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VO am 9.11.2005: Überlegungen zu Kulturalität und Kreativität
In ihrer Eröffnung der Sektion 11 des 20. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (Berlin 26.-30. September 2005), die sich mit dem Kreativitätsgedanken im interkulturellen Vergleich befasste, hat Prof. Claudia Bickmann (Köln) ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass einem immer wieder Vertrautes begegnet, wenn man sich als EuropäerIn auf die Suche nach gegenwärtiger Philosophie außerhalb des okzidentalen Kulturraums begibt. Da dies so ist, haben wir die Fragestellung dieses Kolloquiums zu präzisieren: Sind rezeptive Kulturen kreativ? Sind philosophische Traditionen kreativ, trotz oder weil sie andere Traditionen rezipieren? Und: Lässt sich für die Philosophie etwas gewinnen aus der Begegnung mit dem "anderen" Denken, etwa auch dann, wenn es so ganz "anders" gar nicht ist?
Es begegnet uns Kant in (neu-)konfuzianischen Diskursen in China ebenso wie Heidegger in der Schule von Kyoto. Marx und den Deutschen Idealismus finden wir in der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung wie uns sprachphilosophische Theorien des okzidentalen 20. Jahrhunderts in arabischer Sprache begegnen. Und dass das Denken der SprecherInnen einer ganzen Sprachfamilie — nämlich der Bantusprachen — sozusagen protoaristotelisch sei, ist in Diskussionen um afrikanische Philosophie eine sehr prominente, wenn auch stets umstrittene These gewesen.
In jedem dieser und vergleichbarer Fälle werden wir das Begegnende kaum verstehen können, wenn die eigenen, okzidentalen Traditionen nicht vertraut sind. Sind sie dies aber, so liegt eine erste skeptische Reaktion sehr nahe, nämlich die Frage, ob denn diese offensichtlichen Rezeptionen auch tatsächlich zwei Erfordernissen entsprechen, aufgrund derer wir überhaupt mit Erwartungen an sie heranzugehen bereit wären — dem Erfordernis, dass wir darin authentischem Denken begegnen und dem zweiten, dass bei solchen Übernahmen das Wesentliche erfasst wurde.
Solche Skepsis ist zu erwarten, wenn wir beispielsweise an jemanden denken, der als Inder oder als Chinese bezeichnet werden kann, sich selbst auch so versteht, und der Kant wie Sankara oder Konfuzius als einen seiner Lehrer sieht. Dann kommt nämlich leicht die Frage auf: Ist das denn echtes indisches (oder chinesisches, afrikanisches etc.) Denken, ist es in diesem Sinn überhaupt authentisch? Und zweitens wird in einem solchen Fall nicht selten gefragt: Ist hier denn Kant (oder wer es sei) auch wirklich verstanden worden? Ich will nur anmerken, dass beide Fragen, mit geringer Differenzierung, prompt auch in den Diskussionen des hier einzuleitenden Kolloquiums formuliert worden sind. Da es sich dabei meistens nicht um wirkliche Anfragen handelt, sondern um die Unterstellung, es sei entweder unmöglich oder aber fruchtlos, mit "kulturell anderen" Denktraditionen in ein echtes Gespräch treten zu wollen, lassen sie sich nicht vornehm-höflich umgehen.
Darum möchte ich zunächst einmal gelehrten Skeptikern dieser Art, bevor ich ihre Fragen ernstzunehmen bereit bin, mit einer gewissen Unhöflichkeit begegnen und behaupten: Es ist kein Zeichen großer Bildung, wenn jemand glaubt, die Geschichte des philosophischen Denkens der Menschheit habe sich nur in den Grenzen und mit den sprachlichen Mitteln oder auf dem weltanschaulichen Hintergrund des Okzidents abgespielt. Es zeugt zweitens ebenso wenig von großer Kenntnis, wenn man annimmt, philosophisches Denken hätte sich stets und ausschließlich innerhalb kultureller Kontexte entfaltet und sei auch nur darin zu verstehen. Und drittens halte ich den bei diesem Thema stets erwartbaren Hinweis, dass eine Öffnung philosophischer Diskurse über Kulturgrenzen hinweg eben "noch nicht" möglich sei, solange nicht alle Interpretations- und Quellenfragen (durch die entsprechenden Philologien) geklärt seien, für eine furchtsame Rede oder Ausrede, die nur dazu taugt, notwendige Dialoge ad calendas graecas zu verschieben.
Doch haben natürlich solche Fragen auch einen rationalen Kern. Sie zwingen, Probleme zu benennen und an ihrer Lösung zu arbeiten, die mit dem Dilemma der Kulturalität von Philosophie ganz im Allgemeinen zu tun haben: Wo und in welchen Ausprägungen immer wir Philosophie wahrnehmen, handelt es sich um Unternehmungen, in denen Endgültigkeit angestrebt oder sogar behauptet wird, tatsächlich aber stets Vielheit und Verschiedenheit gegeben ist. Menschen denken nicht "natürlich", sondern kultürlich. Das gilt für alle Menschen und bei aller Problematik des Begriffs "Kultur" brauchen wir doch einen solchen Begriff, um die Wirklichkeit menschlicher Existenz-, Denk- und Ausdrucksformen zu beschreiben. Darum aber wollen wir auch wissen, was das jeweils Bestimmende dieser Besonderheiten ist und fragen nach "Authentizität".
Wen aber sollten wir eigentlich entscheiden lassen in der Frage nach der "Authentizität" einer Denkleistung innerhalb einer "anderen" Kultur oder Tradition? Sollen wir uns darin auf Traditionalisten oder auf Modernisten in jener anderen Kultur verlassen oder nicht vielleicht doch der okzidentalen Indologie, der Sinologie oder anderen Fremdkulturwissenschaften das letzte Wort zuerkennen?
