Spezielle Relativitätstheorie


16. Das Kreuz mit den Inertialsystemen
 

Ein Inertialsystem ist - so die gängige Formulierung - ein Bezugssystem, "in dem jeder Körper, auf den keine äußere Kraft wirkt, sich geradlinig und gleichförmig bewegt". Manchmal heisst es auch: Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, "in dem der Trägheitssatz gilt". Leider sind das reichlich unklare Formulierungen. Da über den Begriff des Inertialsystems viele Missverständnisse im Umlauf sind, geben wir hier eine moderne - und einigermassen präzise - Darstellung seiner Bedeutung und seiner Grenzen.

Bezugssysteme, und wozu sie gut sind

Zunächst ist ein Inertialsystem eine spezielle Form eines "Bezugssystems". Ein Bezugssystem dient der quantitativen Beschreibung, wo und wann Ereignisse stattfinden: Jedem Ereignis (genauer: Punktereignis) werden vier Zahlen zugeordnet - drei Ortskoordinaten (die beschreiben, "wo" es stattfindet) und eine "Zeitkoordinate" (die festlegt, "wann" es stattfindet). Ersteres wird üblicherweise mit Hilfe eines räumlichen Koordinatensystems, letzteres mit Hilfe von Uhren erreicht.

Wir wollen nun keine Dinge voraussetzen, von denen zunächst nicht klar ist, was sie bedeuten oder wie sie überprüft werden können. Beispielsweise soll nicht von vornherein in der Definition eines Bezugssystems verlangt werden, dass das verwendete räumliche Koordinatensystem sich "geradlinig gleichförmig bewegt" - denn was hieße das? "Geradlinig gleichförmig" in Bezug worauf? Auf ein Bezugssystem? - das ergäbe einen wunderbaren Zirkelschluss! Oder soll es bedeuten, dass keine Kraft zu spüren ist? Wenn wir die Aussage, kräftefreie Körper bewegen sich geradlinig gleichförmig, experimentell überprüfen wollen, müssen wir Kräftefreiheit und nicht-beschleunigte Bewegung klar voneinander trennen und dürfen ihre Identität nicht voraussetzen. Daher bleibt uns zunächst nichts anderes übrig, als die allgemeinste Form von Bezugssystemen, die denkbar ist, zuzulassen.

Beispielsweise könnte das verwendete räumliche Koordinatensystem durch ein Zimmer definiert sein (die Ortskoordinaten wären die physikalischen Abstände zu Fußboden und zwei Wänden). Andererseits ist auch ein an ein rotierendes Karussell gebundenes Koordinatensystem (dessen z-Achse mit der Rotationsachse zusammenfällt) oder ein mit einem beschleunigten Raumschiff verbundenes Koordinatensystem denkbar. Eine ganz andere Art von Bezugssystem entsteht, wenn als Ortskoordinaten die geografische Breite und Länge (zwei Winkel) und die Höhe über dem Meeresniveau (eine Länge) verwendet werden (wobei die Erde als Kugel angesehen wird).

Ebenso wollen wir neben der Verwendung gewöhnlicher Uhren beliebige Vorschriften, jedem Ereignis eine Zeitkoordinate zuzuweisen, zulassen. Manchmal ist es möglich, einen Satz von Uhren, die an mehreren Koordinatenpunkten fixiert und miteinander synchronisiert sind, zu verwenden. Ein anderes Beispiel wäre die Aufstellung einer zentralen Uhr, die von überall (mit Hilfe von Lichtsignalen) gut sichtbar ist. Findet ein Ereignis statt, so wird einfach zur zentralen Uhr geblickt und der abgelesene Wert (der ja aufgrund der endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts "verspätet" ankommt) als dessen Zeitkoordinate benutzt.

Wie auch immer man es anstellt - letzten Endes geht es nur darum, jedem Ereignis vier Zahlen zuzuweisen, um es von anderen Ereignissen unterscheiden zu können. Wir wollen die drei Ortskoordinaten x1, x2 und x3 und die Zeitkoordinate t nennen.

Bezugssysteme sind unerlässliche Hilfsmittel, um die Bewegung von Körpern zu beschreiben. Die Bewegung eines Punktteilchens kann als (kontinuierliche) Aufeinanderfolge von Ereignissen angesehen werden. Ist ein Bezugssystem festgelegt, so können nach den Regeln dieses Systems jedem dieser Ereignisse eine Zeitkoordinate t und drei Ortskoordinaten (x1, x2, x3) zugewiesen werden. Zu jeder "Zeit", d.h. zu jedem Wert der Zeitkoordinate t, ist das Teilchen daher an einem "Ort", der durch drei Werte der Ortskoordinaten beschrieben wird. Mit anderen Worten: Die Ortskoordinaten hängen von der Zeitkoordinate ab. Mathematisch ausgedrückt sind sie Funktionen von t.

Um ein häufiges Missverständnis gleich auszuräumen: Die Bewegung selbst findet nicht "in" einem Bezugssystem statt. Letzteres dient lediglich dazu, quantitativ festzuhalten, "wann" ein Objekt "wo" ist. Um ein Ereignis oder eine Bewegung zu beschreiben, können durchaus mehrere Bezugssysteme verwendet werden, z.B. wenn voneinander unabhängige Forscherteams die Bewegung eines Kometen beobachten und seine Bahn in den von ihnen gewählten (Raumzeit-)Koordinaten ausdrücken.

Ist ein Bezugssystem festgelegt, und bewegt sich ein Teilchen so, dass sich die drei Ortskoordinaten im Laufe der Bewegung nicht ändern (d.h. für alle Werte der Zeitkoordinate gleich sind), so können wir sagen, dass das Teilchen in dem (oder gegenüber dem) verwendeten Bezugssystem in Ruhe ist - andernfalls werden wir sagen, dass sich das Teilchen in dem (oder gegenüber dem) verwendeten Bezugssystem bewegt. Die Begriffe Ruhe und Bewegung werden hier nur hinsichtlich eines Bezugssystems verwendet und drücken nichts über den tatsächlichen physikalischen Bewegungszustand des Teilchens aus.

