Wir wenden uns nun wieder der Biologie zu. Eine der zentralen Aufgaben dieser Wissenschaft besteht in der Erforschung der Mechanismen, die die Evolution der Organismenwelt ermöglichen und in ihr wirken. Steigen wir mit der Frage ein, wie biologische Information an Nachkommen übertragen (vererbt) wird. Interessanterweise begegnen wir bereits bei diesem grundlegenden Thema dem Wirken mathematischer Gesetzmäßigkeiten. Jeder Organismus ist Träger genetischer Information. Nehmen wir einen formalen Standpunkt ein, so handelt es sich beim Genom einer Art um eine Sequenz (einen Strang) von "Listenplätzen" (Genorten, loci), auf denen "Anweisungen" stehen können. Wir stellen hier einige solcher Genorte schematisch dar und bezeichnen sie mit A bis F: Oft kommt einem Genort eine bestimmte "Aufgabe" zu, die mit dem Aufbau und Funktionieren des Organismus zu tun hat (und - ein bisschen verkürzt - mit dem Schlagwort "Merkmal" umrissen wird). Handelt es sich beispielsweise um eine Erbse, so könnte A der Listenplatz für die Farbe der Schoten sein. (Das ist eines der wenigen Merkmale, für die tatsächlich nur ein Genort zuständig ist). Bei den meisten Lebewesen ist das Genom auf mehrere Chromosomen (die jeweils selbst wieder solche Sequenzen sind) aufgeteilt. Für jeden Genort stehen ein oder mehrere Biomoleküle zur Verfügung, die den konkreten "Anweisungen" entsprechen: die Gene. Die Gene, die zum Listenplatz A gehören, bezeichnen wir mit A1, A2 usw. Oft sind die verschiedenen Gene, die einen Genort besetzen können, Varianten voneinander, die im Prinzip die gleiche "Aufgabe" in etwas unterschiedlicher Weise erfüllen. Ist etwa im Fall der Erbse A der Listenplatz für die Farbe der Schoten, so könnte A1 für "gelb" und A2 für "grün" stehen. Solche zueinander alternativen Gene (Genvarianten) werden Allele genannt.
Die obige Liste könnte beispielsweise so mit Allelen aufgefüllt werden: In einer solchen Form liegt die Information in jeder Körperzelle (bei höherentwickelten Lebewesen: im Zellkern) eines konkreten Organismus vor.
Nun haben die höher entwickelten Lebewesen eine (sehr erfolgreiche) Komplikation erfunden. Zwei Fälle können auftreten:
Weiters ist jedes Individuum entweder männlich oder weiblich. (Wir gehen jetzt nicht darauf ein, was das genau bedeutet und ignorieren die Arten, bei denen ein Individuum beides sein kann). Bei der sexuellen Fortpflanzung geschieht folgendes: Von Vater und Mutter wird je ein (zufällig mit Wahrscheinlichkeit 1/2 ausgewählter) Informationsstrang verworfen und die verbleibenden zur genetischen Information des Kindes zusammengesetzt (rekombiniert). Tatsächlich geschieht das für jedes Chromosom in unabhängiger Weise, wobei zuvor ganze Chromosomenabschnitte ausgetauscht werden (crossing over). Es findet also eine ordentliche Durchmischung statt, bevor das Erbmaterial für das Kind zustande kommt. Dennoch besteht für Allelfolgen, die auf dem DNS-Strang nur ein kurzes Stück einnehmen, eine gewisse Wahrscheinlichkeit, nicht getrennt und daher gemeinsam (gekoppelt) entweder verworfen oder vererbt zu werden. Allele, die auf verschiedenen Chromosomen oder voneinander weit entfernt auf demselben Chromosom liegen, besitzen unabhängig voneinander jeweils die Wahrscheinlichkeit 1/2, im Erbmaterial des Kindes wiederzuerscheinen. Unser obiger Beispiel-Nachkomme ist in Bezug auf die Genorte B, C und F homozygot, in Bezug auf A, D und E heterozygot. Die Allele A2, D4 und E2 wurden vom Vater, die Allele A4, D3 und E1 wurden von der Mutter geerbt. Gehört nun beispielsweise der Genort E zu einem erkennbaren Merkmal, und ist E1 dominant gegenüber E2, so hat das Kind das E-Merkmal von der Mutter geerbt. Das (rezessive) Allel E2 befindet sich aber nach wie vor in der genetischen Information und kann späteren Generation vererbt werden. Findet es sich in einem Nachfahren mit einer anderen Kopie von E2 zusammengewürfelt, so tritt das E-Merkmal in der (vielleicht verloren geglaubten) Ausprägung E2 wieder auf. Der Mechanismus der sexuellen Vererbung erklärt also mit einem Schlag, warum Merkmale verschwinden und nach mehreren Generationen plötzlich wieder auftauchen können. Sind die Häufigkeitsverteilungen der Allele in der Population bekannt, so können sogar die Wahrscheinlichkeiten, mit denen derlei Dinge geschehen, angegeben werden.
In den folgenden
Betrachtungen wollen wir die Möglichkeit von Mutationen (Entstehung
neuer Allele aufgrund von "Ablesefehlern" während des
Rekombinationsprozesses) außer Acht lassen.