Ich will dieser Frage ausweichen, denn sie scheint mir ernstlich unbeantwortbar. Es gibt keine homogenen Kulturen und auch keine vollkommen einheitlichen Traditionen. Die Frage nach dem Wesentlichen an einer Kultur oder einer Tradition wird daher zu Recht immer wieder anders beantwortet werden. Es ist beispielsweise nicht einzusehen, warum Traditionalisten einer bestimmten Tradition gegenüber Modernisten derselben Tradition diese auf "authentischere" Weise repräsentieren sollten.
Ist die Nachfrage nach der authentischen Tradition aber nicht wirklich beantwortbar, so sollte sie auch nicht ernsthaft gestellt werden. Sie würde letztlich zu einem voreiligen Abbruch von Gesprächen führen, bevor solche überhaupt geführt werden.
Denken wir uns eine Situation wie das Kolloquium, dessen Beiträge hier vorliegen und nehmen wir an, es hätten sich bei dieser Gelegenheit philosophierende Menschen aus Afrika, Tibet oder China geäußert. Es ist anzunehmen, dass sie dies mit Mikrofon, ausformuliertem Vortragstext und in deutscher Sprache getan hätten.
Die Nachfrage nach ihrer kulturellen Authentizität hätte sie in ein praktisches Dilemma führen müssen. Damit nämlich wäre wohl verlangt worden, dass sie sich so verhalten (sprachlich, situational etc.), wie ihre Vorfahren sich — unserer Annahme nach — verhalten haben, wenn diese philosophierten. Dann aber hätte wohl niemand im Saal sie verstanden, es wäre eine Situation wie diejenige der europäischen "Völkerschauen" gewesen, eine "Philosophenschau" (wobei selbst darüber wenige im Publikum hätten gewiss sein können). Vielleicht wären sie im verlangten Sinn "authentisch" gewesen, aber um den Preis vollkommenen Unverständnisses. Beim besten Willen hätte auch der Moderator lediglich ein unverstandenes Schauspiel dirigieren können.
Da sie aber wahrscheinlich eben "ganz normal" vorgetragen hätten, wären sie wohl auf ihre sinnenfällige Nicht-Authentizität angesprochen worden und das somit ernstgemeinte Verlangen, authentisch Anderem zu begegnen, wäre schon das Ende der Begegnung gewesen, denn sie hätten diesem Ansinnen genau so wenig entsprechen können, wie irgend jemand aus Europa imstande oder willens gewesen wäre, wie ein Mönch des frühen Mittelalters aufzutreten.
Im ersten Fall wären sie daher zwar als echte Afrikaner, Tibeter und Chinesen erschienen, für die Philosophie jedoch gänzlich irrelevant. Im andern Fall hätten sie riskiert, zwar verstanden, aber als uninteressante Imitatoren ebenso ignoriert zu werden.
Die Frage nach authentischen Traditionen ist dennoch nie ganz zu umgehen, denn Behauptungen von Seiten jener, die sich auf eine kulturelle Tradition berufen, sind als Teil von Argumentationen stets zu erwarten. Dazu nur zwei Sätze: In keinem Fall ist die bloße Berufung auf eine Tradition ausreichend, um eine Frage der Philosophie zu entscheiden. Und: Jede Tradition ist ernst zu nehmen in dem Sinn, dass sie kritischer Prüfung ausgesetzt und weder als "fremd" einfach abgelehnt noch unkritisch bestehen gelassen wird.
Der Weg zur Klärung philosophischer Fragen führt über Dialoge oder Polyloge und hat daher eigentlich nur eine Voraussetzung – dass Menschen einander als Argumentierende ernst nehmen.
Für die Beantwortung der zweiten skeptischen Frage nach der richtigen Rezeption europäischer Philosophie in anderen Regionen sind allem Augenschein nach nicht die Rezipienten selbst zuständig, sondern die europäische Forschung: Sie soll entscheiden, ob Kant im modernen China, Heidegger in Japan und Marx in Lateinamerika richtig verstanden wird. In vielen Fällen wird diese Kompetenz der europäischen Forschung von Nichteuropäern auch durchaus anerkannt.
Wir müssen allerdings auch hier eine gewisse Skepsis anmelden, denn diese Forschung ist sich nicht immer vollkommen einig, wie wir aus der Interpretationsgeschichte der europäischen Philosophie sehr wohl wissen. Eine Darstellung etwa der kantischen Philosophie aus marxistischer Sicht unterscheidet sich in durchaus nicht nebensächlichen Punkten von einer, die Kriterien analytischer Philosophie verpflichtet ist, und beide wiederum werden bei Kant andere Stärken und Schwächen herausstreichen als eine neuthomistische Interpretation dies tut. Keine von ihnen muss deshalb schon Unrecht haben. Warum sollte Ähnliches nicht auch zu erwarten sein, wenn Kant auf dem Hintergrund etwa des Vedanta oder des Konfuzianismus neu gelesen wird? Das sollte doch eher ein Grund für vorsichtige Neugierde als für vorgängiges Misstrauen sein.
