EPR-Paradoxon und Bellsche Ungleichung


Franz Embacher

Oktober 2000

Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist es gelungen, die Grundlagen der Quantentheorie einer Reihe spektakulärer experimenteller Überprüfungen zu unterziehen. Sie betreffen vor allem die Natur der Unschäfen oder Unbestimmtheiten physikalischer Messgrößen. Stellen Quantenunschärfen lediglich unsere Unkenntnis über die wahren Werte dar, oder sind die Dinge "an sich" unscharf, unbestimmt? Letztere Position ist verstörend, doch sie wird vom experimentellen Befund eindeutig unterstützt.

Quantentheorie verstehen heißt unter anderem, zu verstehen, was uns zum Festhalten an diesen verstörenden Elementen zwingt. Ich möchte eine einfache, möglicherweise für den Unterricht gangbare Argumentationslinie skizzieren, die
 
  • eine Variante des EPR-Paradoxons vorstellt,
  • die Annahme der Existenz verborgender Variablen in die Form einer Bellschen Ungleichung gießt und
  • schliesslich zeigt, dass die Quantentheorie in ihrer heutigen Form solche Variable ausschließt.
 
Für die Zwecke des Schulunterrichts kann nicht mit dem vollen quantenmechanischen Formalismus argumentierent werden. Man verzeihe mir bitte die daraus resultierunden Vereinfachungen. Weiters wurden alle experimentellen und technischen Fragen (die im Unterricht natürlich eine wichtige Rolle spielen) ausgeblendet.
 
  1. Licht als klassische elektromagnetische Welle, Polarisationsfilter

    Wir betrachten einen Lichtstrahl, der auf einen Polarisationsfilter (kurz Polarisator) trifft. Im Rahmen der klassischen Physik wird Licht als elektromagnetische Welle angesehen.
    • Falls ein Lichtstrahl nur eine Frequenz (Farbe) n enthält, heißt er monochromatisch.
    • Innerhalb einer Welle, die von einer sehr weit entfernten Quelle emittiert wurde, steht der elektrische Feldvektor E normal zur Ausbreitungsrichtung. Falls er zudem nur in einer Ebene schwingt, sprechen wir von linear polarisiertem Licht. Das ist beispielsweise der Fall, wenn sich die Welle in x-Richtung ausbreitet und der Vektor E stets in z-Richtung weist. (Seine z-Komponente wird innerhalb der Welle variieren - "schwingen" -, aber seine x- und y-Komponenten sind stets Null. In diesem Beispiel würden wir die x-z-Ebene als Polarisationsebene und die z-Richtung als Polarisationsrichtung bezeichnen).
    Licht, das von einer Quelle wie der Sonne emittiert wird, ist nicht polarisiert. Fällt es auf einen Polarisator, so wird ein Teil der Welle durchgelassen, und dieser ist linear polarisiert. Die Polarisationsrichtung entspricht dann gerade der Orientierung des Polarisators. Wir können uns vorstellen, dass der elektrische Feldvektors E in einen Anteil parallel zum Polarisator und einen Anteil normal dazu ausgespalten wird. Der parallene Anteil wird durchgelassen, der normale wird absorbiert.

    Lassen wird nun Licht, das bereits linear polarisiert ist, auf einen weiteren Polarisator treffen. Eine solche Anordnung ist in der folgenden Abbildung skizziert:
     

    Abb. 1

    Die Orientierung des Polarisators wird durch den Winkel a zur Senkrechten angeben und ist in der Skizze durch einen grauen Strich symbolisiert. (In diesem Beispiel ist a = 60o, während die Polarisationsrichtung des einfallenden Lichts der 30o-Marke entspricht). Wird der Winkel zwischen dem Polarisator und der Polarisationsrichtung des einfallenden Lichts mit q bezeichnet (im obigen Beispiel ist q = 30o), so ist der elektrische Verktor im austretenden Strahl um den Faktor  cos q  "verkürzt". Das entspricht gerade der Eigenschaft des Cosinus, die Projektion eines Vektors in Richtung eines anderen Vektors anzugeben:
     

