Wimmer: Vorlesung WS 2006/07 180 386 Philosophie im 20. Jahrhundert
10. Vorlesung 12. Dezember 2006: feministische Philosophie bis ca
1990
Nach einleitenden Überlegungen wurde besprochen: Kennzeichnung "feministischer Philosophie" durch H.
Nagl-Docekal (1990) Frage nach sexistischer Darstellungssprache in
Philosophiehistorie Der Terminus "feministische
Philosophie" soll hier zunächst nicht definiert werden. Es sei
lediglich betont,
dass er keinesfalls mit "philosophischem Denken von Frauen"
zusammenfällt. Es gibt sowohl Philosophinnen, auch im späten
20. Jahrhundert, deren Arbeiten nicht zur "feministischen Philosophie"
beitragen, wie es andererseits (wenige) männliche Autoren gibt,
für die das doch zutrifft.
Ich gehe davon aus, dass in einer repräsentativen Bestandsaufnahme
das Selbstverständnis von Vertreterinnen feministischer
Philosophie zum Ausdruck kommt. Als eine solche Bestandsaufnahme sehe
ich:
Meyer, Ursula I. und Heidemarie
Bennent-Vahle (Hg.): Philosophinnen-Lexikon.
Leipzig: Reclam 1997 (EA: Aachen: ein-Fach-Verlag 1994)
Dieses Lexikon mit Artikeln über Philosophinnen von ca 600 vAZ bis
ca 1990, das auch einzelne nicht-okzidentale Denkerinnen vorstellt,
gibt in einer Zeittafel (nach Geburtszeit geordnet, bis 1800 in ganzen
Jahrhunderten, ab 1900 auf Grund größerer Anzahl in
Jahrzehnten aufgezählt) jeweils den Themenschwerpunkt der
behandelten Denkerin.
Der Ausdruck "Feminismus" taucht in diesem Lexikon erstmals bei
Geburtsjahrgängen nach 1850 (Lily Braun *1865, Alexandra Kollontai
*1872, Virginia Woolf *1882) auf, wird dann aber (ab Simone de Beauvoir
*1908) immer häufiger verwendet und bei den nach 1930 Geborenen
fehlt er so gut wie in keinem Fall und ist in den meisten Fällen
sogar die einzige Kennzeichnung.
Die Autorinnen dieses Lexikons - ihrerseits zum Großteil
Philosophinnen - bringen damit zum Ausdruck, dass bei allen
Unterschieden an Theorien, die sie beschreiben, etwas Neues in
Fragestellungen von Philosophinnen besonders im 20. Jahrhundert
auftaucht, das sie eben als "feministische Philosophie" benennen. Und
sie wollen damit wohl auch signalisieren, dass eben diese Problematik -
und nicht etwa Logik, Ethik etc. - das Hauptinteresse von
Philosophinnen des späten 20. Jahrhunderts ist (z.B. im
Unterschied zu Philosophinnen des 18. Jahrhunderts).
Der Beginn der Debatten kann wohl in der Überprüfung der
These gesehen werden, ob,
wie Virginia
Woolf die "patriarchalische"
Auffassung ausgedrückt
hat, weibliche Menschen "geistig, moralisch und physisch unterlegen"
seien (in: "Three Guineas", 1938) oder nicht doch Simone de Beauvoir Recht
hatte, wenn sie feststellte: "Wir werden nicht als Frauen geboren, wir
werden dazu gemacht."
Diese Überprüfung geschah auf mehreren Ebenen:
Es wird (historisch) nachgefragt, welche Philosophinnen denn
gelebt und in ihrer Zeit gewirkt haben; Hinweise darauf fehlen in den
allgemeinen Philosophiegeschichten durchgehend, weswegen mit dieser
Frage auch
editorische Projekte, Übersetzungen etc. verbunden sind.
Vgl. unten in der Liste (chronologisch): LaBalme
1981, Dronke 1983,
Tielsch 1983, Gössmann 1984, Ménage 1984, Gnüg 1985,
Pisan 1986
Es wird (begrifflich) nachgefragt, mit welchen sprachlichen
Mitteln oder gedanklichen Kategorien der Ausschluss der
(größeren) Hälfte der Menschheit aus deren höheren
Kulturleistungen vor sich gegangen und gegenwärtig wirksam ist.