Gregor Mendel hat - nicht zuletzt unter Aufbietung mathematischer Argumente, die die wenigen, denen seine Arbeiten bekannt wurden, überforderten - anhand von Kreuzungsversuchen mit Erbsen den zentralen Mechanismus entdeckt: Vererbung ist ein diskreter Vorgang. Die auffälligsten Merkmale von Individuen, die im Verdacht stehen, von den Eltern ererbt worden zu sein, sind graduell, wie z.B. die Größe und Form von Organen oder die Hautfarbe. Heute wissen wir, dass es sich dabei um Täuschungen handelt: Vererbt werden diskrete Informationseinheiten, wie z.B. die Blutgruppen oder das Geschlecht. Der Eindruck graduell abgestufter Merkmale entsteht einerseits durch die Vermischung mit Einflüssen des Milieus und des Zufalls, andererseits durch die große Zahl von Genorten, die zum Zustandekommen der meisten erkennbaren Merkmale beitragen.
Hinsichtlich eines Allelpaars stellt sich der Vererbungsmechanismus als Zufallsprozess mit vier gleich wahrscheinlichen Ausgängen dar: Dieser Mechanismus wird im Allgemeinen mit dem Stichwort "Mendelsche Vererbung(sregeln)" bezeichnet. Die drei von Mendel aufgestellten Regeln ergeben sich als triviale Folgerungen (wobei die dritte nur mit Vorbehalt gilt): Mendelsche Gesetze (Mendelsche Vererbungsregeln):
Mendels Originalarbeit steht unter http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d08_mend/mendel.htm zur Verfügung. Die Logik der Vererbung
auf der Ebene der einzelnen Gene wird also von relativ einfachen mathematischen
Gesetzmäßigkeiten beherrscht. Daß wir in der Praxis
kaum Vorhersagen über die zu erwartenden Merkmale unserer Sprösslinge
machen können, liegt nicht nur daran, dass sich die Gene ihren
Einfluss mit dem Milieu teilen müssen, sondern auch an ihrer Anzahl.
Selbst wenn crossing over ignoriert wird, ergeben sich für
die Rekombination der 23
menschlichen Chromosomen 223
Kombinationsmöglichkeiten!
Allele sind in jeder Population mit bestimmten Häufigkeiten vertreten. Die Tatsache, dass jedes Individuum an jedem Genort zwei Allele trägt, hat einige einfache, aber bedeutsame Konsequenzen. Seien A1, A2,... die Allele zu einem bestimmen Genort A. Die relative Häufigkeit des Allels Aj (d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig herausgegriffenes Allel genau Aj ist) werde mit pj bezeichnet. (Relative Häufigkeiten von Allelen werden in der Populationsgenetik auch als Allel-Frequenzen bezeichnet). Wenn nun die Population aus vielen Individuen besteht, so dass jedes Allel oft vorkommt, und Paarungen zufällig stattfinden (random mating) - wie ändern sich die relativen Allel-Häufigkeiten von Generation zu Generation durch die ständige Durchmischung und Rekombination der Erbinformation? Die Antwort lautet: gar nicht! Die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Allel zu erben, ist gleich der Wahrscheinlichkeit, es an ein Kind weiterzugeben. (Beweis: Übungsaufgabe!) Dabei ist natürlich vorausgesetzt, dass Mutationen (Entstehung neuer Allele) und Selektion (Beeinflussung der Fortpflanzungschancen durch die Allele, die man trägt) nicht berücksichtigt werden. Wenn sich die Allelhäufigkeiten (in großen Populationen mit Zufallspaarung) also nicht ändern, bilden sie wichtige Kenngrößen zur Charakterisierung solcher Populationen. Weiters gibt es in diesen Populationen einen Zusammenhang (das Hardy-Weinberg-Gesetz) zwischen den Allelhäufigkeiten und den Häufigkeiten der Individuen aller möglichen Genotypen (wobei der Genotypus eines Individuums durch ein Allelpaar bestimmt ist). Formulieren wir ihn für den Fall zweier Allele mit den in der Populationsgenetik üblichen Bezeichnungen: Gibt es für einen Genort zwei Allele A und a, und sind p und q deren relative Häufigkeiten (daher p + q = 1), so gilt:
Dabei wird zwischen A a und a A nicht unterschieden. Kann jeder Genotypus genau einem Phänotypus zugeordnet werden, d.h. entsprechen den Allelkombinationen beobachtbare Merkmale der Individuen, so beschreibt diese Tabelle einen Zusammenhang zwischen Allelhäufigkeiten und Merkmalshäufigkeiten. Ist A dominant gegenüber a, dann gibt es natürlich nur zwei Merkmalsgruppen, deren Häufigkeiten p2 + 2 p q und q2 betragen. Ganz nebenbei ergibt sich eine interessante mathematische Beobachtung: Die relative Häufigkeit der heterozygoten Individuen (Aa) ist nie größer als 1/2. Übungsaufgabe: Beweisen Sie das! (Tipp: es ist eine einfache Extremwertaufgabe!) Achtung: Die beiden unabdingbaren Voraussetzungen für die Gültigkeit dieses Gesetzes sind: Die Population besteht aus vielen Individuen, so dass jedes Allel oft vorkommt, und die verschiedenen Allele sind entsprechend ihren Anteilen im Genpool zufällig in den Individuen verteilt. Entsteht etwa durch Mutation ein neues Allel in einem einzigen Individuum, so ist die erste Bedingung nicht erfüllt (da es noch keine Homozygoten gibt). Nach etlichen Generationen wird, falls die Partnerwahl zufällig erfolgt, die Population einem Zustand zustreben, in dem das Gesetz wieder gilt. Man spricht daher auch vom Hardy-Weinberg-Gleichgewicht. Vermischen sich zwei große Gruppen einer Art (mit verschiedenen Allelhäufigkeiten) unter der Voraussetzung der Zufallspaarung, so wird dieser Zustand bereits in der nächsten Generation erreicht. Übungsaufgabe: Verallgemeinern Sie diese Überlegungen für drei Allele! Weitere Ressourcen:
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