    Abb. 2

    Mit E ist hier der einfallende, mit E' der durchgelassene Anteil bezeichnet. Da die Intensität (Energie) des Lichts proportional zum Quadrat der Feldstärke ist, wird sie durch den Polarisator um den Faktor cos2q verringert:
     
    I' = I cos2q (1)

    wobei I die Intensität des einfallenden und I' die Intensität des austretenden (durchgelassenen) Lichtstrahls ist. Falls das Licht monochromatisch ist, ändert dieser Vorgang die Frequenz nicht: einfallendes und durchgelassenes Licht haben dieselbe Farbe. Diese Resultate lassen sich im Rahmen der klassischen Elektrodynamik genauer begründen, als wir es hier getan haben (insbesondere haben wir den Beitrag des magnetischen Feldes zur Intensität unterschlagen, was aber am Endresultat nichts ändert), und Formel (1) kann - im Rahmen einer der Qualität der verwendeten Polarisatoren entsprechenden Genauigkeit - sehr leicht mit Hilfe einer Photozelle experimentell nachgeprüft werden.
     
  2. Photonen, ihre Energie und ihre Polarisation

    Die Annahme, dass Licht ein elektromagnetischer Wellenvorgang - und als solcher ein kontinuierliches Phänomen - ist, gilt nur näherungsweise, wenn die Intensität genügend groß ist. Tatsächlich besteht Licht, wie wir heute wissen, aus Teilchen, den Photonen (Lichtquanten). Die Polarisation eines Lichtstrahls kann als Summe der Polarisationen der einzelnen Photonen aufgefasst werden. Für jedes Photon ist die Polarisation eine eigene, elementare Größe, die mit dem Spin-Vektor verknüpft ist. Ein Lichtstrahl ist dann linear polarisiert, wenn alle Photonen dieselbe Polarisation besitzen.

    Mit Hilfe heutiger Experimentiertechniken können tatsächlich einzelne Photonen erzeugt ("präpariert") werden, und es ist sogar möglich, sie mit einer gegebenen Polarisation auszustatten. (Vereinfacht gesagt, wird die Intensität eines linear polarisierten Lichtstrahls soweit reduziert, bis nur mehr einzelne Photonen "durchtröpfeln").

    Jedes Photon besitzt eine Energie E, die mit der Frequenz des Lichts durch die bekannte Formel E = hn verknüpft ist, wobei h das Plancksche Wirkungsquantum ist.
     
  3. Photonen und Polarisator

    Trifft ein einzelnes Photon, dessen Polarisation in einer bestimmten Richtung präpariert wurde, auf einen Polarisationsfilter gegebener Orientierung, so wird es entweder durchgelassen oder absorbiert. Wird es durchgelassen, so stimmt seine Polarisation danach mit der Orientierung des Polarisators überein (es hat seine ursprüngliche Polarisation "vergessen"), aber seine Energie hn ist gleichgeblieben. Letzteres entspricht der Erwartung, denn die Frequenz n eines als Welle aufgefassten Lichtstrahls wird durch einen Polarisator ebenfalls nicht geändert.

    Können wir nun voraussagen, ob ein bestimmtes Photon den Polarisator passieren wird oder nicht? Die Quantentheorie macht für derartige Fragen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Fragen wir also zunächst nach der Wahrscheinlichkeit, mit der das Photon den Polarisator passiert. Wenn ein Lichtstrahl, der aus sehr vielen Photonen - nennen wir ihre Anzahl n - auf den Polarisator trifft, ist seine Gesamtenergie nhn. Wir nehmen an, der Strahl ist monochromatisch, und alle Photonen haben dieselbe Polarisation. Von den n einfallenden Photonen passieren n' den Polarisator - die Gesamtenergie des austretenden Strahls ist dann n'hn, denn die Frequenz n ist gleichgeblieben. Die Energie eines Lichtstrahls ist aber nun gerade seine Intensität (mal der Zeitdauer, während der er betrachtet wird), und gemäß Formel (1) reduziert sich diese um den Faktor  cos2q, wobei q der Winkel zwischen der Polarisation der Photonen und der Orientierung des Polarisators ist. Daher gilt:  n' = n cos2q. Die Wahrscheinlichkeit für ein Photon, durchzukommen, ist (da n sehr groß ist) durch die relative Häufigkeit n'/n gegeben. Wir erhalten also das Resultat, dass ein Photon mit der Wahrscheinlichkeit
     