Wir können nun präzise formulieren, wann eine Bewegung hinsichtlich eines Bezugssystems geradlinig gleichförmig (nicht-beschleunigt) erscheint. Das ist genau dann der Fall, wenn alle drei Ortskoordinaten linear (oder linear-inhomogen) von der Zeitkoordinate abhängen. In Formeln ausgedrückt, bedeutet das: Wird der Ort, an dem sich ein Körper zum Wert t der Zeitkoordinate befindet, durch die drei Koordinatenwerte x1, x2 und x3 beschrieben, so betrachten wir die Bewegung im verwendeten Bezugssystem als geradlinig gleichförmig (nicht-beschleunigt), wenn

x1 = a1 + v1 t
x2 = a2 + v2 t
x3 = a3 + v3 t
(1)

gilt, wobei a1, a2, a3, v1, v2 und v3 Konstante sind. Wichtig ist, dass in den Gleichungen (1) keine höhere Ordnung von t, also etwa kein Term mit t2 auftritt. Die Bahn des Teilchens erscheint vom Standpunkt des verwendeten räumlichen Koordinatensystem als Gerade (mathematisch gesehen ist (1) ihre Parameterdarstellung), und auch die Weltlinie des Teilchens erscheint (vom Standpunkt des Bezugssystems als Koordinatensystem der Raumzeit) als Gerade. Die drei Konstanten a1, a2, und a3 beschreiben, wo sich der Körper zur Zeit 0 aufgehalten hat. Die drei Konstanten v1, v2 und v3 würden wir als "Geschwindigkeit" (in diesem Bezugssystem) bezeichnen. Wird ein kartesisches Koodinatensystem verwendet und die Zeit durch gewöhnliche synchronisierte Uhren gemessen, so sind v1, v2 und v3 tatsächlich die Komponenten des Geschwindigkeitsvektors im üblichen Sinn.
 

Ist das alles wirklich notwendig?

Bei genauer Betrachtung dieser Definition, was "geradlinig gleichförmig hinsichtlich eines Bezugssystem" bedeuten soll, tritt eine seltsame und schwer verdauliche Konsequenz zu Tage: Eine Bewegung kann in einem Bezugssystems geradlinig gleichförmig erscheinen, in einem anderen Bezugssystems nicht. Beispielsweise erscheint die Bahn eines kräftefreien Teilchens, wenn sie von einem mit einem rotierenden Karussell verbundenen Koordinatensystem aus betrachtet wird, als gekrümmte Linie. Diese Definition widerspricht der intuitiven Erwartung, dass Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit einer Bewegung von der Beschreibung unabhängige Eigenschaften sind. Das macht sie insbesondere für Lernende zu einem schwierigen Konzept. Wird aber versucht, die mathematische Dimension aus dem Begriff des Bezugssystems auszuklammern, so entsteht ein irreführender Schluss:

  1. Der Trägheitssatz besagt, dass sich jeder kräftefreier Körper geradlinig gleichförmig bewegt.
  2. Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem der Trägheitssatz gilt.
  3. Der Trägheitssatz gilt immer, er ist ein fundamentales (von Galileo Galilei aufgestelltes) Naturgesetz.
  4. Daher ist jedes Bezugssystem ein Inertialsystem.

Wir erkennen: Die Formulierung 2 macht nur dann Sinn, wenn sich der Trägheitssatz zunächst nicht auf Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit in einem objektiven Sinn bezieht, sondern auf die Beschreibung einer Bewegung durch (Raumzeit-)Koordinaten, wodurch sich für Punkt 3 die Notwendigkeit einer modernen Neuformulierung ergibt und die (ohnehin falsche) Schlussfolgerung 4 hinfällig wird. Daher können wir auf den mathematischen Aspekt nicht verzichten, wenn wir von Bezugs- und Inertialsystemen sprechen. In der Physik können wir Bewegungen nie "an sich", sondern immer nur durch die Brille eines Bezugssystems betrachten.
 

Kräftefreie Bewegung

Wenn also die Begriffe "geradlinig" und "gleichförmig" immer nur hinsichtlich eines Bezugssystems verwendet werden, könnte der Eindruck einer weitgehenden Beliebigkeit entstehen. Man könnte beispielsweise zu jeder möglichen Bewegung eines Teilchens ein (mit ihm mitbewegtes) Bezugssystem konstruieren, in dem es in Ruhe ist.

Allerdings gibt es eine Klasse von Bewegungen, die physikalisch ausgezeichnet sind: die kräftefreien. Wir werden auf die Frage, was eine "äußere Kraft" eigentlich ist, noch zurückkommen - lassen wir sie zunächst beiseite. Die Idee des Trägheitssatzes (der in der üblichen Formulierung lautet: "Ein kräftefreier Körper bewegt sich geradlinig gleichförmig") ist es, die kräftefreien Bewegungen als die "wahren" geradlinigen und gleichförmigen Bewegungen zu betrachten. Sind wir dazu berechtigt? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt zum Begriff des Inertialsystems.
 

Eine genauere Definition, was ein Inertialsystem ist

Bringen wir den Trägheitssatz in eine Formulierung, die eine experimentelle Prüfung erlaubt, so könnte er lauten: Es gibt (zumindest) ein Bezugssystem, in dem jede kräftefreie Bewegung als geradlinig gleichförmig erscheint. Das ist die zentrale Idee des Inertialsystems!

Nun sind wir in der Lage, zu definieren: Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, für das folgende Bedingungen gelten:

  1. Jede kräftefreie Bewegung erscheint in ihm geradlinig gleichförmig, d.h. für jede kräftefreie Bewegung hängen alle drei Ortskoordinaten linear (oder linear-inhomogen) von der Zeitkoordinate ab (siehe Gleichung (1)).
  2. Durch Punkt 1 haben wir im betreffenden Bezugssystem nicht nur einen formalen, sondern auch einen physikalisch zu rechtfertigenden Begriff davon, was "gerade Linien" sind, nämlich die möglichen Bahnen kräftefreier Punktteilchen. Insbesondere sind die "Koordinatenlinien", d.h. die Linien, entlang derer sich nur eine der drei Ortskoordinaten ändert, gerade Linien. Daher sind auch die Koordinatenachsen (für die zwei der drei Ortskoordinaten Null sind) gerade. Aus praktischen Gründen wollen wir die zulässigen räumlichen Koodinatensysteme einschränken und verlangen, dass die Koordinatenachsen aufeinander normal stehen. Weiters sollen die Differenzen der Ortskoordinaten in der üblichen Weise räumliche Abstände darstellen.
  3. Schließlich wollen wir nur solche Bezugssysteme zulassen, in denen zur Messung der Zeit gewöhnliche Uhren verwendet werden, die relativ zum räumlichen Koordinatensystem ruhen (d.h. fixen Ortskoordinaten zugewiesen sind) und auf die übliche Weise miteinander synchronisiert sind. (Sind die Punkte 1 und 2 erfüllt, so können Uhren mit Hilfe einer der beiden Methoden, die wir im Abschnitt über die Gleichzeitigkeit besprochen haben, synchronisiert werden).