Es ist jedoch noch eine andere und wichtigere Warnung anzubringen. In der Geschichte von kreativen Rezeptionsprozessen der Philosophiegeschichte — denken wir etwa an die Aneignung des griechischen Denkens durch Araber, an Japans Aneignung des chinesischen und viel später des westlichen Denkens, oder auch an die spätmittelalterliche Aneignung des griechisch-römischen Denkens in der "Renaissance" — sind immer wieder Stimmen laut geworden, die darin keine echte Aneignung oder gar Weiterführung, sondern ein Verkennen oder bestenfalls ein Imitieren zu bemerken glaubten. Derartige Einschätzungen, wenn sie von außen kommen, verkennen die Tatsache, dass auf Dauer nichts, was aus einer anderen kulturellen Tradition übernommen wird, fremd bleibt, dass vielmehr jede erfolgreiche Übernahme auf Grund eines eigenen Mangels geschieht und zu Neuem führt. Das gilt in der Architektur wie in der Kochkunst und es gilt auch für die Philosophie.
Die bisherigen Überlegungen führen zur allgemeinen Frage: Können Rezeptionsprozesse philosophisch kreativ sein und wonach sind sie zu beurteilen? Ich will dazu nur kurz einige Thesen formulieren.
1) Es gibt kreative Traditionen. Tradition und Kreativität schließen sich nicht eo ipso aus. Auch kreative Prozesse werden durch Mittel ermöglicht, die (wie z.B. die Sprache) nicht ständig neu erfunden, sondern in Traditionen gegeben sind. Traditionen können allerdings Kreativität behindern, insbesondere dann, wenn sie ein starkes und unhinterfragbares Autoritätsgefüge ausbilden.
2) Kreative Traditionen sind wählerisch.
Das besagt zweierlei — erstens, dass sie offen sind für Anderes, bereit sich Neuem zuzuwenden und somit überhaupt wählen zu wollen; und dass sie zweitens diesem Anderen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern nach eigenem Urteil selektieren, was sie brauchen.
3) Kreative Traditionen sind selbstbezogen.
Auch damit ist Mehreres gemeint. Einerseits handelt es sich um Traditionen, die sich nicht nur reaktiv gegenüber Anderem verhalten, dem sie sich unterlegen fühlen, sondern die ihre eigene Sicht der Dinge mit ihren eigenen Begriffen entwerfen. Andererseits sind kreative Traditionen auch hermeneutisch souverän, sich selbst wie auch dem Denken anderer Traditionen gegenüber.
4) Kreative Traditionen sind polylogfähig oder, wie man auch sagen könnte: sie sind dispositionell polylogisch.
Es ist vielleicht nur eine einzige Frage, die wir im Zusammenhang
von Kulturalität und Kreativität in der Philosophie zu
beantworten
haben: Welche (philosophische) Traditionen sind mehr, welche weniger
geeignet, mit anderen (philosophischen) Traditionen kreativ umzugehen?
Ich meine, das Merkmal der Polylogfähigkeit könnte darauf
eine Anwort
geben. Es würde besagen, dass in einer Tradition die Mittel
entwickelt
sind, mit fremdem Denken so umzugehen, dass darauf ernsthaft
eingegangen werden kann ohne Angst vor Selbstaufgabe und auch ohne
blinde Hoffnung auf ein ganz Anderes.
1) Nachtrag zum Begriff der "Traditionen" 2)
Zum Konzept des Polylogs 3)
Typen von Zentrismus |
1) Nachtrag zur VO am 9.11. zum Thema "Traditionen und Kreativität"Von "Traditionen" habe ich in der VO am 9.11. ohne
Erläuterung des Wortes und darum wahrscheinlich
missverständlich gesprochen. Darum als Nachtrag mein
Verständnis dieses Ausdrucks:
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VO am 7.12.05: Menschenrechte und interkulturelle
Ethik
"Die Menschenrechtsthematik hat nicht nur in der aktuellen
Tagespolitik, sondern in den Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften
sowie in der Philosophie Hochkonjunktur." Wenn Göllers
Feststellung stimmt, so sind nicht nur die Gründe und Anlässe
für eine derartige Aktualität von Interesse, sondern –
jedenfalls für die Philosophie – viel mehr noch die Frage, warum
in diesem Bereich überhaupt noch argumentiert werden muss. Oder
anders gefragt: Ob denn die Gültigkeit von Menschenrechten
überhaupt oder doch die Gültigkeit bestimmter Grundrechte von
Menschen erst noch zu begründen sei. Wir werden uns hier mit
dieser theoretischen Frage von Begründungen zu befassen haben, es
sind aber doch auch andere mit dem Thema zusammenhängende
Fragestellungen zumindest anzudeuten, weil immer wieder im Zusammenhang
mit Menschenrechten eben auch auf "kulturelle" Differenzen verwiesen
wird.
Die erste und zugleich die auffallendste Problematik
betrifft praktische Inkonsistenzen und nicht solche der Theorie oder
der Schwierigkeit von Begründungen. Sie ist im weitesten Sinn
politischer Natur. Es geht beispielsweise darum, dass Einflussnahmen
von staatlichen oder überstaatlichen Autoritäten auf andere
Staaten oder politische Gebilde unter Berufung auf die Durchsetzung von
Menschenrechten stattfinden. Solche Aktionen können verschiedener
Art sein. Es kann sich um klassisch diplomatische Vorgangsweisen
handeln, um wirtschaftliche Sanktionen oder auch um militärische
Interventionen.
Eine Inkonsistenz der Praxis muss man etwa darin sehen, dass ein Staat,
der nie das Recht auf freie Religionswahl für seine Bürger
garantiert oder anerkannt hat, zu den aktivsten Stimmen zählt, die
dieses Recht für BürgerInnen anderer Staaten einfordern und
dessen Einschränkung kritisieren. Dieser Staat – gemeint ist der
Vatikan – hat allerdings keine nennenswerten anderen Machtmittel als
die Propaganda. Dennoch ist der Fall aufschlussreich: Der vermutlich
einzige tatsächlich monokonfessionelle Staat weltweit – es ist
anzunehmen, dass 100% der Einwohner römisch-katholisch sind , was
mit keinem zweiten Staat und in keiner andern Religion oder Konfession
zu vergleichen ist – beruft sich immer wieder auf bestimmte
Grundrechte, ohne selbst solche anzuerkennen.