    p(q) = cos2q (2)

    den Polarisator passieren wird. Sie hängt von q ab: Ist das Photon parallel zum Polarisationsfilter polarisiert, wird es sicher durchkommen, ist es normal dazu polarisiert, wird es sicher absorbiert werden. Für alle anderen Winkel erlaubt uns die Quantenmechanik lediglich, eine Wahrscheinlichkeit anzugeben.

    Wir haben stillschweigend die Annahme gemacht, dass die einzelnen Photonen innerhalb eines Lichtstrahls nicht miteinander wechselwirken, d.h. einander nicht beeinflussen. Sie kann im Rahmen eines genaueren Photonenmodells gerechtfertigt werden: Ob die Photonen in kurzer Zeit innerhalb eines Lichtstrahls oder einzeln nach jeweils längeren Zeitabschnitten auf den Polarisator auftreffen, ist tatsächlich gleichgültig! (Technische Zwischenbemerkung: das hängt mit der Linearität der Maxwell'schen Elektrodynamik zusammen).

    Das Resultat (2) läßt sich mit einigem Aufwand auch experimentell überprüfen.
     
  4. Interpretation

    Im Rahmen der Quantenmechanik wird das Resultat (2) so interpretiert: Bevor ein Photon auf den Polarisator getroffen ist, läßt sich (außer in den Spezialfällen q = 0 und q = 90o) nicht sagen, ob es durchgelassen oder absorbiert werden wird, denn das steht objektiv noch nicht fest. Der Polarisator wirkt wie ein Messinstrument. Er stellt die Frage: "Bist Du in meiner Richtung (entspricht durchkommen) oder normal dazu (entspricht absorbiert werden) polarisiert?".

    PhysikerInnen haben immer wieder versucht, diese Interpretation anzuzweifeln. Könnte es nicht sein, dass irgendeine "verborgene" Eigenschaft, die wir einfach nicht kennen, für das Durchkommen/Absorbiertwerden verantwortlich ist? Oder - ganz generell: sind die Unschärfen (oder Unbestimmtheiten), von denen in der Quantentheorie so oft die Rede ist, nicht vielleicht insgesamt lediglich ein Ausdruck unserer Unkenntnis über einen ansonsten bestehenden ("objektiven") Sachverhalt? Fragen dieser Art lassen sich interessanterweise leichter diskutieren - und in einigen Fällen sogar im Experiment entscheiden - wenn über Systeme die Rede ist, die aus mehreren räumlich getrennten Teilchen bestehen. Einem solchen wollen wir uns jetzt zuwenden.
     
  5. EPR-Photonenpaare

    Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen haben im Jahr 1935 ein Gedankenexperiment vorgeschlagen, das diese Fragen zuungunsten der Quantentheorie klären sollte. Ich werde nun eine modifizierte Version des Arguments (es geht um Polarisationen anstatt wie ursprünglich um Ort und Impuls von Teilchen) darstellen.

    Wir betrachten einen Aufbau mit zwei Polarisatoren und einem im Zentrum der Anordnung erzeugten Paar von Photonen, wie er in folgender Abbildung skizziert ist:
     

    Abb. 3

    Die Orientierungen der Polarisatoren werden in Form zweier Winkel a und b angegeben. Die Photonen kommen (nahezu) gleichzeitig bei den beiden Polarisatoren an. Der atomare Prozess, der benutzt wird, um die Photonen zu erzeugen, hat nun eine ganz besondere Eigenschaft:
     
    Wann immer die beiden Polarisatoren parallel zueinander ausgerichtet sind (a = b = beliebig), passieren entweder beide Photonen die Polarisatoren oder keines.

