosophie
Natorp 1910: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften Russell-Whitehead 1910:
Principia Mathematica
Lask 1911: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre
Ebenso ist die Theorie der
Wissenschaften und der Erkenntnis
ein wichtiges Thema, wobei die Unterscheidung und Rangordnung von
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften eine große Rolle
spielt
Husserl 1901: Logische Untersuchungen
Poincaré 1903: La science et la hypothese Mach 1905: Erkenntnis und
Irrtum
Duhem 1906: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien (dt. 1908) Cassirer 1906: Das
Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit
Stumpf 1907: Zur Einteilung der Wissenschaften Lenin 1909: Materialismus
und Empiriokritizismus (dt. 1927) Dilthey 1910: Der Aufbau
der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
Natorp 1910: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften Russell-Whitehead 1910:
Principia Mathematica
Lask 1911: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre
Ein drittes Thema stellt die Erforschung der Psyche und von Lebensformen dar Freud 1900: Die
Traumdeutung James 1902: Die
religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit (dt. 1907)
Weininger 1903: Geschlecht und Charakter
Lipps 1903: Ästhetik, Psychologie des Schönen und der Kunst
Santayana 1905: The Life of Reason or The Phases of of Human
Progress Bergson 1907: Die kreative
Evolution (dt. 1912)
Driesch 1909: Philosophie des Organischen
Uexküll 1909: Umwelt und Innenwelt der Tiere
Gertrud Simmel 1910: Realität und Gesetzlichkeit im
Geschlechtsleben Durkheim 1912: Die
elementaren Formen des religiösen Lebens
Unamuno 1913: Vom tragischen Lebensgefühl (dt. 1925)
Spranger 1914: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und
Ethik der Persönlichkeit
Steiner 1914: Die Rätsel der Philosophie
Zur Ethik, Sozial- und
Gesellschaftstheorie erscheinen ebenfalls einflussreiche
Arbeiten
Sombart 1902: Der moderne Kapitalismus Moore 1903: Principia
Ethica (dt. 1970) Cohen 1904: Ethik des
reinen Willens
Chamberlain 1905: Arische Weltanschauung Weber 1905: Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
Eucken 1907: Grundlinien einer neuen Lebensanschauung Georg Simmel 1908:
Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung
Croce 1909: Philosophie der Praxis, Oekonomik und Ethik (dt. 1929)
Nishida 1911: Über das Gute (dt. 1989)
Luxemburg 1913: Die Akkumulation des Kapitals
Reinach 1913: Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlichen Rechts Scheler 1913: Der
Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik
Radbruch 1914: Rechtsphilosophie
Deutlich sind auch sprachphilosophische
und kulturtheoretische Themen Wundt 1900ff:
Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von
Sprache, Mythus und Sitte
Mauthner
1901 und 1911: Beiträge zu einer Kritik der Sprache und:
Wörterbuch der
Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache
Marty 1908: Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik
und Sprachphilosophie
Als prägende Werke philosophischer
Richtungen im Allgemeinen können in diesem Zeitraum
angesehen werden z.B.:
Husserl 1901 (Phänomenologie
s. Wikipedia
)
Bergson 1907 und Dilthey 1910 (Lebensphilosophie,
s. Wikipedia ),
James 1908 (Pragmatismus, s. Wikipedia
),
Lenin 1909 (Dialektischer
Materialismus, s. Wikipedia ),
Nishida 1911 (Kyoto-Schule),
Steiner 1914 (Anthroposophie,
s. Wikipedia )
Nicht alle diese Richtungen sind damals bereits so benannt
bzw. überhaupt im allgemeinen Bewusstsein bekannt gewesen. Vgl.
dazu einige Hinweise aus der Diskussion in
der Vorlesung.
1900 findet in Paris der erste Weltkongress der Philosophie
statt.
Zum Seitenanfang Zur
"Lebensphilosophie"
In der Vorlesung wurde zunächst der informative Artikel
Lebensphilosophie in Wikipedia (deutsch) kommentiert.
Zwei Autoren wurden dann näher vorgestellt: Henri Bergson und
Wilhelm Dilthey.
Die entsprechenden Wikipedia-Einträge zu Bergson bzw. Dilthey sind
derzeit noch nicht sehr informativ, sofern sie wenig über deren
Theorien aussagen. Allerdings ist der Eintrag zu Bergson im vergangenen
Jahr stark verbessert worden und durchaus lesenswert. Aber versuchen
Sie z.B. aus dem dort Gesagten zu verstehen, was er mit "élan
vitale"
meint! Das dürfte schwerfallen.
Hingegen sind die entsprechenden Darstellungen in
zu empfehlen und wurden in der Vorlesung
diskutiert. Zu diesem sehr nützlichen (und
derzeit sehr preiswerten) Buch
gibt es Rezensionen im Internet wie z.B.:
Zum Seitenanfang Zur Diskussion:
Es ist notwendig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass eine
heutige Darstellung der Philosophie vor hundert Jahren sich nur in
einigen Punkten mit damaligen Darstellungen decken wird. Zur
Illustration führe ich zwei Sachverhalte an:
1) Einige "Schulen" oder "Richtungen" werden erst später so
benannt.