Aus einleuchtenden Gründen – wegen fehlender anderer als
ideologischer Machtmittel und wegen eines verwandten
Staatsverständnisses in Staaten, die sich mehr oder weniger als
"theokratisch" verstehen – wird der Vorwurf der Inkonsistenz meist
gegen andere Staaten gerichtet, die zwar "die" Menschenrechte
anerkennen und deren Geltung bei einigen anderen Staaten einfordern,
dies aber nicht in gleicher Weise überall, sondern abhängig
von sonstigen Interessen tun. Gemeint sind amerikanische und
europäische Industriestaaten, denen gegenüber der Vorwurf
erhoben wird, dass sie "die Menschenrechte" lediglich als ideologisches
Instrument bei Bedarf vorschützen. So schrieb etwa Mohammed Fayek,
der Generalsekretär der Arabischen Organisation für
Menschenrechte im Jahre 2001:
Das angesprochene Misstrauen beschränkt sich
bekanntlich nicht auf arabische oder auf Länder mit islamischer
Mehrheitsbevölkerung, sondern wird ebenso mit Bezug auf
"konfuzianische" oder allgemeiner "asiatische" Werte diskutiert und die
Literatur dazu ist riesig. Es ist für eine interkulturelle Ethik
von zentraler Bedeutung.
Nehmen wir – ganz unrealistisch – einmal an, das Recht eines Staats auf
die vorhin angedeutete "humanitäre Intervention" zum Schutz der
Menschenrechte der BürgerInnen anderer Staaten bestünde
allseits und in gleicher Weise für alle Staaten. Nehmen wir weiter
an, die in der Allgemeinen Erklärung von 1948 und in späteren
UNO-Konferenzen deklarierten Rechte würden alle ein derartiges
Interventionsrecht begründen. Wäre es dann nicht folgerichtig
gewesen, wenn die Länder des Warschauer Pakts vor 1989 eine
Intervention in Westeuropa zur Durchsetzung des allgemeinen
Menschenrechts auf Arbeit zu rechtfertigen versucht hätten?
Oder wenn eine militärische Intervention zur Ausschaltung
großer Medienkonzerne in den Industriestaaten unter Berufung auf
das Recht auf eigenständige kulturelle Entwicklung erfolgte, das
durch diese Konzerne bedroht sei?
Derartige Fragen mögen als vollkommen naiv und weltfremd abgetan
werden. Wenn wir uns die philosophische Problematik klar machen wollen,
so sind sie doch überlegenswert, weil damit gewohnte
Selbstverständlichkeiten fraglich werden, die nur scheinbar keiner
Begründung bedürfen.
Eine zweite, in der medialen Öffentlichkeit
weniger stark wahrgenommene Problematik ist juridischer Art. Hierbei
geht es um Fragen der völkerrechtlich und staatsrechtlich
verbindlichen Anerkennung von vorpositiven Rechten, um deren
Ratifizierung und um ihre Konkretisierung in den jeweils staatlich
positiv geregelten Rechtssystemen. In dieser Hinsicht fällt auf,
dass nicht nur einzelne innerstaatliche Regelungen, die deklarierte
Grundrechte betreffen, weltweit stark differieren, sondern dass auch
die internationalen Deklarationen untereinander in wichtigen Punkten
verschieden sind.
Im Zusammenhang mit politischen Maßnahmen zur Durchsetzung von
Menschenrechten werden häufig staatliche oder andere Interessen
eine Rolle spielen, die dieses Motiv der Menschenrechte lediglich als
scheinbar unwidersprechbar vorschieben. Dann handelt es sich um die
Instrumentalisierung einer Idee, von der behauptet wird, sie sei
allgemein einsichtig. Wenn sie dies ist, und wenn diese Idee
unaufgebbare Werte und Rechte zum Ausdruck bringt, so scheint auch
deren Instrumentalisierung vollkommen berechtigt. Denn: Welche Ziele
sonst auch immer noch verfolgt werden, so scheint doch die Durchsetzung
einer Norm, die zugleich unbedingt, allgemein gültig und
vernunftgemäß einsichtig ist, jedenfalls gerechtfertigt.
Fraglich ist, ob all dies erfüllt ist.
Es ist nicht eine Frage der Philosophie, sondern der Geschichts- und
Politikwissenschaft, ob es unter den Bedingungen der menschlichen
Sozialnatur jemals denkbar ist, dass vollkommen allseitige, rein
vernünftige und nicht von Sonderinteressen geleitete
Einflussmaßnahmen von Menschen auf andere Menschen Wirklichkeit
werden. Wessen Einflussnahme Erfolg haben soll, muss die reale Macht
haben, die eigenen Vorstellungen gegen Widerstand durchzusetzen.
Überlegenheit an Macht ist nicht automatisch mit einer
Überlegenheit an Einsicht und Weisheit verbunden.
Es besteht darum zu Recht der Verdacht, dass die Idee von
Menschenrechten in der politischen Realität Teil einer Ideologie
ist, die Sonderinteressen bestimmter Staaten oder anderer
gesellschaftlicher Gebilde dient. Jede Idee kann Teil einer solchen
Ideologie werden und hier müssen wir uns nur klar machen, warum
und in welcher Hinsicht das bei dieser Idee der Fall sein kann.