    Diese Eigenschaft wird oft so ausgedrückt: "Die beiden Photonen besitzen die gleiche Polarisationsrichtung". Das ist aber unpräzise ausgedrückt: Wenn die beiden Photonen in einem Zustand wohlbestimmter Polarisation erzeugt werden, und wenn diese Polarisation mit den Polarisatoren den Winkel g einschliessen, so besteht - gemäß Formel (2) - für das linke Photon die Wahrscheinlichkeit cos2g, den Polarisator 1 zu passieren. Was gleichzeitig beim Polarisator 2 geschieht, sollte aber davon unabhängig sein - und daher besteht für das rechte Photon lediglich die Wahrscheinlichkeit cos2g, durch den Polarisator 2 zu kommen. Es sollte also durchaus vorkommen, dass eines der Photonen seinen Polarisator passiert, das andere aber nicht. Genau das wird aber nicht beobachtet! Es kommen immer entweder beide oder kein Photon durch die Polarisatoren, unabhängig davon, wie deren Orientierung (solange a = b) gewählt wird . Dies zwingt uns zur Annahme, dass die Polarisationen der Photonen zunächst unbestimmt sind!

    Die quantenmechanische Interpretation dieser Situation lautet folgendermaßen: Nachdem eines der Photonen den Polarisator erfolgreich passiert hat, ist seine Polarisation genau bestimmt (und zwar parallel zu diesem). Daher ist die Polarisation des anderen Photons nun auch genau bestimmt, nämlich parallel zu der des ersten Photons. Anders ausgedrückt: Erst wenn die Polarisation eines Photons durch eine Messung einen scharfen Wert erhält (erinnern wir uns: jeder Polarisator wirkt wie ein Messinstrument), ist die des anderen auch bestimmt.

    Der Satz "Die beiden Photonen besitzen die gleiche Polarisationsrichtung" muß also ein bißchen umformuliert werden: Eine bessere Formulierung wäre: "Die Polarisationen der beiden Photonen sind im gleichen (quantenmechanischen) Zustand." Ist die eine Polarisation unbestimmt ("unscharf"), so auch die andere. Werden sie aber gemessen, so liefern sie beide dasselbe Resultat: entweder sie kommen beide durch (dann ist die Polarisation parallel zur Orientierung der Polarisatoren) oder sie werden beide absorbiert (dann ist - bzw. war - die Polarisation normal zur Orientierung der Polarisatoren).

    Das Seltsame (Paradoxe) daran ist, dass für die Photonen aufgrund der räumlichen Trennung der Polarisatoren keinerlei "Verabredungsmöglichkeit" besteht! Nach der quantenmechanischen Interpretation hat keines der Photonen eine festgelegte Polarisation, aber dennoch verhalten sich beide immer gleich. Wie "erfährt" das eine Photon, was das andere gerade tut?

    Noch seltsamer wird diese Situation, wenn wir beiden Polarisatoren erlauben, beliebige, voneinander verschiedene Orientierungen a und b anzunehmen. Darüber hinaus können wir uns vorstellen, dass diese Orientierungen (z.B. durch Würfeln oder Willkürentscheidung zweier PhysikerInnenteams) unabhängig voneinander festgelegt werden, wenn die Photonen bereits unterwegs sind. Wir nähern uns jetzt dem eigentlichen Ziel: eine Voraussage der Quantentheorie mit der Annahme, es gäbe sehr wohl verborgene Größen, die das Verhalten der Photonen im Voraus bestimmen, experimentell zu konfrontieren.

    Wenn die Polarisator-Orientierungen a und b verschieden sind, werden sich die beiden Photonen nicht mehr immer gleich verhalten. Vielmehr sind wieder Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich.
     