Damit sind ideologiekritische Projekte im weitesten Sinn (Kritik
patriarchaler Sprache und Begrifflichkeit; Analyse impliziter
Voraussetzungen von Theoremen etc.) verbunden.
Vgl. unten in der Liste (chronologisch): Stopczyk 1980, Aspöck
1982, Schaeffer-Hegel 1984, List und Studer 1989
Es wird schließlich nach alternativen Entwürfen eines
Begriffs vom "Menschen" gefragt. Dies ist jedoch deutlich erst
später (nach 1990)
Spätestens nach 1980 sind "feministische" Fragestellungen dieser
Art in einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen
unübersehbar. Dazu zählt auch die Philosophie. 1982 erscheint
der erste von bisher acht Kongressbänden der "Internationalen
Assoziation von Philosophinnen (IAPH)". Der Bericht von Rolf
Löchel über das IX
Kolloquium der IAPH (Zürich 2000) gibt einen Einblick in die
neuere Diskussion.
Da auch in den feministischen Diskussionen der Periode bis ca 1990
Unterschiede
zwischen den französischen, englischsprachigen, deutschen u.a.
Traditionen stark ins Auge fallen, sei hier auf einige
Autorinnen verwiesen, die in mancher Hinsicht als
repräsentativ gelten können.
Zum Seitenanfang Die Skizze eines Begriffs der
"feministischen Philosophie" um 1990 entnehme ich von
Herta Nagl-Docekal (Hg., Autorin): Feministische Philosophie.
Oldenbourg: Wien und München 1990, S. 8-12
Wenn … erläutert werden soll, was
der Terminus "Feministische Philosophie" bedeutet, so wäre eine
komprimierte Definition wenig aufschlußreich; es scheint vielmehr
sinnvoll, folgende sieben Elemente für eine Begriffsbestimmung zu
bedenken: Erstens: Feministische
Philosophie ist ein Projekt, das nicht aus forschungsimmanenten
Entwicklungen hervorging, sondern durch den Feminismus als politische
Bewegung initiiert wurde und auf diesen bezogen bleibt. Zweitens: Es muß
gleichwohl unterschieden werden zwischen dem politischen Kontext, dem
das Forschungsinteresse entspringt bzw. für den die
Forschungsergebnisse Relevanz gewinnen sollen … und der
wissenschaftlichen Arbeit … [diese] hat nur dann den beanspruchten
Aufklärungswert, wenn sie sich der textkritischen Methoden der
philosophiegeschichtlichen Forschung bedient. Drittens: Der
Ideologievorwurf hat keine Berechtigung - im Gegenteil: Wenn es unter
anderem darum geht aufzudecken, in welcher Weise die Philosophie in
ihrer bisherigen Geschichte zur Unterdrückung der Frau beigetragen
hat, so bedeutet dies, daß die Feministische Philosophie
ihrerseits ideologiekritischen Charakter hat. Viertens: Daß
philosophische Fragestellungen dem politischen Engagement für die
Bekämpfung von Diskriminierung entspringen, trifft keineswegs nur
auf die Feministische Philosophie zu. Hier ist beispielsweise zu
bedenken, daß für Kant die Philosophie insgesamt ihre
Berechtigung nur daraus beziehen kann, daß sie der
Institutionalisierung von Freiheit "beförderlich" ist. Impliziert
dies nicht, daß die Feministische Philosophie der zentralen
Zielsetzung des gesamten Faches auf direktere Weise entspricht als
manche ausschließlich philologisch orientierte philosophische
Forschung? … Fünftens: Feministische
Philosophie ist nicht als eine neue Teildisziplin zu sehen, die den
bereits vorhandenen bloß angegliedert zu werden bräuchte. Es
geht vielmehr darum, die Frage nach der Stellung der Frau in allen
Bereichen des Faches zu verfolgen - Feministische Philosophie ist somit
Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau. Sechstens (ein rein
terminologisches Thema): Die Bezeichnung "Feministische Philosophie"
bringt dieses Vorhaben deutlicher zum Ausdruck als der Terminus
"Philosophische Frauenforschung", der gegenwärtig ebenfalls
häufig verwendet wird. Letzterer läßt zwar vermutlich
den Verdacht einer Ideologisierung weniger leicht aufkommen, aber der
Preis ist hoch: Dieser Terminus suggeriert ein Projekt, das durch
seinen Gegenstandsbereich definiert ist - eben die Erforschung der Frau
- und er ist damit doppelt irreführend: er läßt erstens
unbelichtet, daß es nicht nur die Frau, sondern beide
Geschlechter zu thematisieren gilt, und zweitens, daß das
Verhältnis dr Geschlechter nicht bloß als ein Gegenstand
(neben anderen), sondern auch (und vor allem) als eine Frageperspektive
der philosophischen Forschung insgesamt gefordert wird. Siebentens: Feministische
Philosophie hat nicht den Charakter einer einheitlichen philosophischen
Position. Am Leitfaden feministischer Interessen zu philosophieren
heißt, mit allen anderen, die dies tun, eine Problemstellung
gemeinsam zu haben - doch das ist nicht gleichbedeutend damit, auch im
Inhaltlichen übereinzustimmen. … es ist … offenbar der Irrtum
entstanden, die Feministische Philosophie sei eine einzige Theorie und
müsse sich daher auf ihre Binnenkonsistenz hin befragen lassen.