Regionaler Ursprung versus universale Geltung
Es gibt hinsichtlich der Idee von Menschenrechten religiös und
kulturell geprägte, aber auch innerhalb einzelner Religionen und
kultureller Traditionen differente Auffassungen. Die Fragen, worin
diese Differenzen bestehen, welcher Art die Gegensätze sind, wie
sie jeweils begründbar und gegeneinander kritisierbar sind,
können nicht gleichgültig sein, wenn so etwas wie ein
"globales Ethos" bedacht werden soll.
Das häufigste Bedenken gegen eine universale Geltung
menschenrechtlicher Normen liegt wohl in dem Hinweis auf den Umstand,
dass solche Normen zuerst in der okzidentalen Geschichte formuliert und
deklariert wurden und dass sie überdies nur mit einer Konzeption
des Menschen begründbar seien, die ausschließlich in dieser
okzidentalen Tradition, hier aber in sehr prägender Weise wirksam
war und ist. Daraus wird gefolgert, dass bestimmte oder sogar alle
Menschenrechtsnormen auch nur für Menschen gefordert werden und
Gültigkeit haben können, die sich in dieser bestimmten Weise
selbst verstehen.
Somit haben wir es mit mehreren Thesen oder Behauptungen zu tun:
Die erste These betrifft zunächst nur eine
rechtshistorische Frage und scheint leicht zu beantworten. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass die staats- und völkerrechtliche
Kodifizierung von Menschenrechten primär ein Teil der okzidentalen
Rechts- und Geistesgeschichte ist. Die staatlichen Deklarationen von
1776 und von 1789, in der Virginia Bill of Rights und in der
Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, haben keine
Vorläufer gleicher Art anderswo. Die Allgemeine Erklärung der
UNO von 1948 war vorwiegend (wir werden dazu noch eine wichtige
Einschränkung machen müssen) von okzidentalen Diskursen
bestimmt – die sich allerdings teilweise widersprachen. Andere
Deklarationen – wie die Kairoer Deklaration u.a. – stehen im Gefolge
davon oder haben keinen vergleichbaren Rechtsanspruch universell
formuliert. Selbst der erst vor wenigen Jahren vorgebrachte Vorschlag,
allgemeine Menschenpflichten in ähnlicher Weise zu kodifizieren,
hatte großteils okzidentale Proponenten.
Ist darum die Frage hinfällig, ob andere, nicht-okzidentale
Traditionen Ideen entwickelt haben, die in ihrer Intention und ihrem
Anspruch genau diesem entsprechen, die aber vielleicht in einigen
inhaltlichen Aspekten unterschiedlich dazu sind? Mit anderen Worten:
Ist es überflüssig, in geistigen Traditionen Afrikas, Asiens
oder im präkolumbianischen Amerika Ideen nachzugehen, die
wesentliche Begriffsmerkmale mit den Menschenrechtsideen gemeinsam
haben und ebenfalls Grundrechte betreffen? Wir sollten diese Frage
nicht schon aus dem Grund verwerfen, weil es wahrscheinlich ist, dass
nicht genau dieselben, d.h. alle diese und nur diese
Normenvorstellungen wie in der okzidentalen Tradition zu erwarten sind.
Lassen wir einmal außer Betracht, dass die so genannten
Menschenrechte der "zweiten Generation", also die in der "Allgemeinen
Erklärung" deklarierten Sozialrechte (Recht auf Arbeit, auf
Bildung, auf medizinische Versorgung usw.) in der früheren
Menschheitsgeschichte faktisch meist implizit anerkannt gewesen sein
dürften, ohne dass sie als Rechte deklariert wurden, dass sie
somit historisch wahrscheinlich die "erste Generation" darstellen, und
fragen wir uns nur, ob das Bewusstsein davon, dass Individuen in
bestimmten Verhaltensformen und Äußerungsweisen nicht
behindert werden dürfen, irgend wo in vormodernen Gesellschaften
formuliert worden ist.
Bei dieser Frage ist gewiss der Hinweis auf die Deklarationen Ashokas
angebracht. Dieser buddhistische Beherrscher eines Großreiches
auf dem indischen Subkontinent ließ an den Grenzen seines Reiches
nach altem Vorbild Inschriften auf Felswänden und Grenzsäulen
anbringen, in denen die Grundsätze formuliert waren, die hinter
diesen Grenzen gelten sollten. Eines dieser Gesetze, zu dessen
Durchsetzung eigene Beamte eingesetzt wurden, betraf das Verbot
religiöser Intoleranz.
Bekannt sind auch die im Koran formulierten Gebote, wonach die
"Menschen des Buches" in ihren religiösen Überzeugungen und
Gebräuchen toleriert werden müssen. Wenngleich dies sich
ausdrücklich nur auf Religionen bezog, die wie der Islam auf
Abraham zurück geführt wurden – auf Juden, Christen und
Sabäer –, so war in verschiedenen Phasen der islamischen
Geschichte damit doch eine realpolitisch erweiterbare Idee gegeben.
Nicht nur die Geschichte des islamischen Andalusien ist hier
einschlägig, sondern auch diejenige Indiens. Es ist eine wichtige
Aufgabe philosophiehistorischer Arbeit in interkultureller
Orientierung, solche Traditionen nicht in Vergessenheit geraten zu
lassen.
Dennoch ist festzuhalten, dass auch solche Fälle von
Religionstoleranz noch nicht gleichbedeutend sind mit einem
uneingeschränkten Menschenrecht auf "Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit" wie es die UNO-Erklärung in Art. 18 formuliert
hat. Menschenrechte in diesem Sinn sind als Idee tatsächlich eine
bürgerlich-neuzeitliche Errungenschaft und treten auch in Europa
an die Stelle von zugestandenen – oder vorenthaltenen – Sonderrechten.
