Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten erfahren, dass Zeitintervalle und räumliche Distanzen beobachterabhängig sind. Die Effekte der Zeitdilatation und der Lorentzkontraktion ziehen eine Reihe von Konsequenzen nach sind. Unter anderem ist der Begriff der Geschwindigkeit davon betroffen. In einem gegebenen Inertialsystem ist die Geschwindigkeit - wie üblich - als Quotient aus zurückgelegtem Weg und dafür benötigte Zeit definiert. Wie verhalten sich aber die Werte der Geschwindigkeit eines Objekts, die in verschiedenen Inertialsystemen gemessen werden, zueinander? Stellen etwa wir uns vor,
Wie groß ist die Geschwindigkeit der Bowlingkugel im Inertialsystem der Schienen? Nach der galileischen Physik wäre das gerade die Summe der beiden Einzelgeschwindigkeiten, also 65 km/h. Gilt diese Methode, Geschwindigkeiten zu addieren, auch in der Relativitätstheorie? Eigentlich müssen wir von vornherein erwarten, dass das nicht der Fall ist: Wenn sich etwa der Zug (relativ zu den Schienen) mit 3/4 der Lichtgeschwindigkeit bewegt und die Bowlingkugel (relativ zum Zug) ebenfalls mit 3/4 der Lichtgeschwindigkeit, so würde diese Methode auf die eineinhalbfache Lichtgeschwindigkeit für die Kugel im System der Schienen führen! Das wäre ein hübscher Widerspruch zur Aussage, dass sich kein materieller Körper schneller als das Licht bewegen kann (die im Abschnitt über die Zeitdilatation begründet worden ist). Tatsächlich gilt die Regel von der simplen Addition der Zahlenwerte der Geschwindigkeiten in der Speziellen Relativitätstheorie nicht. Um die Lage abzuklären, betrachten wir folgende Situation: Wir benötigen zwei Inertialsysteme - wir nennen sie I (Schienen) und I' (Zug) - und ein gleichförmig bewegtes Objekt (Bowlingkugel). Dabei sollen alle auftretenden Bewegungen nur in einer Raumdimension stattfinden. Das System I' (genauer: sein Ursprung) bewegt sich im System I mit Geschwindigkeit u. Die Kugel bewegt sich in I' mit Geschwindigkeit v und in I mit Geschwindigkeit w. Die folgende Abbildung (sie zeigt die räumlichen Koordinatensysteme, die Bewegung findet in horizontaler Richtung statt) illustriert, wie sich die Situation im System I darstellt: Nach der galileischen
Physik wäre zu erwarten, dass Dazu betrachten wir einen Maßstab, der im System I in Ruhe ist und dort die Länge L hat: Die Kugel bewegt sich in Längsrichtung am Maßstab vorbei. Dabei wollen wir zwei Ereignissen einen Namen geben: A (die Kugel passiert das linke Ende des Maßstabs) und B (die Kugel passiert das rechte Ende des Maßstabs). Die Zeit, die - im System I - zwischen diesen beiden Ereignissen vergeht, d.h. die Zeit, die das Vorbeibewegen dauert, sei mit Dt bezeichnet. Daher gilt die Beziehung
Aufgrund des Effekts der Zeitdilatation (dortige Formel (2)) vergeht im Ruhsystem der Kugel zwischen den Ereignissen A und B die (kürzere) Zeit
Nun sehen wir uns an, wie derselbe Prozess im Inertialsystem I' aussieht: Die Kugel bewegt sich mit der Geschwindigkeit v nach rechts, der Maßstab mit der Geschwindigkeit u nach links. Letzterer ist nun aufgrund des Effekts der Lorentzkontraktion (dortige Formel (2)) kürzer als in seinem Ruhsystem I, seine Länge in I' ist
Wir
benötigen nun die Zeit
Dt',
die während des Vorbeibewegens der Kugel am Maßstab (d.h.
zwischen den beiden Ereignissen A
und B) im
System I' vergeht.
