Spezielle Relativitätstheorie


2. Postulate
 

Die beiden zentralen Postulate

Üblicherweise werden zwei Voraussetzungen (Postulate) benutzt, um die Spezielle Relativitätstheorie herzuleiten:

  • Das Relativitätsprinzip: Die physikalischen Gesetze haben in allen Inertialsystemen dieselbe Form ("alle Inertialsysteme sind glechberechtigt" oder "es gibt kein ausgezeichnetes Inertialsystem"). Jede Geschwindigkeit (eines Objekts oder Inertialsystems) ist immer nur Relativgeschwindigkeit und macht daher nur Sinn, wenn sie in Bezug auf ein Inertialsystem angegeben ist.
     
  • Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: Die (Vakuum-)Lichtgeschwindigkeit c hat in jedem Inertialsystem denselben Wert (299 792.458 km/s), ist also vom Bewegungszustand der Quelle ebenso unabhängig wie von dem des Beobachters.

Daraus ergeben sich die raumzeitlichen Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie, die in den nächsten Abschnitten besprochen werden, insbesondere die Zeitdilatation, die Lorentzkontraktion, das Zwillingsparadoxon, die relativistische Geschwindigkeitsaddition, die Formen für die Lorentztransformation und der relativistische Dopplereffekt. Sie begründen die neue Sichtweise von Raum und Zeit und bilden in gewisser Weise den eigentlichen Kernbereich der Theorie.

Wer an weiterführenden Betrachtungen über Herleitungsfragen und Gültigkeitsbereich nicht interessiert ist, kann den Rest dieser Seite ignorieren und zu den konkreten Effekten weitergehen.

Nachbemerkung für Insider: Bei der Herleitung der Aussagen und Effekte der Speziellen Relativitätstheorie muss genau genommen ein hoher Maßstab an formaler Strenge angelegt werden. So wird beispielsweise die Linearität der Lorentztransformation oft stillschweigend vorausgesetzt, kann aber aus dem Relativitätsprinzip hergeleitet werden. (Die Beweisidee dabei ist, dass eine kräftefreie Bewegung in jedem Inertialsystem geradlinig und gleichförmig ist, und dass diese Eigenschaften genau von den linear-inhomogenen Transformationen respektiert werden). Weiters lässt sich aus dem Relativitätsprinzip eine Folgerung ableiten, die so selbstverständlich anmutet, dass sie üblicherweise ohne Beweis als wahr angenommen wird: Bewegt sich das Inertialsystem I' relativ zum Inertialsystem I mit Geschwindigkeit v, so bewegt sich I relativ zu I' mit Geschwindigkeit -v. (Dies wurde erst ein gutes halbes Jahrhundert nach der Geburt der Relativitätstheorie Gegenstand eines mathematischen Beweises). Im Schulunterricht kann auf die meisten dieser Details verzichtet werden. Die Lehrenden sollten aber im Interesse einer kreativen Unterrichtsplanung und für den Fall verzwickter SchülerInnenfragen zumindest wissen, dass es sie gibt.
 
Weitere Annahmen

Oft wird gesagt, dass "die Relativitätstheorie" aus den beiden oben genannten Postulaten "folgt". Das ist nicht ganz richtig. Wenn von "der" Relativitätstheorie gesprochen wird, ist häufig nur der raumzeitliche "Kernbereich", für den die beiden zentralen Postulate relevant sind, gemeint. Dieser steckt gewissenmassen die "Bühne" ab, auf der sich physikalische Prozesse abspielen. Darüber hinaus muss in jeder physikalischen Theorie - ob es sich nun um die Dynamik von Massenpunkten, die Hydrodynamik, die Quantentheorie oder ein anderes Gebiet der Physik handelt - das Relativitätsprinzip auch tatsächlich realisiert werden: Aus der Forderung, dass die physikalischen Gesetze in allen Inertialsystemen dieselbe Form haben sollen, folgt nicht automatisch, welche Form sie haben! Um die konkrete Form dieser Gesetze herzuleiten, müssen in der Regel zusätzliche Annahmen gemacht werden.

Sobald beispielsweise im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie über Masse, Impuls und Energie gesprochen wird, bewegen wir uns bereits aus dem eigentlichen Kernbereich hinaus. Hier werden weitere Annahmen gemacht, aber selten klar als solche deklariert. Wir werden diese Annahmen in den Abschnitten Relativistischer Impuls und dynamische Masse und Relativistische Energie und Ruheenergie besprechen und erst durch sie auf den Begriff der dynamischen Masse, auf die relativistischen Versionen von Energie und Impuls, auf die Äquivalenz von Masse und Energie und auf den Begriff der Ruhemasse stoßen.