Wir haben es aber nicht nur mit bestimmten Artikeln zu tun, sondern mit
der allgemeinen These, die Idee von Menschenrechten sei überhaupt
ein regionales, ein okzidentales Phänomen. Dem ist, zumindest
historisch, nicht so, auch wenn in vielen Darstellungen die
Vorgeschichte dieses Konzepts lediglich auf Ereignisse und Traditionen
Europas – die Stoa, die Magna Charta usw. – bezogen wird. Es ist
lohnend, sich in dieser Hinsicht die Geschichte der Formulierung des
ersten Artikels der UNO-Erklärung in Erinnerung zu rufen. Der
Artikel lautet:
Freiheit, Gleichheit, Würde, Vernunft, Gewissen
– der "moralphilosophische Überschuss des ersten Artikels scheint
dermaßen eurozentrisch, dass sein normativer Anspruch auf
transkulturelle Geltung keinerlei Erfolg verspricht", schreibt
Thaler. Tatsächlich scheint aber der Wortlaut in einem
wesentlichen Sinn nicht nur auf das chinesische Mitglied des Komitees
zurückzugehen, das die Redaktion durchführte, sondern auf
Gedankengänge eines der bedeutendsten konfuzianischen Denker des
chinesischen Altertums, nämlich auf Mencius. Der erste Entwurf des
Textes hatte noch nicht vom "Gewissen" als einer Wesensbestimmung des
Menschen gesprochen, was erst P.C. Chang einmahnte, der sich von einem
"anthropologischen Grundmotiv" leiten ließ, "dessen
Ursprünge in die konfuzianische Philosophie zurück reichen:
Der Mensch kann demnach vor allem durch sein Vermögen,
Mitgefühl (ren) zu empfinden, charakterisiert werden."
Mit einem solchen Hinweis ist natürlich nicht gesagt, dass "der"
Konfuzianismus oder gar "die" chinesische Philosophie zu den modernen
Menschenrechtsideen geführt hätten. Aber es ist eine Warnung
ausgesprochen gegenüber der verbreiteten Annahme, sie seien damit
schlicht unverträglich. Der Abschied von holistischen
Zuschreibungen eröffnet erst mögliche Argumentation. Paul
führt in seinem Bericht über das Projekt "Menschenrechte –
Philosophische Idee und Begründung in interkultureller
Sicht" die methodologischen Regeln auf, die interkulturelle
Philosophie und insbesondere auch Ethik zu beachten hat. Eine der
wichtigsten darunter scheint mir zu sein, bloße Berufung auf
Tradition ebenso zu vermeiden wie "ethno- und kulturzentrische
Argumente."
Sind Menschenrechtsnormen nur mit einer bestimmten Idee vom Menschen
verträglich, die ausschließlich okzidental ist?
Die zweite These, aus der eine Kritik an universeller Gültigkeit
von Menschenrechten scheinbar gerechtfertigt ist, besagt, dass diese
Normvorstellungen lediglich mit einer bestimmten Idee des Menschen
verträglich, mit anderen Auffassungen vom Menschen jedoch
unverträglich seien. Was ist diese okzidentale Idee vom Menschen?
Mouffe hat unter Berufung auf Panikkar von einem wohlbekannten Set von
Aussagen gesprochen, welche alle für okzidentales Denken
kennzeichnend seien und die Grundlage für die Idee der
Menschenrechte bildeten. Dies sei (a) die Idee, dass es eine
universelle menschliche Natur gebe, die mit rationalen Mitteln
erkennbar sei; (b) dass die menschliche Natur wesentlich verschieden
und höher stehend sei als die gesamte übrige Wirklichkeit;
dass (c) das Individuum eine absolute und irreduzible Würde habe,
die gegen die Gesellschaft und den Staat verteidigt werden müsse;
dass (d) die Autonomie des Individuum die Organisation der Gesellschaft
in einer nicht-hierachischen Weise als Summe freier Individuen
erfordere.
Hier ergeben sich zwei Fragen: Ob es stimmt, dass alle diese Aussagen
"distinctively western" sind, ist die erste. Die zweite Frage ist damit
nicht notwendig verbunden: Ob nur mit einer solchen Auffassung vom
Menschen die Idee von allgemeinen Menschenrechten verbunden sein kann.
Die dritte These besagt, dass die Vorstellung von
einem autonomen Subjekt, das mit dem Individuum vollkommen
zusammenfällt, die leitende oder sogar die ausschließliche
Vorstellung des okzidentalen Menschen von sich selbst ist. Autonom ist,
wer oder was sich selbst das Gesetz seines Handelns gibt. Bis Kant
diese Forderung und Zumutung an den Einzelmenschen richtete, wurde als
Subjekt von Autonomie nur der Souverän, nach heutigem
Verständnis der Staat gesehen. Das autonome Subjekt, wie Kant es
sieht, kann dies nur sein, weil und insofern ihm die Vernunft
hinreicht, um sich "im Denken zu orientieren" und nicht an Belohnungen
oder Bestrafungen, nicht auf Grund von Hoffnungen oder Ängsten,
nicht an Vorbildern oder gegen diese.