Der physikalisch entscheidende Punkt ist der erste. Ist er für ein Bezugssystem erfüllt, so können die in 2 und 3 gestellten Forderungen immer realisiert werden. (Das kann formal bewiesen werden, obwohl wir hier darauf verzichten). Die Punkte 2 und 3 dienen nur der Bequemlichkeit, um möglichst viel von der Beliebigkeit, die im Begriff des Bezugssystems steckt, wieder loszuwerden. Dennoch bleibt eine Portion Beliebigkeit übrig, und diese können wir gar nicht eliminieren: Wir können weder die Lage (oder die Bewegung) des Ursprungs ("Nullpunkts" des räumlichen Koordinatensystems) noch die Richtungen, in die die räumlichen Koordinatenachsen zeigen, von vornherein genauer festlegen (da es weder eine bevorzugte Bewegung noch eine bevorzugte Richtung gibt) - all diese verbleibenden Möglichkeiten, sich sein Inertialsystem einzurichten, sind erlaubt und "gleichberechtigt".

Damit haben wir zwei verschiedene Ideen unter einen Hut gebracht, nämlich

  • dass die Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit einer Bewegung sich - wie in (1) - durch einen linearen (oder linear-inhomogenen) Zusammenhang zwischen Ortskoordinaten und Zeitkoordinate ausdrücken sollen, und
  • dass die Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit einer Bewegung - gemäß dem Trägheitssatz - mit der kräftefreien Bewegung von Teilchen zusammenfallen sollen.

Beides gemeinsam ist nicht immer zu haben, da es Bezugssysteme gibt (z.B. beschleunigte), in denen kräftefreie Bewegungen nicht-geradlinig und nicht-gleichförmig erscheinen. Von der physikalischen Idee her sind die Inertialsysteme genau jene Bezugssysteme, in denen beide Ideen koexistieren können.
 

Der Trägheitssatz als experimentell überprüfbare Aussage

Damit haben wir eine praktikable Definition. Eine Definition ist aber lediglich die Charakterisierung eines Begriffs - viel schöner sind Aussagen, die sich experimentell widerlegen oder (im Rahmen der verfügbaren Messgenauigkeit) bestätigen lassen. Machen wir es kurz: Die im Trägheitssatz steckende Aussage lautet, in moderner Sprache ausgedrückt:

Es gibt ein Inertialsystem.

Das ist eine Aussage, die einem experimentellen Test unterzogen werden kann. Sie bedeutet zunächst: Es gibt zumindest ein Inertialsystem. Wenn es aber ein Inertialsystem gibt, gibt es auch schon unendlich viele. Es lässt sich zeigen, dass jedes Bezugssystem, das gegenüber einem Inertialsystem

  • räumlich versetzt (d.h. in der Lage des Ursprungs verschieden) und/oder
  • zeitlich versetzt (d.h. in der Definition des Nullpunkts für die Zeitmessung verschieden) und/oder
  • räumlich verdreht und/oder
  • geradlinig gleichförmig bewegt

ist, selbst ein Inertialsystem ist. Und das sind auch schon alle Inertialsysteme: Haben wir ein Inertialsystem ausfindig gemacht, so unterscheidet sich jedes andere von ihm nur dadurch, dass es räumlich versetzt und/oder zeitlich versetzt und/oder verdreht und/oder geradlinig gleichförmig bewegt ist. (Das sind alles lineare Transformationen, die die Gültigkeit von (1) nicht zerstören. Die Linearität des Übergangs von einem zu einem anderen Inertialsystem haben wir bereits im Abschnitt über die Lorentztransformation beobachtet und verwendet).

Wir haben nun der üblichen Formulierung "Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem jeder Körper, auf den keine äußere Kraft wirkt, sich geradlinig und gleichförmig bewegt" und damit gleichzeitig der folkloristischen Formulierung des Trägheitssatzes ("Jeder Körper, auf den keine äußere Kraft wirkt, bewegt sich geradlinig und gleichförmig") einen präziseren Sinn gegeben. Ersteres wurde zu einer Definition, was unter einem Inertialsystem zu verstehen ist, zweiteres zur physikalischen Aussage, dass ein Inertialsystem existiert. Sofern wir wissen, was die Abwesenheit "äußerer Kräfte" bedeutet (dazu unten mehr), können wir nun in jedem Bezugssystem durch Messungen entscheiden, ob es ein Inertialsystem ist oder nicht. Dazu brauchen wir nur die Bewegung von kräftefreien Körpern im gegebenen Bezugssystem (d.h. mit Hilfe der in ihm geltenden Vorschriften, Orts- und Zeitkoordinaten zu bestimmen) vermessen.

Im Folgenden wollen wir einige tieferliegenden Aspekte des Begriffs Inertialsystem und die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten und Grenzen diskutieren.
 

Was dahinter steht: die Trägheit

Wir sind nun in der Lage, ein bisschen hinter die Kulissen zu blicken. Angenommen, jemand richtet ein Bezugssystem - d.h. eine Vorschrift, jedem Ereignis vier (Raumzeit-)Koordinaten zuzuordnen - ein. Durch den Ausgang einer Reihe von Messungen an kräftefreien Körpern, kommen wir zu dem Schluss, dass es sich um ein Inertialsystem handelt. Jedes dagegen versetzte, verdrehte oder geradlinig gleichförmig bewegte Bezugssystem ist dann ebenfalls ein Inertialsystem, und insgesamt bilden diese Bezugssysteme die Klasse aller Inertialsysteme. Was haben wir damit eigentlich gefunden? Die Frage rührt tief an das Wesen von Raum, Zeit und Trägheit. Die Antwort lautet: Wir haben damit so etwas wie den "natürlichen Beschleunigungszustand" von Körpern gefunden.

Die Idee hinter dem Konzept des Trägheitssatzes ist zunächst die alte Frage, ob es einen "natürlichen Bewegungszustand" gibt. Der "Ruhezustand" wäre ein Kandidat dafür. Nun hat sich in der neuzeitlichen Physik - in mehreren Anläufen, von denen die Relativitätstheorie lediglich der letzte war - die Ansicht durchgesetzt, dass es keinen bevorzugten "Ruhezustand" gibt - Geschwindigkeiten sind immer Relativgeschwindigkeiten, und ein Körper kann nur relativ zu anderen Körpern in Ruhe sein, nicht aber "absolut". Da sich Kräfte als die Ursachen von Beschleunigungen herausstellten, drängte sich eine veränderte Fragestellung auf: Gibt es einen "natürlichen Beschleunigungszustand"? Wenn Beschleunigungen von Körpern immer auf Kräfte zurückgehen, so sollten bei Abwesenheit von Kräften keine Beschleunigungen auftreten - Körper, auf die keine Kräfte wirken, sollten sich dann geradlinig gleichförmig, d.h. mit konstantem Geschwindigkeitsvektor bewegen. Zwar wären alle Geschwindigkeiten "gleichberechtigt", nicht aber alle Beschleunigungen. Die "natürliche Beschleunigung" eines Körpers wäre Null - jede Abweichung von diesem natürlichen Beschleunigungszustand wäre einer Kraft zu verdanken.

