Fallen unter Berücksichtigung des Luftwiderstands
(mit dem Lagrangeformalismus)


Franz Embacher

Fakultät für Physik der Universität Wien

 
Bewegungsgleichung:

Die Bewegungsgleichung eines (nichtrotierenden) vertikal fallenden Körpers unter Berücksichtigung des Luftwiderstands lautet

$m\ddot{z}=-mg+\beta\dot{z}^2$,

wobei die Koordinate $z$, wie üblich, nach oben hin zunimmt, $m$ die Masse des Körpers ist, $g$ die Erdbeschleunigung und $\beta>0$ ein Reibungskoeffizient, der von der Geometrie des Körpers und von der Dichte und der Viskosität der Luft abhängt (siehe dazu diese und diese Seite). Die obige Form der Bewegungsgleichung beschreibt nur die Fallbewegung, wenn also $\dot{z}\leq 0$ gilt, nicht die Bewegung eines nach oben geworfenen Körpers, da die Reibungskraft $\beta\dot{z}^2$ nur beim Fallen in die der Geschwindigkeit entgegengesetzte Richtung weist. (Für die Beschreibung der Aufwärtsbewegung wäre $\beta$ durch $-\beta$ zu ersetzen).

Besitzt dieses System eine Erhaltungsgröße? Die Energie im Sinne von $E={m\over 2}\dot{z}^2+mgz$ (kinetische Energie + potentielle Energie im homogenen Schwerefeld) ist nicht erhalten. Das ist auch formal einzusehen, indem beide Seiten der Bewegungsgleichung mit $\dot{z}$ multipliziert und in der Form

$m\dot{z}\ddot{z}+mg\,\dot{z}=\beta\dot{z}^3$

angeschrieben werden. Daraus folgt mit

$\dot{E}\equiv{\large d\over \large dt}\left({m\over 2}\dot{z}^2+mg\,z\right)=\beta\dot{z}^3$

eine "Nicht-Energieerhaltungs-Gleichung". (Da $\dot{z}\leq 0$ ist, ist die rechte Seite $\leq 0$, was einer kontinuierlichen Abnahme von $E$ entspricht).


Erhaltungsgröße:

Interessanterweise besitzt das System aber dennoch eine Erhaltungsgröße, die sich bei einer vielleicht exotisch anmutenden Verwendung des Lagrangeformalismus zeigt. (Eine Einführung in den Lagrangeformalismus wird etwa in diesem Buch gegeben). Dazu definieren wir zunächst die Lagrangefunktion

$L(z,\dot{z})=e^{-2\beta\,z/m}\left({m\over 2}\dot{z}^2+{m^2g\over 2\beta}\right)$.

Mit $$p={\partial L\over\partial\dot{z}}=e^{-2\beta\,z/m}\,m\dot{z}$$ und $${\partial L\over\partial z}=-{2\beta\over m}e^{-2\beta\,z/m}\left({m\over 2}\dot{z}^2+{m^2g\over 2\beta}\right)$$ lautet die Euler-Lagrange-Gleichung $${d\over dt}\left(e^{-2\beta\,z/m}\,m\dot{z}\right)=-{2\beta\over m}e^{-2\beta\,z/m}\left({m\over 2}\dot{z}^2+{m^2g\over 2\beta}\right)$$ oder, nach einer kleinen Umformung

$m\ddot{z}=-mg+\beta\dot{z}^2$,

was mit der obigen Bewegungsgleichung übereinstimmt! Sie beschreibt wie jene nur für $\dot{z}\leq 0$ das Fallen mit Luftwiderstand.

Da die Lagrangefunktion nicht explizit von der Zeit anhängt, ist die Hamiltonfunktion $$H=\dot{z}p-L=e^{-2\beta\,z/m}\left({m\over 2}\dot{z}^2-{m^2g\over 2\beta}\right)$$ (die wir hier als Funktion von $z$ und $\dot{z}$ auffassen können) eine Erhaltungsgröße! Das ist kurios, hat doch $H$ eine ganz andere Form als das, was wir gemeinhin als die "Energie" eines solchen Körpers ansehen würden! Nicht einmal für $\beta\to 0$ geht $H$ in den obigen Ausdruck für $E$ über.

Zur Überprüfung, dass $H$ eine Erhaltungsgröße ist, muss der Lagrangeformalismus nicht bemüht werden:

$\dot{H}=-{2\beta\over m}\dot{z}e^{-2\beta\,z/m}\left({m\over 2}\dot{z}^2-{m^2g\over 2\beta}\right) +e^{-2\beta\,z/m}\,m\dot{z}\ddot{z}=e^{-2\beta\,z/m}\,\dot{z}\,\underbrace{\left(m\ddot{z}+mg-\beta\dot{z}^2\right)}_{\large 0}=0$.

