Spezielle Relativitätstheorie


6. Gleichzeitigkeit
 

Nach der Herleitung der wichtigsten Effekte der Speziellen Relativitätstheorie ist es nun an der Zeit, das Konzept der Gleichzeitigkeit und die Bemerkungen, die in der Einleitung über die Synchronisation von Uhren gesagt wurden, ein bisschen zu vertiefen und bei der Überwindung eines Vorurteils, das aus unserer Alltagswahrnehmung erwächst, zu helfen.

Relativität der Gleichzeitigkeit

Im Abschnitt über die Zeitdilatation haben wir erfahren, dass die Zeitdauer eines Prozesses vom Inertialsystem abhängt, in dem er beobachtet wird. Das hat zur Folge, dass auch die Gleichzeitigkeit vom Beobachter abhängt: Zwei Ereignisse, die in einem Inertialsystem gleichzeitig stattfinden, können in einem anderen Inertialsystem durchaus zu verschiedenen Zeiten stattfinden.

Zwei einfache Argumentationen, um das einzusehen:

  • Vom Halbierungspunkt eines Maßstabs werden zwei Lichtsignale in entgegengesetzte Richtungen geschickt. Schon aufgund der Symmetrie dieser Situation kommen die beiden Photonen im Ruhsystem des Maßstabs gleichzeitig an den beiden Enden an. (Dies werden wir weiter unten sogar als Definition der Gleichzeitigkeit formulieren). Wenn derselbe Prozess aber in einem relativ dazu bewegten Inertialsystem betrachtet wird, sieht alles ganz anders aus: Aufgrund des Postulats von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bewegen sich beide Photonen auch in diesem System mit derselben Lichtgeschwindigkeit c. Falls sich der Maßstab (im neuen System) nach rechts bewegt, läuft sein linkes Ende dem nach links fliegenden Photon entgegen, während sein rechtes Ende dem nach rechts fliegenden Photon davonläuft. Das Ankommen der Photonen an den Enden des Maßstabs kann daher in diesem System nicht gleichzeitig stattfinden.
     
  • Wir können auch die bereits im Abschnitt über die Zeitdilatation betrachtete Konstruktion der Lichtuhr zu Hilfe nehmen: Stellen wir uns eine ruhende und eine bewegte Lichtuhr in einem Inertialsystem vor. Da deren Periodendauer verschieden lang ist (darin besteht ja gerade der Effekt der Zeitdilatation), können die Photonen der beiden Lichtuhren, wenn sie gleichzeitig vom unteren Spiegel abgeschickt werden, nicht gleichzeitig an den oberen Spiegeln ankommen. Für einen anderen Beobachter, der sich in den "Schwerpunkt" der beiden Lichtuhren setzt, so dass sie sich in perfekt symmetrischer Weise von ihm wegbewegen, kommen (schon aufgrund der Symmetrie des Systems, wie sie sich für ihn darstellt) die beiden Photonen sehr wohl gleichzeitig an den oberen Spiegeln an.
     
Zwei Definitionen der Gleichzeitigkeit

Daher ist es besonders wichtig, den intuitiven Begriff der Gleichzeitigkeit fallenzulassen und durch eine präziseren zu ersetzen. Wir haben in der Einleitung kurz skizziert, wie zwei Uhren mit Hilfe von Lichtsignalen miteinander synchronisiert werden können. Auf dieselbe Weise kann von zwei Ereignissen festgestellt werden, ob sie in einem gegebenen Inertialsystem gleichzeitig stattfinden. Die Vorschrift ist so wichtig (und so natürlich), dass wir sie - um ganz genau zu sein - dazu verwenden können, um überhaupt zu definieren, was "gleichzeitig" bedeuten soll. Wir wollen sie hier wiederholen:

Wir fixieren zwei Objekte, die im betreffenden Inertialsystem ruhen (es können Uhren oder auch die Enden eines im betrachteten Inertialsystem ruhenden Maßstabs sein) und markieren deren Halbierungspunkt. Dann können wir behaupten, dass zwei Lichtsignale (Photonen), die vom Halbierungspunkt in entgegengesetzte Richtungen weggeschickt werden, an den beiden Objekten gleichzeitig ankommen. Diese Methode ist im linken der beiden folgenden Raumzeit-Diagramme illustriert:

Dabei bezeichnen a und b die Weltlinien der Uhren (oder Enden eines Maßstabs) und h die Weltlinie des Halbierungspunktes. Die beiden Ereignisse, deren Gleichzeitigkeit auf diese Weise hergestellt wird, sind als grüne Punkte hervorgehoben.