Das führt auf eine einfache Fahrplanaufgabe: Wenn die Kugel und
das linke Ende des Maßstabs
beide ihre Bewegung am Ort x' = 0 beginnen, ist die Kugel nach der Zeit Dt'
am Ort v Dt'
und das rechte Ende des Maßstabs am Ort
Aufgrund der Zeitdilatation (dortige Formel (2)) ist der Zusammenhang zwischen dieser Größe und der im Ruhsystem der Kugel für denselben Prozess vergangenen Zeit Dto durch
gegeben. In den Beziehungen (1) bis (5) steckt nun genügend Information, um w durch u und v auszudrücken: Aufgrund von (1) ist w = L/Dt. Wir benützen (2), um Dt durch Dto und w auszudrücken, ersetzen dann mit Hilfe von (3) L durch L' und u und mit Hilfe von (5) Dto durch Dt' und v. Schließlich ersetzen wir Dt' mittels (4), wodurch sich ein L' im Zähler gegen ein L' im Nenner wegkürzt. Alle Größen ausser den drei Geschwindigkeiten sind verschwunden, und wir erhalten
Diese Beziehung wird quadriert und ein bisschen umgeformt, sodass die Beziehung
entsteht. Nun ziehen wir die Wurzel und sind am Ziel: Die gesuchte Geschwindigkeit w ist durch
gegeben. Das ist die Formel für die relativistische Geschwindigkeitsaddition. Entgegen ihrer etwas unglücklichen Bezeichnung handelt es sich nicht um eine simple Addtition von Zahlen, und wir sollten das Wort "Addition" hier nur unter Anführungszeichen verstehen. Das
Resultat (8) gilt unabhängig von den Vorzeichen der beteiligten
Geschwindigkeiten: u
und/oder v
dürfen durchaus auch negativ sein (was Bewegungen nach links entspricht).
Die einzige Bedingung für ihre Gültigkeit ist, dass die auftretenden
Relativbewegungen (Inertialsysteme und Kugel) nur in einer einzigen
Raumdimension stattfinden, und dass die Beträge der Geschwindigkeiten
kleiner c
sind. (Die Geschwindigkeit der Kugel darf im Grenzfall gleich c
sein). Kommen zwei Richtungen vor, und sind u
und v (nicht
parallele) Vektoren, dann muss (8) durch eine allgemeinere Form ersetzt
werden, auf die wir hier aber nicht weiter eingehen.
(Literaturtipp
hierzu: R. Sexl und H. K. Urbantke: Relativität, Gruppen,
Teilchen, Springer-Verlag).
Falls die Geschwindigkeiten
u
und v klein
gegenüber der Lichtgeschwindigkeit c
sind (wie etwa im Fall des eingangs erwähnten Beispiels mit dem
Zug und der Bowlingkugel), ist der Nenner in (8)
sehr nahe bei 1, und die Geschwindigkeit
w ist näherungsweise durch die Summe Sind große Geschwindigkeiten im Spiel, so verhindert die Formel (8) auf wunderbare Weise das Auftreten von Überlichtgeschwindigkeiten: Es lässt sich ganz allgemein zeigen, dass -c < w < c, solange -c < u < c und -c < v < c ist. Versuchen wir es mit u = v = 3c/4, so erhalten wir w = 0.96 c, was kleiner als c ist (wohingegen die galileische Rechnung auf 1.5 c, also eineinhalbfache Lichtgeschwindigkeit führen würde)! Im Grenzfall v
= c (wenn es sich nicht um eine materielle Kugel, sondern um
ein Photon handelt) erhalten wir
w = c, d.h. ein Teilchen (Photon), das sich im System
I' mit Geschwindigkeit
c bewegt, hat dann auch im Inertialsystem I
die Geschwindigkeit c.
Hier haben wir den mathematischen Grund, der die -
in der galileischen Physik unmögliche -
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (siehe den Abschnitt Postulate)
ermöglicht.
So einfach und ansprechend unser zentrales Resultat, Formel (8), auch sein mag - die oben vorgeführte Herleitung ist umständlich. Die Argumentationslogik ist eine sture Anwendung der zuvor diskutierten Effekte und nicht mit tieferen Einblicken in das neue Konzept von Raum und Zeit verbunden. Demgegenüber gibt es elegantere Herleitungen - sie erfordern zwar mehr Vorbereitungsaufwand, führen aber dann schneller zum Ziel und sind theoretisch befriedigender. Wir wollen zwei dieser Argumentationen - beide benötigen Vorgriffe auf spätere Abschnitte - kurz vorstellen.
Die relativistische Geschwindigkeitsaddition hat eine interessante geometrische Deutung, die einen Blick in die tieferen Strukturen der Speziellen Relativitätstheorie ermöglicht: Die Formel (8) ist eng verwandt mit dem Satz der euklidischen Geometrie, dass die Winkelsumme in jedem Dreieck 180° beträgt! Näheres darüber kann auf der Seite Geometrische
Deutung nachgelesen werden. (Zur Frage, was das Wort "geometrisch" hier bedeutet, siehe den Abschnitt über die Geometrie der Raumzeit). |
¬ Gleichzeitigkeit | Übersicht | Lorentztransformation ® |