Die Idee, wonach der individuelle Mensch das autonome Subjekt in allen
Dingen sei, ist wohl nur auf dem Hintergrund einer bestimmten
Ausprägung des Christentums verständlich, in dessen Sicht der
Einzelmensch, das Individuum eine besondere Stellung hat. Keinerlei
Seelenwanderungslehre mindert die Einmaligkeit des christlichen
Menschen und jede/r Einzelne wird ausschließlich nach ihren oder
seinen Taten und Untaten gerichtet. Auch wenn dieser Hinweis auf den
christlichen Hintergrund nicht besagt, dass die moderne Idee der
Menschenrechte direkt aus dem Christentum erwachsen wäre – das ist
sie gerade nicht –, liegt darin doch eine wichtige Wurzel. Andere
Religionen haben den Hintergrund für andere Menschenbilder
abgegeben, es gibt keine universelle Gleichheit darin.
Verschiedene Bedingtheiten der Vernunft und des Subjekts sind jedoch
durchaus auch Teil des okzidentalen Selbstverständnisses. Ich
erwähne nur einige: Dass Autonomie eine Illusion und das Subjekt
tot sei, lehrte der Strukturalismus und Freud hatte erkannt: "Das Ich
ist nicht Herr im eigenen Haus." Marx hatte von dem Maulwurf
gesprochen, der unsichtbar unterirdisch wühlt und dem "sich
mannigfach gebärdenden phänomenologischen Bewußtsein
des Subjekts" seine Möglichkeiten vorgibt und Hegel spricht von
"übernächtigen Ephemeren", die der "Geist" zu seinen Zwecken
gebraucht: "er hat Nationen und Individuen genug zu dispensieren". Das
sind nicht Bilder, in denen Autonomie des Subjekts sich ausdrückt.
Auch bei Philosophen wie Feuerbach, Buber oder Merleau-Ponty suchen wir
das autonome Subjekt vergeblich.
Und schließlich bedeutet auch für das europäische
Christentum in seiner Gesamtheit die Einmaligkeit und
Unverwechselbarkeit des Individuums nicht einfach Autonomie.
Gemäß der vierten These ist das Konzept
vom Menschen als von einem individuellen autonomen Subjekt nicht nur
nicht universell entwickelt, es ist auch nicht universalisierbar,
weswegen es keine Norm gibt, die darauf beruht und die für alle
Menschen verbindlich wäre. Den ersten Teil der These werden wir
ohne große Bedenken zugestehen können: Diese Idee ist auch
im Okzident keineswegs allgemein überzeugend geworden.
Die These besagt aber eben auch, dass dieses oder ein anderes
Menschenbild auch nicht universalisierbar ist, indem es etwa von seinem
religiösen oder sonstigen regionalen Hintergrund gelöst und
als vernunftgemäß für alle Menschen aufgewiesen
würde. Diese Möglichkeit wird in separativ-zentristischer
Weise bestritten, indem angenommen wird, dass die in bestimmten
Gesellschaften oder Traditionen entwickelten Auffassungen und
Ideen auch nur für Angehörige dieser Gesellschaften oder nur
innerhalb einer bestimmten kulturellen Tradition Gültigkeit haben
könnten. Wer so argumentiert, zieht sich in allerdings auf eine
separatistische Ethnophilosophie zurück, indem bereits die
Möglichkeit von Argumentation verneint wird.
Philosophie ist mit Traditionalismus und Dogmatismus zwar ständig
konfrontiert, aber sie muss sich nach ihren eigenen Möglichkeiten
fragen. Diese liegen in Argumentation und in vielseitiger,
polylogischer Auseinandersetzung.
Es ist kaum verwunderlich, wenn dogmatische Anhänger einer
Religion eine separatistische Position beziehen. Jedoch gibt es auch
bei religiösen Menschen unterschiedliche Grade der
Überzeugung von einer exklusiven Gültigkeit ihrer Ansichten.
Ich will drei davon aus der islamischen Tradition anführen.
a) Eine Gesprächsverweigerung könnte sich etwa folgendermaßen ausdrücken:
Die Bezugnahme auf andere Quellen als die des Islam
und somit auch auf andere Kulturen, die sich in ihrer Grundlage,
Zielsetzung und Vorstellung vom Leben grundsätzlich von der
islamischen Kultur unterscheiden, ist unter keinen Umständen
erlaubt.
Demgegenüber dürften, wenn die Formulierung ernstzunehmen
ist, wohl keinerlei Argumentationen erfolgversprechend sein. Doch hat
die Philosophie eben keine heiligen Bücher und darf darum die
"Bezugnahme auf andere Quellen" nicht nur nicht ausschließen,
muss sie vielmehr suchen. Das gilt für alle Seiten. Es gilt auch
für westliche Menschenrechtsdiskurse, dass sie das Gespräch
verweigern, wenn sie "andere Quellen" als diejenigen der eigenen
Tradition nicht zur Kenntnis nehmen.
b) Was das praktisch bedeutet, können wir uns
an dem auf den ersten Blick nur anstößig wirkenden Versuch
einer Selbstimmunisierung im Schlussartikel der Kairoer Deklaration der
Menschenrechte im Islam verdeutlichen. Art. 25 dieser Deklaration
lautet:
Er scheint eine entscheidende Schwierigkeit für
jede Art von Auseinandersetzung darzustellen, nämlich dann, wenn
damit der Anspruch erhoben wird, dass nur islamische Gelehrte
überhaupt zu Wort kommen können. Es könnte allerdings
auch die Aufforderung darin enthalten sein, sich in der Weise auf den
Diskurs einzulassen, dass der geistige Hintergrund der Deklaration,
also die Shar’ia, jedenfalls als Bezugsrahmen allen denjenigen vertraut
sein muss, die über einen darin enthaltenen Artikel diskutieren
wollen. Dies ist eine durchaus legitime Forderung, die allerdings, wenn
sie erfüllt ist, auch anerkannt werden muss. Eine für
philosophische Zugangsweisen unerträgliche Immunisierung läge
dann darin, wenn über gründliche Vertrautheit mit der Shar’ia
hinaus auch noch deren fraglose Akzeptanz gefordert wäre. Aber das
sollte nicht zwingend angenommen werden. Und es sollte unter
Philosophen auch nicht zugestanden werden.