Verfolgen wir diese Idee weiter: Betrachten wir ein System von Körpern, die sich unter dem Einfluss verschiedenster Kräfte bewegen. Stellen wir die Frage: "Wie würden sich im betreffenden Raumgebiet Körper bewegen, auf die keine Kräfte wirken?" Um die Frage experimentell zu beantworten, müssten wir einige Probeteilchen, auf die keine äußere Kraft wirkt, präparieren und ihre Bewegungen beobachten. Die Probeteilchen müssten beispielsweise elektrisch neutral sein, um kein elektisches Feld zu spüren, und man dürfte natürlich nicht mechanisch an ihnen ziehen oder schieben. Weiters müsste gesichert sein, dass sie keiner Reibung unterliegen. Wenn der Trägheitssatz gilt, müssten wir dann erwarten, dass es ein Bezugssystem gibt, relativ zu dem sich all diese Probeteilchen geradlinig gleichförmig bewegen. Wir könnten deren Bewegungen nutzen, um das Bezugssystem aufzubauen. Wir könnten beispielsweise damit beginnen, den Ursprung des Koordinatensystems direkt an eines der Teilchen zu binden, um den Bewegungszustand des Bezugssystems festzulegen, dann Koordinatenachsen definieren, usw. Schließlich könnten wir experimentell überprüfen, ob sich weitere kräftefreie Probeteilchen relativ zum soeben konstruierten Bezugssystem ebenfalls immer geradlinig gleichförmig bewegen. Falls das für eine genügend große Anzahl von Beobachtungen zutrifft, würden wir schließen, ein Inertialsystem konstruiert zu haben - und das inmitten eines vielleicht unüberschaubaren Gewimmels aus beschleunigten Körpern. Es waren die kräftefreien Probeteilchen, die uns den Weg gewiesen haben! Da auf sie keine Kräfte wirken, bewegen sie sich auf "minimale" oder "natürliche" Weise.

Nun gibt es eine Eigenschaft von Körpern, der die Probeteilchen ihr "Beharren" in einer geradlinig gleichförmigen Bewegung zu verdanken haben. Um das herauszuarbeiten, müssen wir näher auf die Rolle, die Kräfte spielen, eingehen. Um einen geradlinig gleichförmig bewegten Körper von seiner Bewegungsform abzubringen, ist eine Krafteinwirkung notwendig. Wie reagieren Körper auf Krafteinwirkungen? Sie versuchen, ihr zu widerstehen. Das können nicht alle Körper gleich gut. Es ist sicher schwieriger, einen rollenden Lastwagen von seiner Bewegung abzubringen als eine rollende Billardkugel. Jene physikalische Größe, die für die Stärke des Widerstands gegen Krafteinwirkungen verantwortlich ist, ist die Masse. Je größer die Masse eines Körpers ist, umso größer - und erfolgreicher - ist auch dessen Widerstand gegen jede Änderung des Bewegungszustands. Diese Tendenz, in geradlinig gleichförmiger Bewegung verharren "zu wollen" und Kräften einen Widerstand entgegenzusetzen, heisst Trägheit. So gesehen, bewegen sich unsere Probeteilchen vermöge ihrer Trägheit geradlinig gleichförmig. Daher auch der Name des mit ihrer Hilfe konstruierten Bezugssystems: Trägheit = inertia. In ihm ist die Trägheit gewissermaßen freigelegt. Das Wirken von Kräften stört (überlagert) diesen "natürlichen Beschleunigungszustand" lediglich.

Die Masse in ihrer Eigenschaft, die Stärke des Widerstands gegen Bewegungsänderungen (genauer: Geschwindigkeitsänderungen) zu messen, wird auch träge Masse genannt.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass es keine in der Natur bevorzugte Geschwindigkeit gibt (das ist die Kurzform des "Relativitätsprinzips", wie es bereits von Galileo Galilei aufgestellt wurde, und dessen Gültigkeit wir hier annehmen). Nun haben wir aber gerade von einem "natürlichen Beschleunigungszustand" gesprochen. Ist der Raum also doch ein bisschen "absolut" - nicht hinsichtlich des Bewegungszustands, aber hinsichtlich des Beschleunigungszustands? Können wir Beschleunigungen, die Körper unter dem Einfluss von Kräften erfahren, auf diese natürliche "Null"-Beschleunigung beziehen? Wenn der Trägheitssatz gilt, können wir zwar von einem Körper nicht sagen, ob er "absolut gesehen" in Ruhe ist, aber wir können entscheiden, ob er "absolut gesehen" beschleunigt ist (z.B. rotiert) oder nicht.
 

Noch einmal der Trägheitssatz: was er genau aussagt

Man könnte an dieser Stelle den Einwand erheben, dass wir für unsere Zwecke zuviel Aufwand getrieben haben. Fassen wir die bisherige Argumentation zusammen: Zunächst haben wir die Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit nur im Hinblick auf Bezugssysteme definiert, dann die kräftefreie Bewegung ins Spiel gebracht und formuliert: Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem (d.h. durch dessen Koordinatenbrille betrachtet) jede kräftefreie Bewegung geradlinig gleichförmig erscheint (und welches noch ein paar technische Bedingungen erfüllt, die nur der Bequemlichkeit dienen). Den Trägheitssatz haben wir zu der experimentell überprüfbaren Aussage "es gibt ein Inertialsystem" umformuliert. Um ein konkretes Inertialsystem zu finden, müssen wir kräftefreie Probeteilchen betrachten.

An welcher Stelle benötigen wir eigentlich die Gültigkeit des Trägheitssatzes? Zunächst sieht es doch so aus, als hätten wir mit unserer Konstruktionsanweisung einen Beweis gefunden, dass der Trägheitssatz gilt: Man nehme viele kräftefreie Probeteilchen - deren Bahnen sind (sozusagen per Definition) gerade Linien, und mit deren Hilfe bauen wir das räumliche Koordinatensystem (zunächst in Form von drei Koordinatenachsen) auf. In dieses werden Uhren eingebracht und miteinander synchronisiert. Folglich gibt es ein Inertialsystem, oder?