2) Was aus späterer oder heutiger Perspektive wirkmächtig und
somit wichtig erscheint, wurde von Zeitgenossen nicht unbedingt so
wahrgenommen. Und umgekehrt: Was und wer damals prominent war, kann
inzwischen vergessen sein.
ad 1) "Kyoto-Schule"
In der Diskussion der Vorlesung wurde meine Behauptung, die
"Kyoto-Schule" (s.o. Nishida 1911) habe von europäischen
Zeitgenossen gar nicht wahrgenommen werden können, nachgefragt: Wann und wie sie denn wahrgenommen worden
und was diese "Schule" sei. - Mir scheint dies ein lehrreicher
Fall zu sein, darum einige Kommentare:
Es ist heute relativ einfach, sich über die
Kyoto-Schule in deutscher Sprache zu informieren, z.B. durch:
Elberfeld, Rolf: Philosophie in
Japan - japanische Philosophie. In: "polylog. Zeitschrift für
interkulturelles Philosophieren", Nr. 10/11, 2004, S. 51-66 (dort
finden Sie auch Texte von Nishida sowie Hinweise auf weitere
Literatur). Diese Bekanntheit kann auf eine starke Rezeption der
Phänomenologie (und Heideggers) in Japan zurückgeführt
werden.
In einigen Darstellungen ist der Eindruck zu gewinnen, es
gebe Philosophie in Japan ohnedies erst auf Grund und in Form der
Rezeption westlicher Philosophie seit der Meiji-Ära (also ca ab
1870). Diese Auffassung wurde - und wird teilweise - nicht nur im
Westen, sondern auch in Japan vertreten. Beispielsweise wurde in der
Meiji-Ära ein neues Wort-Zeichen geprägt, um damit
okzidentale Philosophie zu bezeichnen: 哲学 (ausgesprochen: tetsugaku),
unter welcher Bezeichnung bis heute eben "westliche" Philosophie
gelehrt und erforscht wird.
Damit verbunden war oder ist die These, dass in japanischen
- und anderen fernöstlichen - Denktraditionen nicht "Philosophie
im strengen Sinn des Wortes" vorliege. Vereinzelt wurde sogar
vertreten, in Japan habe es nie Philosophen gegeben und es werde sie
auch nicht geben - sondern höchstens sozusagen Philosophieforscher
(also: niemanden wie Kierkegaard oder Kant, sondern nur Kant- und
Kierkegaardexperten etc.). Diese These vertritt z.B. Nakajima
Yoshimichi in einem Buch 1997 mit dem Titel "Ein Land ohne Philosophen"
(哲学者のいない国)
ad 2) wichtige Autoren, "Phänomenologie", "Anthroposophie"
etc.
Ein Vergleich von drei
Auflagen des bekannten "Philosophischen Wörterbuchs" aus
dem Verlag Kröner ergibt folgendes Bild:
Heinrich Schmidt:
Philosophisches Wörterbuch, 2. Aufl. Leipzig: Kröner 1916:
-- Diese Auflage enthält insgesamt wenige Artikel über
Autoren;
-- von den oben in meiner Übersicht
fett hervorgehobenen Autorenwerden lediglich Mach und Wundt (beide
lebten damals noch) in eigenen Artikeln dargestellt;
-- über andere Philosophen zu Anfang des 20. Jhs. gibt es z.B.
Artikel zu: Eucken, Haeckel, E. Hartmann, Spencer;
-- über die oben genannten Schulengibt es einen Artikel zu Pragmatismus (mit Nennung von James
1908) und eine Erwähnung von Husserl 1902 in dem Artikel über
Phänomenologie, der allerdings noch nicht eine Schule, sondern die
ältere Begriffsgeschichte behandelt.
Werner Schingnitz
und Joachim Schondorff:
Philosophisches Wörterbuch, 10. Aufl. Stuttgart: Kröner 1943:
-- Diese Auflage enthält viele Artikel über Autoren;
-- von den in der Übersicht
fett hervorgehobenen Autorenwerden (neben sehr vielen anderen
und in anderer Bewertung) alle
außer Lenin in eigenen Artikeln dargestellt;
-- über andere Philosophen zu Anfang des 20. Jhs. gibt es z.B.
ausführliche Artikel zu: Chamberlain, Haeckel u.v.a.
-- über alle oben
genannten Schulengibt es Artikel mit Ausnahme von
----"dialektischer Materialismus" (jedoch Erwähnung im Artikel
"Materialismus") und
----"Kyoto-Schule" (jedoch Erwähnung von Nishida im - hier neuen -
Artikel "japanische Philosophie")
Georgi Schischkoff:
Philosophisches Wörterbuch, 19. Aufl. Stuttgart: Kröner 1974:
-- Auch diese Auflage enthält viele Artikel über Autoren;
-- von den in der Übersicht
fett hervorgehobenen Autorenwerden alle in eigenen Artikeln
dargestellt;
-- über alle oben
genannten Schulengibt es Artikel mit Ausnahme von: ----"dialektischer Materialismus" (jedoch Verweis von
"Diamat" auf Artikel
"Materialismus") und
----"Kyoto-Schule" (jedoch Erwähnung von Nishida im Artikel
"japanische Philosophie")