    • Wahrscheinlichkeit, dass beide Photonen durchkommen:
      Nehmen wir an, das linke Photon trifft auf den Polarisator 1. Bezeichnen wir mit po die Wahrscheinlichkeit, dass es durchgelassen wird. Da es nicht "weiß", in welche Orientierung der Polarisator 2 gebracht wurde (das würde ein überlichtschnelles Signal erfordern), wird es sich so verhalten, als ob b = a wäre. po ist daher gerade die Wahrscheinlichkeit, mit der die beiden Photonen im Fall a = b ihre Polarisatoren passieren. Wir benötigen diese Größe für die Formeln, die wir gleich aufschreiben werden, müssen sie aber nicht berechnen, da sie sich zuletzt herauskürzen wird. (Es ist aber nicht schwer einzusehen, dass po = 1/2 ist). Falls das linke Photon durchkommt, ist seine Polarisation gemessen (festgelegt) worden: sie entspricht gerade der Orientierung a des Polarisators 1. Damit ist aber auch die Orientierung des rechten Photons festgelegt (ebenfalls a), wenn dieses unmittelbar danach auf den Polarisator 2 trifft. Für diesen zweiten Prozess können wir Formel (2) anwenden: der Winkel zwischen der (jetzt festgelegten) Polarisation des rechten Photons und der Orientierung b des Polarisators 2 ist a - b, und daher ist die Wahrscheinlichkeit fürs Durchgelassenwerden gerade cos2(a - b). Insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Photonen durchkommen, durch
       
      p(a, b) = po cos2(a - b) (3)

      gegeben. Sie hängt klarerweise von den Orientierungen der Polarisatoren ab und ist symmetrisch unter der Vertauschung dieser beiden Winkel.
       
    • Wahrscheinlichkeit, dass das linke Photon durchkommt, das rechte nicht:
      Hier können wir analog argumentieren. Das linke Photon kommt mit der Wahrscheinlichkeit po durch. Das rechte hat dann eine durch a gegebene Orientierung. Wenn es mit der Wahrscheinlichkeit cos2(a - b) durchkommt, wird es mit der Gegenwahrscheinlichkeit

      1 - cos2(a - b) = sin2(a - b)

      absorbiert. Insgesamt ist die Wahrscheinlichkeit, dass das linke Photon durchkommt, das rechte aber nicht, durch
       
      p(a,Øb) = po sin2(a - b) (4)

      gegeben. Zur Bequemlichkeit verwenden wir die Schreibweise mit dem Symbol Ø ("non" oder "nicht"). Setzen wir zur Überprüfung a = b, so finden wir unsere Voraussetzung wieder: die Wahrscheinlichkeit, dass sich die beiden Photonen verschieden verhalten, reduziert sich in diesem Fall auf Null.

    Halten wir fest: Die Formeln (3) und (4) stellen Voraussagen der Quantentheorie dar. Um sie experimentell zu überprüfen, würde man sich auf einige Polarisator-Orientierungen beschränken (z.B. kann man a und b erlauben, die Werte 0o, 30o und 60o anzunehmen). Welche der Orientierungen tatsächlich gewählt werden, würde erst durch Zufall entschieden, wenn die Photonen bereits unterwegs sind. Dabei sollen alle Kombinationen im statistischen Mittel gleich oft vorkommen. Nach einer großen Zahl derartiger Versuche wird mit no die Anzahl jener Messungen, bei denen die Polarisatoren parallel waren und beide Photonen durchgekommen sind, bezeichnet. Die Quantentheorie sagt dann voraus, dass (bis auf statischische Schwankungen) die Anzahl der Messungen, bei denen die Orientierungs-Kombination (ab) vorlag, und bei denen beide Photonen durchgekommen sind, durch
     
    n(a, b) = no cos2(a - b) (5)

    und die Anzahl der Messungen, bei denen die Orientierungs-Kombination (ab) vorlag, und bei denen das linke Photonen durchgekommen, das rechte aber absorbiert wurde, durch
     
    n(a,Øb) = no sin2(a - b) (6)

    gegeben ist. Die Überprüfung der quantenmechanischen Voraussage reduziert sich also auf eine Abzählung: wieviele der aufgetretenen Photonenpaare (wir fassen sie mit dem Begriff Ensemble zusammen) haben sich in dieser oder jener Situation so oder anders verhalten?