Das ist leider ein falscher Schluss. Sehen wir uns eine mögliche Vorgangsweise im Detail an: Wir können etwa damit beginnen, die Bahnen dreier kräftefreier Probeteilchen (die sich von einem Punkt ausgehend in drei aufeinander normal stehende Richtungen bewegen) als Koordinatenachsen zu definieren. Damit haben wir sozusagen ein im Raum schwebendes "Achsenkreuz". Um jetzt noch einige Koordinatenlinien (d.h. Linien, entlang derer sich nur eine der drei Koordinaten ändert) zu Verfügung zu haben, sollten wir weitere entsprechend präparierte Probteilchen auf ihren Weg schicken und ihre Bahnen festhalten. Dabei wäre es prinzipiell denkbar, dass unerwartete Probleme auftauchen. So könnte es sich als unmöglich herausstellen, Bahnen auszuwählen, die ein regelmäßiges "Koordinatengitter" bilden. Wenn wir der Sache nachgingen, könnten wir feststellen, dass mit der Geometrie etwas nicht stimmt. So könnten wir beispielsweise auf ein "Dreieck" (eine Figur gebildet aus drei einander paarweise schneidenden Bahnen kräftefreier Probeteilchen) stossen, dessen Winkelsumme nicht 180° ist! Wir würden dann vermuten, dass zumindest eine der drei Bahnen keine Gerade sein kann! Oder es könnte sich herausstellen, dass die Synchronisation von im Koordinatensystem ruhenden Uhren nicht gelingt: Wird zuerst A mit B synchronisiert, dann B mit C, so könnte sich herausstellen, dass A und C nicht synchron schlagen. (Diese Vorsicht gegenüber der Idee der Geradlinigkeit ist nicht absurd: Siehe den Abschnitt Relativität der Geradlinigkeit für eine Demonstration, dass es im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie nicht leicht ist, von geradlinigen Objekten zu sprechen). Auf welche Schwierigkeiten auch immer wir stoßen - wir würden folgern, dass sich nicht alle kräftefreien Teilchen geradlinig gleichförmig bewegen! Das würde aber bedeuten, dass der Trägheitssatz nicht gilt, da er für jede kräftefreie Bewegung gelten soll.

Halten wir uns anhand der Geschichte mit der Winkelsumme vor Augen:

  • In der in der Mathematik verwendeten "euklidischen Geometrie" hat jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180°. Das können wir deshalb beweisen, weil die verwendete Geometrie eine gedankliche Idealkonstruktion ist, deren Regeln von Menschen aufgestellt wurden. (Nennen wir Euklid von Alexandria und David Hilbert, um einen antiken und einen modernen Mathematiker anzuführen). Der Satz über die Winkelsumme ist eine logische Folgerung dieser Regeln.
  • Dass hingegen jede "Figur" der physikalischen Wirklichkeit, die analog zu einem Dreieck, aber eben nicht aus "mathematischen Geraden", sondern aus physikalischen Bahnen kräftefreier Teilchen aufgebaut ist, eine Winkelsumme von 180° hat, ist nicht die logische Folgerung einer gedanklichen Konstruktion und kann daher nicht in derselben Weise "bewiesen" werden wie eine solche.

Die Geradlinigkeit kräftefreier Bahnen kann daher allenfalls ein Naturgesetz sein, das wir nicht mathematisch beweisen, sondern durch Messungen (mit der uns zur Verfügung stehenden Genauigkeit) überprüfen können. Der Trägheitssatz in der von uns gewählten Formulierung "es gibt ein Inertialsystem" ist ein Kandidat für ein solches Naturgesetz. Im Fall seiner Gültigkeit wäre es möglich, mit Hilfe von Bahnen kräftefreier Teilchen ein Koordinatensystem zu definieren, in dem keine Probleme mit der Geometrie auftreten, alle Dreiecke die Winkelsumme 180° haben und alle Regeln der "euklidischen Geometrie" gelten. Weiters würde er uns garantieren, dass es keine Probleme mit der Ganggeschwindigkeit und Synchronisation von Uhren, die zur Zeitmessung in dieses Koordinatensystem eingebracht werden, gibt. Letztlich hat uns die genaue Definition, was "geradlinig gleichförmig hinsichtlich eines Bezugssystems" bedeuten soll - Gleichung (1) -, diese weitreichende Formulierung des Trägheitssatzes erlaubt. Wenn jede - wirklich jede - kräftefreie Bewegung durch einen Zusammenhang der Form (1) zwischen Orts- und Zeitkoordinaten beschrieben werden kann, ist es ausgeschlossen, plötzlich ein kräftefreies Teilchen zu finden, dessen Bahn - durch die Brille des Koordinatensystems betrachtet - verbogen aussieht, oder das sich - mit den Uhren des Systems vermessen - nicht gleichförmig bewegt.

Wir können uns verschiedene Gründe ausdenken, die eine Verletzung des Trägheitssatzes bewirken würden. Wir wollen nur den wichtigsten besprechen.
 

Die Schwerkraft

Wir nähern uns der Frage, ob der Trägheitssatz nun eigentlich gilt, d.h. ob es tatsächlich Inertialsysteme gibt. Wir haben schon oft von "kräftefreien" Körpern gesprochen, d.h. von Körpern, auf die "keine äußere Kraft" wirkt. Als Beispiele für äußere Kräfte haben wir bisher mechanische Einwirkungen, die Reibung und elektromagnetische Kräfte erwähnt. Eine wichtige Kraft haben wir aber bisher noch nicht angesprochen, und diese macht nun alles wieder kaputt:

Die Schwerkraft (Gravitation) nimmt gegenüber allen anderen bekannten Wechselwirkungen eine Sonderstellung ein. Die Entdeckung der Eigenschaften, die sie zu etwas Herausragendem machen, ist mit den drei bedeutendsten Forscherpersönlichkeiten der modernen Physik verbunden: Galileo Galilei, Isaac Newton und Albert Einstein.

Die besondere Rolle der Gravitation liegt in einer fast unscheinbaren Tatsache begründet: "Alle Körper fallen gleich schnell" (sofern Reibungskräfte - wie der Luftwiderstand - ausgeschlossen werden können). Genauer muss es heissen: Alle Körper erfahren im Schwerefeld die gleiche Beschleunigung (so erfährt etwa ein in die Höhe geworfener Gegenstand dieselbe Beschleunigung wie einer, der mir aus der Hand fällt. Beide Gegenstände werden - nach dem üblichen Sprachgebrauch - als "frei fallend" bezeichnet).

Das hat bereits Galilei erkannt, und Newtons Entdeckung war, dass die Schwerkraft nicht nur auf massive Körper einwirkt, sondern in ihnen auch ihren Ursprung hat: Objekte fallen im Gravitationsfeld der Erde zu Boden. (Demnach sollte man auch hinzufügen, dass die "frei fallenden" Objekte, von denen hier die Rede ist, sehr viel leichter als die Erde sein sollen - wir fassen sie als "Probekörper" auf, deren Wirkung auf die Erde vernachlässigbar klein sein soll). Die Kraft, mit der ein Körper von der Erde angezogen wird, ist proportional zu seiner Masse. Das ist zunächst ganz analog der elektrischen Kraft: Die Kraft, die ein elektrisches Feld auf einen geladenen Körper ausübt, ist proportional zu dessen Ladung.