Zum Seitenanfang Eine kleine Auswahl von Titeln
zum Thema "Feminismus" aus meinem persönlichen Archiv
für die Zeit 1980-89,
chronologisch geordnet, gebe ich im Folgenden. Ich habe daraus
die meisten Titel aus diesem Zeitraum gelöscht, die sich in erster
Linie auf Frauengeschichte beziehen. Diese Auswahl hier nennt auch
viele philosophisch relevante Texte des Zeitraums nicht, die in der allgemeinen
Literaturliste für die Periode 1961-89 angeführt sind.
Borchers, Elisabeth und Hans-Ulrich
Müller-Schwefe (Red.): Im Jahrhundert der Frau. Ein Almanach des
Suhrkamp Verlags.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980
Brinker-Gabler, Gisela (Hg.): Frauen gegen den Krieg.
Frankfurt/M.: Fischer 1980
Hetmann, Frederik: Drei Frauen zum
Beispiel. Die Lebensgeschichte der Simone Weil, Isabel Burton und
Karoline von Günderrode.
Weinheim: Beltz. 1980.
Janssen-Jurreit, Marielouise: Sexismus. Über die Abtreibung der
Frauenfrage.
Frankfurt/M.: Fischer. 1980.
Meulenbelt, Anja: Feminismus und Sozialismus. Eine Einführung.
Hamburg: Konkret Literatur Verlag. 1980.
Stopczyk, Annegret: Was Philosophen
über Frauen denken.
München: Matthes & Seitz.
1980.
Historisches Museum Frankfurt a.M.
(Hg.): Frauenalltag und Frauenbewegung 1890-1980. Katalog.
Basel: Stroemfeld 1981
LaBalme, Patricia H. (Hg.): Beyond their Sex. Learned Women of the
European Past.
New York: New York Univ. Pr. 1981
Scheu, Ursula: Wir werden nicht als Mädchen geboren - wir werden
dazu gemacht.
Frankfurt/M.: Fischer. 1981.
Wawrytko, Sandra A.: The undercurrent of feminine philosophy in Eastern
and Western thought.
Lanham: Univ. Pr. of America. 1981.
Aspöck, Ruth: Der ganze Zauber nennt sich Wissenschaft.
Wien: Frauenverlag. 1982.
Beauvoir, Simone de: Eine gebrochene Frau.
Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. 1982.
--: Marcelle, Chantal, Lisa … Ein Roman in Erzählungen.
Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. 1982.
Bornemann, Ernest (Hg.): Arbeiterbewegung und Feminismus. Berichte aus
vierzehn Ländern.
Frankfurt/M.: Ullstein 1982
Keohane, Nannerl O., Michelle Z. Rosaldo und Barbara C. Gelpi: (Hg.):
Feminist Theory. A Critique of Ideology.
Chicago: University of Chicago Press 1982
McMillan, Carol: Women, Reason and Nature. Some Philosophical Problems
with Feminism.
London: Blackwell. 1982.
Strauss, Sylvia: "Traitors to the Masculine Cause". The Men's Campaigns
for Women's Rights.
London: Greenwood Presse. 1982.
Bock, Gisela: Historische Frauenforschung: Fragestellungen und
Perspektiven. In: Hausen, Karin (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte
München: Beck 1983, S. 22-60.
Dronke, Peter: Women Writers of the Middle Ages. A Critical Study of
Texts from Perpetua (+ 203) to Marguerite Porete (+ 1310).
Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983.