Diskussion:

Die Erhaltungsgröße $H$ kann auch ohne Lagrangeformalismus beim Versuch gewonnen werden, die Bewegungsgleichung zu lösen, indem $z$ statt $t$ als unabhängige Variable betrachtet wird: Mit $\dot{z}=v$ und $\ddot{z}={dv\over dt}={dv\over dz}{dz\over dt}\equiv{dv\over dz}v$ nimmt die Bewegungsgleichung die Form $$m{dv\over dz}v=-mg+\beta\,v^2$$ an, was mit $u=v^2$ als $${m\over 2}{du\over dz}=-mg+\beta\,u$$ oder $$dz={m\,du\over 2(\beta\,u-mg)}$$ geschrieben werden kann. Daraus folgt nach einer Integration

$z={\Large{m\over 2\beta}}\,\ln{\Large{\beta\,u-mg\over C}}\equiv {\Large{m\over 2\beta}}\,\ln{\Large{\beta\,\dot{z}^2-mg\over C}}$,

wobei $C$ eine frei zu wählende Integrationskonstante ist. Nach $C$ aufgelöst ergibt sich

$C=e^{-2\beta\,z/m}\left(\beta\,\dot{z}^2-mg\right)\equiv {\large{{2\beta\over m}}}\,H$.

Die Erhaltungsgröße $C$ (und damit $H$) tritt hier als simple Integrationskonstante im Zuge des Lösungsvorgangs auf – der Lagrangeformalismus hat lediglich den Vorteil, systematischer auf sie zu führen.

Im Zuge des Fallens wird sich asymptotisch eine Grenzgeschwindigkeit $v_\infty$ einstellen. Ihr Wert ergibt sich aus der Bewegungsgleichung zu

$v_\infty=\sqrt{\Large{2 g\over \beta}}$ .

Damit wird

$H={\large{m\over 2}}\,e^{-2\beta\,z/m}\left(\dot{z}^2-v_\infty{}^2\right)$.

Der Faktor vor der Klammer nimmt während des Fallens exponentiell mit der bereits zurückgelegten Strecke zu, der Klammerausdruck ist ein Maß für die Abweichung der Geschwindigkeit von der Grenzgeschwindigkeit. Die Erhaltung von $H$ erweist in formaler Hinsicht, dass in jedem Fall eine asymptotische Annäherung an diese eintritt.

Hat die Lagrangefunktion $L$ über diese praktischen Aspekte hinaus eine "physikalische Bedeutung"? Wer will, kann sie in der Form $$L(z,\dot{z})={M(z)\over 2}\dot{z}^2-W(z)$$ anschreiben und interpretieren, dass durch sie ein Körper mit einer ortsabhängigen Masse $M(z)=m\,e^{-2\beta\,z/m}$ beschrieben wird, dessen potentielle Energie durch $W(z)= -{m^2g\over 2\beta}e^{-2\beta\,z/m}$ gegeben ist. Der Impuls ist dann $p=M(z)\dot{z}$, die Bewegungsgleichung lautet

$\dot{p}=-\,W\,'(z)\equiv$ Kraft auf den Körper,

und die Hamiltonfunktion nimmt die Form $$H={M(z)\over 2}\dot{z}^2+W(z)$$ an. Der Effekt der während der Fallbewegung wachsenden Masse (Trägheit) überwiegt jenen, der von dem ebenfalls wachsenden Betrag der Kraft herrührt, so dass sich die Beschleunigung verringert und die Bewegung effektiv der eines fallenden Körpers unter Berücksichtigung des Luftwiderstands gleicht.


Verallgemeinerungsmöglichkeiten:

Mit $$L(z,\dot{z})=e^{-f(z)}\left({m\over 2}\dot{z}^2+g(z)\right)$$ ergibt sich die Bewegungsgleichung

${d\over dt}\left(e^{-f(z)}m\,\dot{z}\right)=e^{-f(z)}\left(-{m\over 2}f'(z)\dot{z}^2+g'(z)-f'(z)g(z)\right)$

oder, nach einer kleinen Umformung,

$m\,\ddot{z}=\underbrace{g'(z)-f'(z)g(z)}_{\Large F(z)}+\underbrace{{m\over 2}f'(z)}_{\Large B(z)}\dot{z}^2$,

was durch geeignete Wahl von $f(z)$ und $g(z)$ benutzt werden kann, um einen Körper zu beschreiben, auf den neben der Kraft $F(z)$ der Luftwiderstand mit ortsabhängigem Reibungskoeffizienten $B(z)$ wirkt. Wie im oben betrachteten Spezialfall ist diese Interpretation aber nur möglich, solange $B(z)$ und $\dot{z}$ entgegengesetze Vorzeichen besitzen. Da die Lagrangefunktion nicht explizit von der Zeit abhängt, ist auch im allgemeinen Fall die Hamiltonfunktion, die nun die Form $$H=e^{-f(z)}\left({m\over 2}\dot{z}^2-g(z)\right)$$ annimmt, eine Erhaltungsgröße. Eine solches Modell kann das Fallen eines Körpers (z.B. Felix Baumgartner) durch Luftschichten mit vaiiierenden Eigenschaften beschreiben.


Nachbemerkungen:
  • Reibungskräfte können durch die Verwendung geeigneter Zwangsbedingungen im Rahmen des Lagrangeformalismus beschrieben werden. Die oben betrachteten Modelle sind insofern Ausnahmeerscheinungen, als hier keinerlei derartige Konstruktionen erforderlich sind. Sie lassen sich allerdings nicht ohne Weiteres auf den dreidimensionalen Fall übertragen.
     
  • Eine Möglichkeit, eine zur Geschwindigkeit proportionale Reibungskraft, also eine Bewegungsgleichung der Form $$m\ddot{x}=-V'(x)-\alpha\,\dot{x}$$ im Rahmen des Lagrangeformalismus (ohne Zwangsbedingungen) zu beschreiben (die sich auch auf den dreidimensionalen Fall übertragen lässt), ist in diesem Buch (S. 142) beschrieben.


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