Spezielle Relativitätstheorie


14. Der Bondische k-Kalkül
 

Diese auf Hermann Bondi zurückgehende Methode macht es möglich, die verschiedensten Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie in einer sehr eleganten Weise herzuleiten.

Die zentrale Aussage des Kalküls

Die Bondische Methode besteht in der Anwendung einer einzigen "elementaren" Regel, die wir zunächst besprechen wollen: Wir brauchen dazu zwei geradlinig gleichförmig bewegte Objekte (Teilchen, Uhren, "Beobachter"), deren Relativbewegung in einer einzigen Raumdimension (voneinander weg oder aufeinander zu) stattfindet und wählen zur grafischen Darstellung ein Inertialsystem, in dem sich beide nur in x-Richtung bewegen (das aber ansonsten beliebig ist). Dann betrachten wir die folgende Situation:

Von einem der beiden Objekte (dem Sender, im Diagramm durch die linke Weltlinie dargestellt) werden zwei Lichtsignale (Photonen) ausgesandt. Zwischen den beiden Aussende-Ereignissen vergeht für eine mit dem Sender mitbewegte Uhr das Zeitintervall T. (Das Stück Weltlinie zwischen den beiden Aussende-Ereignissen ist auf der Weltlinie des Senders rot markiert. Die Größe T entspricht der Eigenzeit dieses Stücks, nicht aber dessen in der Zeichenebene aufscheinender Länge). Das andere Objekt (der Empfänger, im Diagramm durch die rechte Weltlinie dargestellt) empfängt die beiden Photonen. Zwischen den beiden Empfangs-Ereignissen vergeht für eine mit dem Empfänger mitbewegte Uhr ein anderes Zeitinterall, das wir als kT bezeichnen (siehe die rot markierte Strecke auf der Weltlinie des Empfängers), wobei k der Faktor ist, um den sich Eigenzeitintervalle ändern, wenn sie nach dieser Methode von einer Weltlinie auf eine andere übertragen werden. Er ist gegeben durch

k   = 

1 + v/c
1 - v/c


1/2

 
,
(1)

wobei v die Relativgeschwindigkeit der beiden Objekte ist. (Mit anderen Worten: In einem Inertialsystem, in dem das eine in Ruhe ist, bewegt sich das andere mit Geschwindigkeit v). Dabei wird

  • v als positiv angenommen, wenn sich die Objekte voneinander wegbewegen (dann ist k > 1) und
  • als negativ, wenn sie sich aufeinander zubewegen (dann ist k < 1).

Der "Streckungsfaktor" (oder "Verkürzungsfaktor") für Eigenzeitintervalle (auch k-Faktor genannt) hängt also nur von der Relativgeschwindigkeit ab und von sonst nichts! Insbesondere können die Rollen von Sender und Empfänger vertauscht werden: Wenn der bisherige Empfänger nun zwei Photonen im Eigenzeitabstand S zurückschickt, so werden sie vom bisherigen Sender im Eigenzeitabstand kS empfangen, wobei k wieder durch (1) gegeben ist, da sich die Relativgeschwindigkeit, wie wir sie definiert haben, durch den Rollentausch nicht ändert.

Physikalisch gesehen handelt es sich bei dieser Aussage um nichts anderes als den relativistischen Dopplereffekt. Wer den entsprechenden Abschnitt nachliest, wird sehen, dass wir die Formel (1) bereits hergeleitet haben: siehe die dortige Formel (2). Daher können alle Argumentationen, die auf dieser Regel basieren, auch unter Zuhilfenahme des relativistischen Dopplereffekts physikalisch motiviert werden. Dabei spielt der k-Faktor die Rolle eines quantitativen Maßes für die Rot- bzw. Blauverschiebung von Lichtsignalen, die zwei Beobachter austauschen.

Erstaunlicherweise reicht diese Regel aus, um alle Resultate der Speziellen Relativitätstheorie, soweit Längen und Zeiten in einer einzigen Raumdimension betroffen sind, durch halb geometrische und halb rechnerische Argumentationen herzuleiten. Die übliche Vorgangsweise besteht darin, Diagramme wie das obige zu zeichnen (wir werden das gleich anhand konkreter Beispiele demonstrieren), k-Faktoren zu identifizieren und schließlich (1) zu verwenden, um von k-Faktoren zu Geschwindigkeiten überzugehen. Die bei der Anwendung von (1) verbleibende Rechenarbeit ist dabei von der geometrischen Argumentation entkoppelt. In manchen Fällen ergeben sich Herleitungen, die wesentlich eleganter als die üblichen sind. Diese Vorgangsweise kann zu einer systematischen Methode ausgebaut werden, um die Spezielle Relativitätstheorie (in einer Raumdimension) aufzubauen. In dieser Rolle hat sie den Namen "k-Kalkül" bekommen und wird manchmal - ein bisschen irreführend - als "Relativitätstheorie ohne Formeln" bezeichnet. Über die didaktische Bedeutung hinaus gewährt sie an manchen Stellen tiefere Einblicke in das relativistische Konzept von Raum und Zeit.