    Wir können jetzt noch einen weiteres Aspekt des Paradoxons benennen: Wenn die Polarisatoren zufällig normal zueinander stehen, werden nicht beide Photonen durchgelassen, denn n(a, a + 90o) = 0. Wenn das linke Photon den Polarisator 1 erfolgreich passiert hat - woher "weiss" das rechte, dass es auf jeden Fall absorbiert wird? Woher "weiss" es, dass die Polarisatoren nicht parallel zueinander stehen? (Dann gäbe es nämlich eine nichtverschwindende Wahrscheinlichkeit für das rechte Photon, auch durchzukommen).
     
  6. Die Annahme lokaler verborgener Variablen

    Gemäß der Interpretation der Quantentheorie sind die Polarisationen der Photonen unmittelbar nach ihrer Erzeugung nicht festgelegt. Weiters "kennt" keines die Orientierung des Polarisators, auf den es zufliegt (denn die wird von den ExperimentatorInnen erst im letzten Moment entschieden), und es "weiß" auch nicht, auf welche Orientierung das andere Photon treffen wird. Werfen wir die Frage, die wir bereits oben gestellt haben, wieder auf: Kann es sein, dass diese Unbestimmtheit lediglich unsere Unkenntnis ausdrückt? Ist es vorstellbar, dass jedes einzelne Photon des Ensembles aus Photonenpaaren, an dem derartige Messungen durchgeführt werden, eine (uns verborgene) Regel "mit sich trägt", die ihm genau sagt, wie es sich im Falle aller möglichen Orientierungen verhalten wird? Ob ein Photon bei einer gewissen Polarisator-Orientierung durchkommen wird oder nicht, wäre dann eine wohldefinierte Eigenschaft, die es besitzt (und die "lokal" genannt wird, weil sie tatsächlich das einzelne Photon und nicht nur das Gesamtsystem betrifft). Über solche Eigenschaften ("verborgene Variable" oder "verborgene Parameter") macht die Quantentheorie keine Aussage - aber könnten sie nicht dennoch in der Natur existieren? Dann wäre die Quantentheorie unvollständig, da es objektive Tatbestände gäbe, über die sie nichts aussagt.
     
    Wenn also verborgene Variable existierten, dann wäre jedes Photon für jeden Winkel d mit einer der beiden "Verhaltensregeln"
    • Rd  ... "Wenn du auf einen Polarisator der Orientierung d triffst, kannst du passieren!"
    oder
    • ØRd  ... "Wenn du auf einen Polarisator der Orientierung d triffst, wirst du absorbiert"
    ausgerüstet. Jedes Photon der Gesamtheit trägt also für jeden Winkel d eine der beiden Eigenschaften, sich gemäß Rd oder gemäß ØRd zu verhalten.

    In einem realistischen Experiment, könnte man a und b erlauben, die Werte 0o, 30o und 60o anzunehmen. Dann wäre - für diese Werte -
    • n(ab) in Formel (5) die (halbe) Anzahl jener Photonen, die sich gemäß Ra und Rb verhalten,
    und
    • n(a,Øb) in Formel (6) wäre die (halbe) Anzahl jener Photonen, die sich gemäß Ra und ØRb verhalten.

    Wäre diese Interpretation möglich, so könnten wir hoffen, eines Tages eine klassische Theorie zu finden (eine sogenannte lokal-realistische Theorie), in der keine der typischen quantenmechanischen Unschärfen mehr auftreten, und deren Voraussagen jene der Quantentheorie enthalten. Interessanterweise läßt sich jedoch zeigen, dass eine solche Theorie mit den Voraussagen der Quantentheorie in Widerspruch stünde!
     
  7. Eine einfache Bellsche Ungleichung

    Wir wollen nun eine ganz allgemeine Ungleichung für ein Ensemble von Objekten, die wohldefinierte Eigenschaften haben, aufschreiben und beweisen. Um die Argumentation einfach zu halten, stellen wir uns einen Betrieb vor. Jeder Mitarbeiter
    • ist weiblich oder männlich (kurz: w oder Øw),
    • fährt mit dem Auto zur Arbeit oder irgendwie anders (kurz: a oder Øa) und
    • kann französisch oder kann nicht französisch (kurz: f oder Øf ).
    Nehmen wir an, für alle MitarbeiterInnen lassen sich diese Eigenschaften eindeutig zuordnen, und führen wir folgende Bezeichnungsweise ein:
    • n(wa) sei die Anzahl der Mitarbeiterinnen, die weiblich sind und mit dem Auto zur Arbeit fahren,
    • n(a,Øf) sei die Anzahl der MitarbeiterInnen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren und nicht französisch können,
    • usw.