Linnhoff, Ursula: 'Zur Freiheit, oh, zur einzig wahren -' Schreibende
Frauen kämpfen um ihre Rechte.
Frankfurt/M.: Ullstein. 1983.
Maclean, Ian: The Renaissance Notion of Woman. A Study in the Fortunes
of Scholasticism and Medical Scienc in European Intellectual Life.
Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983.
Tielsch, Elfriede Walesca: Die Philosophin. Geschichte und Ungeschichte
ihres Berufsstandes seit der Antike. In: Bendkowski, Halina und
Brigitte Weisshaupt (Hg.): Was Philosophinnen denken. Eine
Dokumentation.
Zürich: Ammann 1983, S. 309-328.
Gilligan, Carol: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau.
München: Piper. 1984.
Gössmann,
Elisabeth: (Hg.): Das
Wohlgelahrte Frauenzimmer.
München: iudicium 1984 (
Archiv für philosophie- und
theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd.: 1)
Ménage, Gilles (Menagius): The
History of Women Philosophers (Historia mulierum philosopharum, zuerst
Lugduni Batavorum 1690). Univ. Press of America. 1984.
Schaeffer-Hegel, Barbara und Brigitte Wartmann (Hg.): Mythos Frau.
Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat.
Berlin: publica 1984
Spencer, Samia L.: French Women and the Age of Enlightenment. Indiana
Univ. Pr. 1984
Ferguson, Moira (Hg.): First Feminists. British Women Writers,
1578-1799. Indiana Univ. Pr. 1985
Gnüg, Hiltrud und Renate Möhrmann (Hg.):
Frauen-Literatur-Geschichte: Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur
Gegenwart.
Stuttgart: Metzler 1985
Le Rider, Jacques: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus
und Antisemitismus.
Wien: Löcker. 1985.
Conrad, Judith und Ursula Konnertz (Hg.): Weiblichkeit in der Moderne.
Ansätze feministischer Vernunftkritik.
Tübingen: discord 1986
Ehrman, Esther: Madame du
Châtelet: Scientist, Philosopher and Feminist of the
Enlightenment.
London: Berg Publ. 1986.
Evans, Mary: Simone de Beauvoir. Ein feministischer Mandarin.
Rheda-Wiedenbrück: Daedalus. 1986.
Hetmann, Frederik: Rosa L. Die
Geschichte der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit.
Frankfurt/M.: Fischer. 1986.
Klinger, Cornelia: Modernisierungsorientiertes oder
traditionsorientiertes Emanzipationskonzept? Zwei Befreiungsbewegungen
- ein Dilemma. In: Was Philosophinnen denken II 1986, S. 71-96.
Pisan, Christine de: Das Buch von der
Stadt der Frauen.
Berlin: Orlanda Frauenverlag. 1986.
Wallinger, Sylvia und Monika Jonas (Hg.): Der Widerspenstigen
Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom
Mittelalter bis zur Gegenwart.
Innsbruck: Institut für Germanistik 1986 ( Innsbrucker
Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd.: 13)
Xenakis, Françoise: Frau Freud ist wieder mal vergessen worden!
Fünf erfundene Biographien.
München: Kindler. 1986.
Dietrich-Ortega, Luisa: Nationalismus, Identität und Feminismus in
Lateinamerika. In: Wimmer, Franz Martin: (Hg.) Mitteilungen des
Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien. 1987. Nr. 3, S. 89-94.
Frakele, Beate, Elisabeth List und
Gertrude Pauritsch (Hg.): Über Frauenleben, Männerwelt und
Wissenschaft: österr. Texte zur Frauenforschung.
Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1987 ( Österreichische
Texte zur Gesellschaftskritik, Bd.: 29)
Harding, Sandra: The Curious Coincidence of Feminine and African
Moralities. In: Kittay, Eva Feder und Diana T. Meyers (Hg.): Women and
Moral Theory
Totowa, N.J.: Dowman & Littlefield 1987, S. 296-315.
Mulot-Déri, Sibylle: Sir Galahad. Porträt einer
Verschollenen.
Frankfurt/M.: Fischer. 1987.
Pauer-Studer, Herlinde: Prinzipien und Verantwortung. Ansätze
einer feministischen Kritik der Moralphilosophie. In: Kimmerle, Gerd;
Konnertz, Ursula: (Hg.) Konkursbuch. Zeitschrift für
Vernunftkritik. 1987. Jg. 19, S. 59-71.