Die Masse spielt also eine Doppelrolle. Einerseits ist sie ein Maß für den Widerstand gegen Änderungen des Bewegungszustandes (als solche heisst sie "träge Masse", wie wir bereits oben angemerkt haben). Andererseits ist sie ein Maß für die Stärke der Kraft, die auf einen Körper in einem Schwerefeld wirkt. In dieser zweiten Eigenschaft wird sie auch "schwere Masse" genannt. Die Entdeckungen von Galilei und Newton können auf die Formel "träge Masse ist gleich schwere Masse" gebracht werden. Die Doppelrolle der Masse führt dazu, dass "alle Körper gleich schnell fallen": Hat ein Körper eine doppelt so große Masse als ein anderer, so wirkt auf ihn die doppelte Kraft, aber er leistet auch den "doppelten" Widerstand dagegen, sodass seine Masse gar keinen Einfluss darauf hat, wie schnell er fällt (genauer: welche Beschleunigung er erfährt).

Nun kehren wir zu der Frage zurück, ob es ein Inertialsystem gibt. Betrachten wir wieder ein System von Körpern, die sich unter dem Einfluss verschiedenster Kräfte bewegen. Da sie alle eine Masse haben, beziehen wir nun auch die wechselseitige Gravitationsanziehung dieser Objekte untereinander und mit ihrer Umgebung in unsere Überlegungen ein. Stellen wir wieder die Frage: "Wie würden sich im betreffenden Raumgebiet Körper bewegen, auf die keine Kräfte wirken?" Dank der Schwerkraft haben wir jetzt ein Problem:

Um die Frage experimentell zu beantworten, müssten wir wieder einige Probeteilchen, auf die keine äußere Kraft wirkt, präparieren und ihre Bewegungen beobachten. Die Probeteilchen müssten elektrisch neutral sein, man dürfte natürlich nicht mechanisch an ihnen ziehen oder schieben, und es müsste gesichert sein, dass sie keiner Reibung unterliegen. Solle eigentlich auch dafür gesorgt sein, dass keine Gravitationskräfte auf sie wirken? Wie sollte man das anstellen? Die Verwendung von Probeteilchen mit besonders kleiner Masse bewirkt nicht, dass die Wirkung eines äußeren Gravitationsfeldes kleiner würde, denn die von ihnen erfahrene Beschleunigung ist ja von ihrer Masse unabhängig! Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zur Wirkung eines äußeren elektrischen Feldes: diese verschwindet, sofern alle Probeteilchen elektrisch neutral sind. Es gibt aber keine "masse-neutralen" Objekte! (Wir wollen im Moment Photonen, also "masselose Teilchen" außer Betracht lassen - wir kommen sogleich auf sie zurück). Offensichtlich ist es nicht möglich, die Wirkungen eines äußeren Gravitationsfeldes einfach auszublenden! Wenn die Schwerkraft als "äußere Kraft" gilt, so gibt es praktisch keine "kräftefreien" Objekte (ausser näherungsweise, in Systemen, die sich weit entfernt von allen schweren Himmelskörpern befinden, und deren wechselseitige Gravitationskräfte vernachlässigt werden können). Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, dass

  • die Schwerkraft wie alle anderen Kräfte auch als "äußere Kraft" zu betrachten ist, und dass
  • die Bewegungen der Körper, auf die keine äußere Kraft wirkt, einen "natürlichen Beschleunigungszustand" darstellen,

hätte das zur Folge, dass der "natürliche Beschleunigungszustand" prinzipiell unbeobachtbar wäre. Das wären dann Konzepte, die in der Nähe von Newtons absolutem Raum und absoluter Zeit anzusiedeln wären - in der Physik ein unhaltbarer Zustand!

Manchmal wird hier eingewandt, dass Lichtstrahlen (anstelle massiver Probeteilchen) die notwendige Geradlinigkeit definieren, um ein Koordinatensystem aufzubauen, das die Rolle eines Inertialsystems spielen könnte. Dann wäre zumindest für seine physikalische Konstruktion keine Beobachtung von Probeteilchen-Bewegungen notwendig. Ähnliches ist auch vielen Physikern seit Newton (z.B. in Form des "Äthers") vorgeschwebt. Einem solchen Verfahren könnte aus moderner Sicht noch das Argument, dass es sich bei Photonen um "masselose Teilchen" handelt, zugute gehalten werden - damit wäre zumindest eine Teilchensorte dem Einfluss der Gravitation entzogen.

Als Antwort darauf muss gesagt werden, dass es sich bei Photonen nicht um Teilchen handelt, die gegenüber der Gravitation immun wären! (Nach heutiger Auffassung gibt es nichts, das völlig immun gegenüber der Schwerkraft wäre. Das ist eine Folgerung aus dem Äquivalenzprinzip, auf das wir hier aber nicht weiter eingehen). Auch das Licht spürt die Gravitation - seine (kleine, aber vorhandene) Ablenkung im Schwerefeld der Sonne wurde im Jahr 1919 experimentell beobachtet. (Es war dies übrigens der erste experimentelle Test der von Einstein im Jahr 1916 veröffentlichten Allgemeinen Relativitätstheorie). Daher bewegen sich auch Photonen im Schwerefeld nicht völlig "kräftefrei" - auch für sie ist die Gravitation nicht auszuschalten. Daher würden die Achsen eines auf Lichtstrahlen aufgebauten Koordinatensystems von der Schwerkraft sozusagen "verbogen werden". Derartige Konstrukte hingen also von der Verteilung der Massen im Universum ab, und in ihnen hätte man definitiv Probleme mit der euklidischen Geometrie (z.B. die Existenz von "Dreiecken aus Lichtstrahlen" mit Winkelsumme größer als 180°).

Über die Rettung des Trägheitssatzes ist viel nachgedacht worden. Letztlich haben Theorie und Experiment gemeinsam entschieden. Nach unserem heutigen Wissensstand gibt es keine Möglichkeit, den Trägheitssatz in seiner ursprünglichen Formulierung (wobei Gravitation als äußere Kraft aufzufassen wäre) pyhsikalisch aufrechtzuerhalten. Die von ihm geforderten geradlinig gleichförmigen Bewegungen und seine Folgerungen wären an keinem physikalischen System experimentell beobachtbar. Man kann auch sagen, er wäre auf nichts anwendbar, weil kein physikalisches Objekt (weder Teilchen noch Licht) seine Vorbedingung, frei von jeglicher Krafteinwirkung (also auch frei von den Wirkungen der Schwerkraft) zu sein, erfüllt.
 