    Dann gilt die folgende Ungleichung:
     
    n(wa)  £  n(wf ) + n(a,Øf ) (7)

    In Worten: Die Anzahl der Frauen, die mit dem Auto fahren, ist kleiner-gleich der Anzahl der Frauen, die französisch können plus der Anzahl der autofahrenden Mitarbeiter beiderlei Geschlechts, die nicht französisch können. Um sie zu beweisen, brauchen wir eigentlich nur die folgende Skizze betrachten:
     

    Abb. 4

    Diese Ungleichung gilt ganz generell für drei Paare von Eigenschaften der Form (AØA). Ungleichungen dieser Art werden heute summarisch Bellsche Ungleichungen genannt. John Bell hat (im Jahr 1964) eine andere (etwas kompliziertere) Ungleichung als Formel (7) bewiesen. Die Form, die wir hier verwenden, stammt von Eugene Wigner.
     
  8. Anwendung der Bellschen Ungleichung auf EPR-Photonen

    Nun ist es nur mehr ein kleiner Schritt bis zum Ziel. Wie wir oben gesehen habe, impliziert die Annahme der Existenz lokaler verborgender Variablen, daß die individuellen EPR-Photonen Träger von Eigenschaften sind, die das Durchkommen oder Absorbiertwerden bewirken. Die Photonenzahlen, die wir in (5) und (6) berechnet haben, sind in dieser Interpretation vom selben Typ wie die Zahlen, die in der Bellschen Ungleichung (7) auftreten, wobei die "Eigenschaften", um die es geht, die oben besprochenen "Verhaltensregeln" Rd oder ØRd. sind. Wenn also verborgene Variable existieren, so muß für die durch die Formeln (5) und (6) gegebenen Photonenzahlen für beliebige Tripel (abg) von Orientierungswinkeln die Ungleichung
     
    n(ab)  £  n(ag) + n(b,Øg) (8)

    gelten. Das ist die Bellsche Ungleichung für EPR-Photonen. (Tatsächlich ist sie nur eine von vielen möglichen Varianten dieses Typs).
     
  9. Quantenmechanik und lokale verborgene Variable widersprechen einander

    Die in (8) auftretenden Zahlen haben wir bereits berechnet. Setzen wir (5) und (6) in (8) ein und kürzen no heraus, so entsteht die Ungleichung

    cos2(a - b)  £  cos2(a - g) + sin2(b - g).

    Wenn es verborgene Variable gäbe, so müßte sie für alle Tripel (abg) gelten. Das ist aber nicht der Fall. Für a = 0o, b = 30o und g = 60o, reduziert sie sich auf

    cos2(30o)  £  cos2(60o) + sin2(30o),

    was numerisch

    3/4  £  1/4 + 1/4

    bedeutet und klarerweise nicht erfüllt ist. Damit ist klar: die Annahme der Existenz lokaler verborgener Variablen widerspricht den Voraussagen der Quantentheorie - zumindest für gewisse Polarisator-Orientierungen. Die Angelegenheit kann somit einer experimentellen Entscheidung zugeführt werden.
     
  10. Der experimentelle Befund

    Machen wir es kurz: in diesem und in ähnlichen Fällen, in denen die "Frage an die Natur" gestellt werden kann, ob die Voraussagen der Quantentheorie gelten oder lokale verborgende Variablen existieren, ist die Quantentheorie bisher immer als Siegerin hervorgegangen. Für eine andere physikalische Situation dieses Typs (in der ein System aus drei Teilchen betrachtet wird) sei auf den Artikel  Das Quantenspiel  (von F.E. und Gregor Weihs) verwiesen.



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