Eine andere, dazu äquivalente Definition von Gleichzeitigkeit ist im rechten Raumzeit-Diagramm dargestellt: Ein (im betreffenden Inertialsystem) ruhender Beobachter, der eine Uhr mit sich führt, schickt ein Lichtsignal weg, wenn seine Uhr die Zeit t1 anzeigt. Dieses wird von einem Spiegel reflektiert und kehrt zurück, wenn seine Uhr die Zeit t2 anzeigt. Dann finden die beiden (im Diagramm eingezeichneten) Ereignisse

  • A: Das Lichtsignal wird reflektiert.
  • B: Die Uhr des Beobachters zeigt die Zeit (t2 + t1)/2 an.

für den Beobachter (d.h. in einem Inertialsystem, in dem er ruht), gleichzeitig statt.

Um nicht jedesmal so umständlich vorgehen zu müssen, wenn interessante Ereignise stattfinden, können wir uns vorstellen, dass eine dieser Methoden vorab (bei der "Einrichtung" des Inertialsystems) dazu verwendet wird, eine große Anzahl im Raum verteilter (und im betreffenden Inertialsystem ruhender) Uhren miteinander zu synchronisieren. Dies definiert den "globalen Zeitbegriff" eines Inertialsystems. Ab nun kann Gleichzeitigkeit durch das simple Ablesen von Uhrzeiten festgestellt werden: Der Zeitpunkt eines Ereignisses (im verwendeten Inertialsystem) ist jene Zeit, die die in seiner unmittelbaren Nähe befindliche Uhr anzeigt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Synchronisation der verwendeten Uhren nur in dem Inertialsystem gilt, in dem sie ruhen - von einem anderen, relativ dazu bewegten Inertialsystem aus beobachtet, "ticken" die Uhren nicht synchron!

Die beiden oben beschriebenen Definitionen der Gleichzeitigkeit sind nicht auf die Relativitätstheorie beschränkt - sie können durchaus auch in der galileischen Physik verwendet werden. Sie entstehen - logisch gesehen sehr einfach - aus der Forderung, unter "Zeit" eine Größe zu verstehen, für die eine genaue Messvorschrift angegeben werden kann (wobei wir den Begriff der - lokalisierten - Uhr voraussetzen). Sobald man nicht automatisch darauf vertrauen will, dass diese Größe absolut, also vom Bewegungszustand des Beobachters unabhängig ist, muss bei einer Zeitangabe immer genau dazugesagt werden, wie sie gemessen worden ist, insbesondere wie sich die verwendete Uhr bewegt hat! In der galileischen Physik führt ein solcher vorsichtiger Standpunkt lediglich zu der Aussage, dass die Zeitintervalle, die für verschieden bewegte Uhren während eines gegebenen physikalischen Prozesses vergehen, miteinander übereinstimmen. (Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass sich das verwendete Signal - ob Licht oder etwas anderes - in beiden Richtungen gleich schnell ausbreitet). In der Relativitätstheorie ist diese Vorsicht, wie wir gesehen haben, allerdings notwendig, da die Zeit hier ihren absoluten Charakter verloren hat und Zeitintervalle verschieden sein können, wenn sie von verschieden bewegten Uhren gemessen werden.

Im Abschnitt über die Lorentztransformation werden wir das Thema der Relativität der Gleichzeitigkeit erneut (diesmal quantitativ) aufgreifen und die Frage aufwerfen, mit welcher Zeitdifferenz zwei Ereignisse in einem Inertialsystem beobachtet werden, wenn sie in einem anderen gleichzeitig stattfinden.


¬   Alternative zur Herleitung der Effekte Übersicht Relativistische Geschwindigkeitsaddition   ®