Ähnliche Vorgangsweisen finden sich in vielen Bereichen der Physik. Oft geht es darum, eine bereits existierende physikalische Theorie daraufhin zu untersuchen, ob sie mit dem Relativitätsprinzip und dem relativistischen Konzept von Raum und Zeit in Einklang steht. Tut sie das nicht, muss sie abgeändert werden, was vielfach mit einer Erneuerung von Begriffsdefinitionen und Grundgleichungen einhergeht, so wie es mit den Begriffen Masse, Impuls und Energie der Fall ist. Nach einem ähnlichen Schema wurde aus der "nichtrelativistischen Hydrodynamik" die "relativistische Hydrodynamik", aus der "nichtrelativistischen Quantenmechanik" die Quantenfeldtheorie usw. Als bemerkenswerte Ausnahme sei die Maxwellsche Theorie der Ausbreitung des elektromagnetischen Feldes im Vakuum genannt: Obwohl viele Jahre vor der Relativitätstheorie formuliert, steht sie im Einklang mit deren Forderungen, ist also bereits eine "relativistische Theorie".

Zuletzt sei noch erwähnt, dass die Spezielle Relativitätstheorie die Abwesenheit von Gravitationskräften voraussetzt. Letzte werden in der Allgemeinen Relativitätstheorie behandelt. Der Grund dafür liegt darin, dass es bei Vorhandensein gravitierender Objekte keine Inertialsysteme gibt! (Wir werden das im Abschnitt Das Kreuz mit den Inertialsystemen genauer begründen). In der Praxis bedeutet das, dass die Spezielle Relativitätstheorie nur auf Situationen angewandt werden kann, in denen die Schwerkraft vernachlässigt werden kann. Näherungsweise Inertialsysteme, mit denen sich guten Gewissens argumentieren lässt, sind:

  • Die Raumzeit fern von schweren gravitierenden Massen, z.B. im interstellaren Weltraum.
  • Die Raumzeit innerhalb von fallenden "Kästen" und "Liften", oder, etwas zeitgemäßer, in Satelliten und Raumschiffen, sofern neben der Schwerkraft kein äußerer Antrieb wirkt, und solange die betrachteten Zeitintervalle nicht allzu groß werden. (Während langer Beobachtungszeiten treten in solchen Systemen Effekte auf, die zeigen, dass es sich nicht wirklich um Inertialsysteme handelt. Beispielsweise führen innerhalb eines Erdsatelliten die verschiedenen Umlaufzeiten von Gegenständen, die von der Erde verschieden weit entfernt sind, zu zusätzlichen Relativbeschleunigungen).
  • Systeme auf der Erde unter Vernachlässigung der vertikalen Raumdimension: horizontale Bewegungen, z.B. die berühmten Gedankenexperimente mit fahrenden Zügen, Billardtischen, ...
  • Systeme auf der Erde oder in Erdnähe, in denen große Geschwindigkeiten auftreten, die durch die Erdanziehung nicht wesentlich beeinflusst werden, z.B. die beim Myonenzerfall oder in Teilchenbeschleunigern auftretenden Effekte.

Dennoch sind die Begriffe der Speziellen Relativitätstheorie auch zum qualitativen Verständnis von Situationen nützlich, in denen Gravitationskräfte auftreten. Ein interessanter Fall ist etwa das Sonnensystem: So lässt sich die Frage aufwerfen, ob ein Planet auf einer Ellipsenbahn durch die periodische Änderung seiner Geschwindigkeit auch eine periodische Änderung seiner (dynamischen) Masse erfährt. (Daraus kann - in einer für den Schulunterricht zulässigen Weise - argumentiert werden, dass die Bahn tatsächlich keine Ellipse ist, sondern eine "Rosette", d.h. dass die Keplerschen Gesetze gewisse Modifikationen erfahren müssen). Argumentationen dieser Art führen in Grenzgebiete, in denen die Anwendung der Speziellen Relativitätstheorie streng genommen nicht mehr zulässig ist. (Diese Themen werden hier aber nicht behandelt).
 

Eine überraschende Beziehung

Eine abschließende Bemerkung für jene, die bereits wissen, was eine Lorentztransformation ist:

Die beiden oben genannten zentralen Postulate - das Relativitätsprinzip und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit - sind zwar logisch voneinander unabhängig, hängen aber dennoch auf eine vielleicht unerwartete Weise zusammen. Aus dem Relativitätsprinzip allein lässt sich zeigen, dass die Formeln für die Umrechnung von Ereigniskoordinaten zwischen verschiedenen Inertialsystemen dieselbe Form wie die Lorentztransformation haben müssen, wobei die Konstante c nicht bestimmt ist und (als Grenzfall) auch unendlich sein kann. Bewegt sich ein Objekt in einem Inertialsystem mit dieser Geschwindigkeit c, so hat seine Geschwindigkeit in allen anderen Systemen denselben Wert! Ist die Konstante c also endlich, hat sie die Bedeutung einer universellen Geschwindigkeit, ist sie unendlich, ergibt sich die Galileitransformation (die ebenfalls im Abschnitt über die Lorentztransformation besprochen wird). Insofern steckt das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bereits zum Teil im Relativitätsprinzip!

Literaturtipp hierzu: R. Sexl und H. K. Urbantke: Relativität, Gruppen, Teilchen, Springer-Verlag.


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