In Menschenrechtsfragen dürfte auf Dauer ein Verhalten ohnedies
nicht möglich sein, das Larson im Zusammenhang mit komparativer
Philosophie oft konstatieren zu müssen glaubt: Eine "misplaced
civility" dergestalt, dass "a remarkable cordiality across cultural
lines" vorherrsche, ein Aussetzen von gegenseitiger Kritik also, was
dann natürlich nicht einen Dialog oder Polylog, sondern ein
Nicht-ernst-Nehmen der jeweils Anderen bedeutet. Hierin liegt
auch eine Grenzlinie zwischen "vergleichender" Philosophie und einem
Philosophieren in interkultureller Orientierung: Dass erstere unter
Umständen das Vergleichen um des Vergleichens willen und ohne
philosophisch-systematische Absicht betreiben kann.
c) Ein drittes Beispiel, von einem shiitischen Autor
genommen, kann illustrieren, dass auch in menschenrechtlichen Fragen
ganz schlicht bestreitbare Argumente vorgebracht werden. Im
Zusammenhang mit der Ungleichstellung von Männern und Frauen in
Bezug auf das Scheidungsrecht schreibt Musawi Lari:
Weil das Ziel des Islam feste Ehen sind, werden im Interesse dieser
Zielsetzung bestimmte Freiheiten ausgeschlossen. Außer in ganz
außergewöhnlichen Fällen erhält der Mann allein
das Scheidungsrecht. Das geschieht, um die wohlverstandenen Interessen
der Frau zu schützen und sie davor zu bewahren Opfer ihrer
Leidenschaft zu werden. […] In Anbetracht der geistigen
Anfälligkeit der Frau wird ihr nicht die Vollmacht gewährt,
ein gemeinsames Leben zu beenden.
Und er gibt die Begründung: "Bei Entscheidungen der Männer
hat der Kopf Vorrang, bei der Frau das Herz."
Diese Begründung ist, wie immer die Sache selbst gesehen werden
mag, nicht ein dogmatisch-religiöses Argument, sondern eine
Tatsachenbehauptung und somit überprüfbar. Sie rechtfertigt
sich zwar aus einer bestimmten Tradition, aber das macht sie an sich
weder richtig noch falsch. "Keine Tradition", schreibt Paul, "kann
aufgrund ihrer selbst bzw. aufgrund traditionseigener Merkmale etc.
gerechtfertigt werden."
Jede Tradition, so ist hinzu zu fügen, ist jedoch ernst zu nehmen
in dem Sinn, dass sie kritischer Prüfung ausgesetzt und nicht
einfach abgelehnt wird. Der Weg zum Aufweis universeller
Gültigkeit auch von Menschenrechten führt über Dialoge
oder Polyloge und hat daher eigentlich nur eine Voraussetzung – dass
Menschen einander als Argumentierende ernst nehmen.
Zitierte Literatur:
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Globalisierung. Eine arabische Sicht. Im Internet: http://www.ibn-rushd.org/Deutsch/FAYEK-germ.htm
[Abruf: 1. Juni 2003]
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In: Wierlacher, Alois und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle
Germanistik. Stuttgart: Metzler. S. 126-132
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interkulturelle und interreligiöse Perspektive. Frankfurt/M.:
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Mouffe, Chantal (2003): Democratic Values, Human Rights and Pluralism
(unveröff. Vortragstext der Konferenz Diversity, Justice, and
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Musawi Lari, Sayid Mujtaba (ca.1977): Westliche Zivilisation und Islam.
Muslimische Kritik und Selbstkritik. Qom: Musavi Lari Foundation of
Islamic C.P.W.
Panikkar, Raimundo (1982): Is the notion of Human Rights a Western
Concept?, In: Diogenes 120
Paul, Gregor (2001): Philosophie der Menschenrechte. Ergebnisse eines
Projekts. polylog. Forum für interkulturelles Philosophieren 2
(2001), 1-19. Im Internet: http://agd.polylog.org/3/ppg-de.htm
Rao, Srinivasa (1997): Comparative metaphysics: means or end. In:
Smart, Ninian (Hg.): East-West encounters in philosophy and religion.
London. S. 292-299
Redaktion (1998): Islam oder Menschenrechte. In: explizit. Das
politische Magazin für ein islamisches Bewusstsein, Bd. 6, Nr. 21
Thaler, Mathias (2002): Antworten auf den Kulturrelativismus. Eine
philosophische Untersuchung aktueller Debatten zur Universalität
der Menschenrechte. Wien: Diplomarbeit
Twiss, Sumner B. (1998): A Constructive Framework for Discussing
Confucianism and Human Rights, in: de Bary, Theodore Wm./Weiming, Tu
(Hg.), Confucianism and Human Rights, New York, S. 27-53
In der Diskussion zu dieser Vorlesung wurde
insbesondere das Thema "Toleranz" thematisiert. Dazu verweise ich auf
die Beiträge in den "IWK-Mitteilungen" zum Thema "Toleranz -
Minderheiten - Dialog" (1999). Im Internet:
Heft 1: http://sammelpunkt.philo.at:8080/archive/00001109/
Hier insbesondere zur Geschichte der Toleranzedikte der Beitrag von
Ernst Wangermann.
Heft 2: http://sammelpunkt.philo.at:8080/archive/00001117/
Zur Einstiegsseite der Vorlesung.
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