Modifikation des Trägheitssatzes

Angesichts dieser Faktenlage bleiben uns nicht viele Auswege. Die plausibelste Antwort auf die vertrackte Situation besteht darin, die Schwerkraft nicht als "äußere Kraft" aufzufassen und ihr damit eine Sonderrolle zuzubilligen.

Wenn wir das tun, stellt sich die Frage: können Bewegungen von Körpern, auf die keine nicht-gravitativen Kräfte wirken (also Bewegungen von Körpern, auf die höchstens die Schwerkraft wirkt), als "ausgezeichnet" gelten? Es handelt sich dabei um Körper, die sich "frei" im Gravitationsfeld bewegen können, und die weder durch mechanische noch durch sonstige nicht-gravitative Kräfte daran gehindert werden - mit einem Wort: um frei fallende Körper. (Beachten wir: auch ein ohne Antrieb die Erde umkreisendes Raumfahrzeug ist in diesem Sinn ebenso "frei fallend" wie der berühmte fallende Lift).

Hat es einen Sinn, den Trägheitssatz zu modifizieren, indem die Bezeichnung "kräftefrei" durch "frei fallend" ersetzt wird?

Ja, das macht durchaus Sinn. Da sich alle Gegenstände innerhalb eines (antriebslosen) Raumfahrzeugs, das die Erde umkreist, unabhängig von ihrer Masse bewegen (ebenso wie das Raumschiff selbst), fühlen sich die Insassen "schwerelos". Für einen fallenden Lift gilt genau dasselbe. Es treten (vom System des Raumschiffs oder des Lifts aus betrachtet) keine Beschleunigungen auf, sondern nur geradlinig gleichförmige Bewegungen. Damit haben wir eine Besonderheit der "frei fallenden" Bewegung aufgedeckt - sie ist jener Bewegungzustand, in dem keine Beschleunigung "spürbar" ist. Wir kommen zu dem Schluss, dass der "natürliche Beschleunigungszustand" der frei fallende ist. Bedeutet das, dass die Inertialsysteme bei Vorhandensein von Schwerkraft gerade die "frei fallenden Bezugssysteme" sind?

Ja und nein.

  • Nein, denn: Bei Vorhandensein von Schwerkraft gibt es überhaupt kein Inertialsystem! Auch wenn wir "kräftefrei" durch "frei fallend" ersetzen (oder einfach der Bezeichnung "kräftefrei" die Bedeutung "frei von nicht-gravitativen Kräften" geben), lässt sich der Trägheitssatz nicht retten. Das rührt daher, dass die Behauptung "alle Körper fallen gleich schnell" eigentlich nur in kleinen Raumgebieten und für kurze Zeiten gilt. Tatsächlich herrscht ja nicht an jedem Punkt dasselbe Gravitationsfeld. Ein zu Boden fallender Körper zielt in Richtung des Erdmittelpunktes - zwei nebeneinander fallende Körper zielen also genau genommen in verschiedene Richtungen! Dadurch werden sie (schwach, aber doch) aufeinander zu beschleunigt - ein Effekt, der bemerkbar wäre, wenn die Körper im System eines fallenden Lifts beobachtet werden, und der in einem Inertialsystem eigentlich nicht auftreten dürfte. Noch deutlicher ist ein analoger Effekt in einem die Erde umkreisenden Raumfahrzeug: Werden dort zwei Gegenstände "in die Luft gestellt", so sollten sie - wenn es ein mit dem Raumschiff verbundenes Inertialsystem geben würde - eigentlich dort bleiben. Wenn aber nun einer der beiden Gegenstände der Erde näher ist (und sei es auch nur um einige Zentimeter), so hat er eine kürzere Umlaufszeit als der andere, und die beiden Gegenstände werden langsam beginnen, sich relativ zueinander zu bewegen - wieder ein Effekt, der in einem Inertialsystem nicht auftreten darf. (Er ist auch unter dem Namen "Corioliskraft" bekannt). So gesehen ist unsere Formulierung, dass sich die Insassen eines antriebslosen Raumschiffs "schwerelos" fühlen und in ihm keine Beschleunigungen auftreten, nur näherungsweise richtig, wenn man nicht zu genau hinschaut und nicht zu lange wartet! Wenn die betrachteten Dimensionen so gross sind, dass sich Inhomogenitäten im Gravitationsfeld auswirken, ist es nicht mehr möglich, Inertialsysteme zu konstruieren. Dank der Schwerkraft haben die kräftefreien (frei fallenden) Bewegungen zu sehr die Tendenz, relativ zueinander beschleunigt zu sein, als dass sie alle von einem Bezugssystem aus geradlinig gleichförmig erscheinen könnten.

    Es sind genau diese Wirkungen des Gravitationsfeldes, die die Konstruktion eines Inertialsystems verhindern. Ein Versuch, etwa in einem die Erde umkreisenden Raumfahrzeug ein Koordinatensystem mit Hilfe von Bahnen kräftefreier Teilchen zu definieren, würde auf genau die oben beschriebenen Probleme stossen: Rein aufgrund der Tatsache, dass verschiedene Punkte im Raumfahrzeug verschieden weit vom Erdmittelpunkt entfernt sind, könnten wir drei kräftefreie bewegte Körper finden, deren Bahnen ein "Dreieck" bilden, dessen Winkelsumme nicht 180° ist. Die Bahnen würden etwa so aussehen (wobei wir die Effekte stark übertrieben haben):

    Wir könnten sie nicht guten Gewissens als "Geraden" bezeichnen (und wenn wir es dennoch täten, kämen wir zum Schluss, dass "mit der Geometrie etwas nicht stimmt"). Selbst wenn Lichtstrahlen statt Teilchenbahnen verwendet würden, wären derartige Probleme unausweichlich. (In der Sprache der heutigen Physik deuten sie darauf hin, dass die Raumzeit "gekrümmt ist"). Wir betonen aber nochmals, dass diese Effekte umso kleiner sind, je kleiner die Raumkapsel ist - aber im Prinzip verhindern sie die Existenz von Inertialsystemen.
     
  • Ja, denn: Als kleinen Trost können wir in kleinen Raumgebieten und für kurze Zeiten näherungsweise (oder "lokale") Inertialsysteme einrichten - das sind dann die Bezugssysteme, die sich an frei fallenden Probeteilchen orientieren (antriebslose Raumfahrzeuge, fallende Lifte).