In der Formel (1) und der Art, wie sie gehandhabt wird, steckt also in gewisser Weise die gesamte Spezielle Relativitätstheorie (in einer Raumdimension). Wie ist das möglich? Was ist "relativistisch" an Formel (1)? Das ist leicht beantwortet: Es ist das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die in die Formel eingebaut ist: Die Bedeutung der Konstante c in (1) ist von vornherein klar und benötigt keine Zusatzinformation. Wenn im Rahmen der galileischen Physik ein Beobachter einem anderen (ihm gegenüber bewegten) ein Photon schickt, so kann sich dieses nicht relativ zu beiden mit derselben Geschwindigkeit c bewegen. Es müsste dann immer dazugesagt werden, wie schnell das Photon jeweils in welchem Inertialsystem ist. (Das entspricht der Tatsache, dass die Formel für den nichtrelativistischen Dopplereffekt nicht nur davon abhängt, wie schnell sich der Empfänger gegenüber dem Sender bewegt, sondern auch noch davon, wie sich beide gegenüber dem Ausbreitungsmedium der Welle bewegen). Eine solche Zusatzinformation ist im relativistischen Kontext ganz und gar nicht nötig, und dementsprechend handelt es sich bei (1) um eine einzige Formel, in der nicht dazugesagt werden muss, was c bedeutet.
 

Zwillingsparadoxon im k-Kalkül

Um die Anwendung des k-Kalküls zu illustrieren, werden wir ihn nun auf das Zwillingsparadoxon anwenden. Die Argumentation ist ganz kurz. Wir zeichnen zunächst die Situation des Zwillingsparadoxons in einem Raumzeit-Diagramm, so wie wir es im gleichnamigen Abschnitt getan haben, und fügen zwei Photonen-Weltlinien ein (wir zeichnen der Übersichtlichkeit halber zwei Diagramme):

Für den zurückgebliebenen Zwillingsbruder vergeht die (Eigen-)Zeit T, während die von ihrer Reise zurückgekehrte Schwester insgesamt eine Reisedauer T ' verzeichnet. Mit Hilfe der elementaren Regel des k-Kalküls lesen wir aus dem linken Diagramm ab, dass  T '/2 = k und aus dem rechten, dass  T - s = k T'/2  ist, wobei k durch (1) gegeben ist und v für die Reisegeschwindigkeit der Schwester steht. Aus diesen beiden Gleichungen eliminieren wir s und erhalten  T - T '/(2k) = k T '/2, also

T  =  (k + 1/k) T '/2  =  T ' (1 - v2/c2 )-1/2, (2)

was genau das korrekte Resultat ist (vgl. Formel (2) im Abschnitt über das Zwillingsparadoxon)! Der einzige Rechenaufwand, der hier notwendig ist, ist also die Berechnung von  (k + 1/k)/2, was auf den oft auftretenden Faktor  (1 - v2/c2 )-1/2  führt. (Weiter unten bei der Behandlung der Lorentztransformation wird - in Formel (9) - übrigens derselbe Ausdruck und daher dieselbe Rechnung auftreten).
 

Relativistische Geschwindigkeitsaddition im k-Kalkül

Eine besonders eindrucksvolle Demonstration des k-Kalküls stellt seine Anwendung auf die relativistische Geschwindigkeitsaddition dar. Wir haben sie bereits in diesem früheren Abschnitt skizziert. Wer sie nachvollziehen will, wird erkennen, dass der geometrische Ansatz um vieles leichter nachvollziehbar ist als die herkömmliche (auch im entsprechenden Abschnitt vorgeführte) Argumentation. Lediglich bei der rechnerischen Auswertung von (1) treten ein paar längere Ausdrücke auf.
 

Lorentztransformation im k-Kalkül

Die übliche Argumentation zur Herleitung der Lorentztransformation, die im gleichnamigen Abschnitt vorgeführt wurde, besteht aus einer Kette von Einzelschritten, die bereits für sich genommen nicht zu den einfachsten Dingen gehören. Der k-Kalkül erlaubt eine überraschend einfache Herleitung (sofern die Koordinaten y und z ignoriert werden). Dafür ist es nötig, die Raumzeit-Koordinaten t und x in einem gegebenen Inertialsystem durch die Kombinationen

x   =   t + x/c
h   =   t - x/c
(3a)
(3b)

zu ersetzen. Sie werden "lichtartige Koordinaten" genannt und sind von der Dimension her Zeiten. Ist ein Ereignis durch die Koordinaten t und x charakterisiert, so können ihm statt dessen die beiden Zeiten x und h zugeordnet werden. Sind umgekehrt x und h für ein Ereignis gegeben, lassen sich die ursprünglichen Koordinaten t und x mittels

t   =    (x + h)/2
x   =   c (x - h)/2
(4a)
(4b)

wieder zurückgewinnen. Die Bedeutung der lichtartigen Koordinaten zeigt sich am besten in folgendem Raumzeit-Diagramm:

Um die Größen x und h für das Ereignis A (dessen Raumzeit-Koordinaten x und t sind) zu bestimmen, genügt ein im Ursprung (an der Stelle x = 0) ruhender Beobachter, der ein Lichtsignal aussendet (Ereignis B), das in A reflektiert wird. Das reflektierte Signal kommt im Ereignis C zum Beobachter zurück. Aus dem Diagramm lässt sich entnehmen, dass x die Eigenzeit ist, die zwischen den Ereignissen O (Zeitnullpunkt im Ursprung) und C vergeht, und h die Eigenzeit, die zwischen O und B (erstes Aussenden des Lichtsignals) vergeht. x entspricht der rot eingezeichneten Strecke (inklusive dem unteren strichlierten Teil), h der rot-grün strichlierten Strecke.

Nun lässt sich der k-Kalkül anwenden. Wir betrachten dieselben Inertialsysteme I und I', die auch im Abschnitt Lorentztransformation verwendet wurden: Der räumliche Ursprung von I' bewegt sich in I mit Geschwindigkeit v, seine Weltlinie ist die t'-Achse. (Die Lage der x'-Achse benötigen wir für die Argumentation nicht). Auch im Ursprung von I' sitzt ein Beobachter, der die Größen x' und h' mit demselben Verfahren misst wie der Beobachter in I die Größen x und h.

Die zweimalige Anwendung der elementaren Regel des Kalküls - in beide Richtungen - ergibt unmittelbar, dass

x  =    k x'
h'   =   k h,
(5a)
(5b)

wobei k durch (1) gegeben ist. Das kann in der Form

x'  =    k-1 x
h'   =   k  h,
(6a)
(6b)

angeschrieben werden. Damit haben wir die lichtartigen Koordinaten bezüglich I' durch die lichtartigen Koordinaten bezüglich I ausgedrückt. Eigentlich haben wir damit bereits die Lorentztransformation, und sie sieht in dieser Form sehr einfach aus: x wird beim Umrechnen mit 1/k multipliziert, h wird mit k multipliziert! (Als Nebenresultat bemerken wir, dass sich das Produkt x h nicht ändert, d.h. in beiden Inertialsystemen gleich groß ist: x h = x' h'. Es handelt sich um eine so genannte Invariante).

Um die Lorentztransformation in der üblichen Form zu erhalten, muss lediglich mittels (3) und (4) - für das gestrichene und für das ungestrichene System - auf die Koordinaten t, x, t' und x' umgerechnet werden:

t' = (x' + h')/2 = x/(2k) + k h/2 = (t + x/c)/(2k) + k (t - x/c)/2
x' = c (x' - h')/2 = c x/(2k) - c k h/2 = c (t + x/c)/(2k) - c k (t - x/c)/2 .

(7a)
(7b)

Wird für k der Ausdruck (1) eingesetzt , so ergibt sich

t'   =   g ( t - (v/c2) x )
x'   =   g ( x - v t )
(8a)
(8b)

mit

g  =  (1/k + k)/2  =  (1 - v2/c2 )-1/2 .
(9)

Das ist genau das gleiche Resultat, das auf umständlicherem Weg im Abschnitt über die Lorentztransformation erzielt worden ist, und (9) zeigt die Beziehung zwischen g und dem k-Faktor.

Die Invariante x h, auf die wir oben gestossen sind, berechnet sich mit (3) zu  t2 - x2/c2. Damit ist uns ein wichtiges Resultat nebenbei in die Hände gefallen: Die Kombination  c2 t2 - x bleibt unter Lorentztransformationen, die nur die x-Richtung betreffen, "invariant":  c2 t2 - x2 = c2 t'2 - x'2, wie sich auch direkt - mit etwas mehr Aufwand - aus (8) nachrechnen lässt.

Aufgabe:

  • Versuchen Sie, die Lorentzkontraktion mit Hilfe des k-Kalküls herzuleiten! Um die dafür nötigen Voraussetzungen zur Hand zu haben, überlegen Sie,
    • wie Längenmessungen im k-Kalkül dargestellt werden können (Längenmessungen müssen auf Messungen von Eigenzeiten zurückgeführt werden, um die Einführung einer neuen Regel zu vermeiden) und
    • wie Gleichzeitigkeit im k-Kalkül dargestellt werden kann.
    Beide Probleme können Sie lösen, indem Sie die zweite der im Abschnitt Gleichzeitigkeit besprochenen Definitionen zu Hilfe nehmen.

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