Auch der Trägheitssatz in seiner veränderten Version (in der die Gravitation nicht als "äußere Kraft" gezählt wird) ist daher nicht streng gültig. Aber immerhin: Da er uns die Identifizierung lokaler Inertialsysteme erlaubt, ist er besser als die ursprüngliche Formulierung (in der auch die Gravitation zu den äußeren Kräften zu zählen ist, und deren Gültigkeit durch Experimente nicht zu verifizieren ist).

Aufgrund der heutigen (theoretischen wie experimentellen) Faktenlage müssen das - zunächst entmutigende - Resultat formulieren:

Der Trägheitssatz gilt nicht. Es gibt kein Inertialsystem.

Um nicht ganz so streng zu sein: Es gibt kein "globales" (die gesamte Raumzeit erfassendes) Inertialsystem. Allerdings erlaubt uns die neue Variante des Trägheitssatzes, frei fallende Bezugssysteme als "lokale Inertialsysteme" zu identifizieren, in denen sich Teilchen, auf die keine nicht-gravitativen Kräfte wirken (die also lediglich der Schwerkraft ausgesetzt sind), näherungsweise geradlinig gleichförmig bewegen. (Und diese Näherung gilt umso genauer, je kleiner die räumliche Ausdehnung des Bezugssystems ist und je kürzer die zur Verfügung stehenden Beobachtungszeiten sind).

Damit können wir eine folgenschwere Erkenntnis formulieren:

Die Spezielle Relativitätstheorie baut wesentlich auf der Struktur von Raum und Zeit auf, wie sie sich in Inertialsystemen äußert. Bei Vorhandensein von Gravitation gibt es keine Inertialsysteme im strengen Sinn, sondern nur räumlich und zeitlich beschränkte Bezugssysteme, in denen sich frei fallende Teilchen näherungsweise geradlinig gleichförmig bewegen. Wenn es aber im strengen Sinn kein Inertialsystem gibt, gilt die Spezielle Relativitätstheorie nicht! Lediglich wenn die Wirkungen der Gravitation vernachlässigbar sind, beispielsweise

  • fernab aller massiven Himmelskörper
  • innerhalb lokaler Inertialsysteme
  • wenn nur schwache Gravitationsfelder auftreten
  • im Falle von schnell ablaufenden Prozessen, die das vorhandene Gravitationsfeld praktisch nicht spüren, z.B. Teilchen in Beschleunigern
  • durch Ignorieren einer räumlichen Dimension, z.B. Billardtisch

können wir sie als gültig ansehen. In der Theorie kann man natürlich eine Modellwelt betrachten, in der es gar keine Schwerkraft gibt (m.a.W.: in der die Gravitationskonstante Null ist). In einer solchen Welt spielt die Masse lediglich ihre Rolle als "träge Masse". Praktisch alle Darlegungen der Speziellen Relativitätstheorie (wie auch die vorliegende) bewegen sich in einer solchen Modellwelt.
 

Allgemeine Relativitätstheorie

Um die Struktur der Raumzeit bei Vorhandensein von Gravitation zu beschreiben, ist eine andere Theorie nötig, die nicht so stark auf den Begriffen "Geradlinigkeit" und "Gleichförmigkeit" beruht. Albert Einstein hat eine solche Theorie nach langer Suche formuliert: die Allgemeine Relativitätstheorie, die, wie der Name sagt, eine Verallgemeinerung der Speziellen Relativitätstheorie ist. Wir gehen auf sie hier nicht ein, sondern erwähnen nur, dass in ihr die dominante Rolle der Begriffe der Geradlinigkeit und der Gleichförmigkeit aufgegeben wird. An deren Stelle treten geometrische Konzepte, die nicht auf diese Begriffe angewiesen sind. Es seien nur zwei Stichworte genannt: die "gekrümmte Metrik" (für den Begriff der Metrik siehe den Abschnitt über die Geometrie der Raumzeit) und die Identifizierung der zeitartigen Geodäten mit den Weltlinien frei fallender Teilchen. Letzteres ist die Minimalversion dessen, was vom Trägheitssatz übrigbleibt. (Über den Begriff der Geodäte in der Speziellen Relativitätstheorie wurde im Abschnitt über das Zwillingsparadoxon und die Geodäten der Raumzeit einiges gesagt).

Allerdings muss die Spezielle Relativitätstheorie nicht einfach weggeworfen werden: In den lokalen Inertialsystemen, die durch frei fallende Bewegungen definiert werden, ist sie näherungsweise gültig (ähnlich wie die geometrischen Gesetze der flachen Zeichenebene auf einer gekrümmten Fläche zwar nicht streng, aber "im Kleinen" näherungsweise gelten).

Es ist durchaus möglich, dass die zukünftige Entwicklung der Physik zu tieferen Erkenntnissen über die Natur der Raumzeit führen wird, als wir sie heute besitzen: Wenn der "natürliche Beschleunigungszustand" von Körpern (auch "Trägheitsstruktur der Raumzeit" genannt) mit der frei fallenden Bewegung identifiziert wird, so hängt er unter anderem davon ab, wie die Materie, die Ursache der Gravitationswirkung, im Universum verteilt ist. Bereits vor der Entwicklung der Speziellen und der Allgemeinen Relativitätstheorie hat Ernst Mach die Meinung geäußert, dass diese Trägheitsstruktur nur von der existierenden Materieverteilung abhängt und von sonst nichts! Diese Aussage hat den Namen Machsches Prinzip bekommen. Mach wandte sich damit gegen jegliches absolute Prinzip - nicht nur gegen Newtons Konzepte vom absoluten Raum und der absoluten Zeit, sondern auch gegen alle anderen als von der tatsächlichen Materie unabhängig gedachten Strukturen der Raumzeit. Wenn etwa "ein Körper rotiert", so heißt das für Mach, dass der Körper gegenüber einem System rotiert, das durch alle Massen im Universum bestimmt wird. Der Raum (heute würden wir sagen: die Raumzeit) und die Trägheit sind für Mach in keinerlei Hinsicht vor der Materie "vorhanden" - sie entstehen erst durch sie. Bis heute ist noch nicht völlig geklärt, inwieweit die Allgemeine Relativitätstheorie eine derart radikale Idee unterstützt. Möglicherweise wird eines Tages eine Antwort aus jenem Anwendungsgebiet dieser Theorie kommen, die die tatsächliche Entwicklung des Universums zum Gegenstand hat: der Kosmologie.

Eines aber ist so gut wie sicher: das alte "Inertialsystem", das der Welt in Raum und Zeit ein bis ins Unendliche reichendes geradliniges Koordinatennetz unterschiebt, gegenüber dem das Wirken von Kräften lediglich als Abweichung verbucht wird, hat ausgedient.


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