und der Zufall in der Evolution
Wir besprechen nun einige Anwendungen des Formalismus, den wir in den beiden vorigen Abschnitten entwickelt haben. Es geht in ihnen um die Analyse der Entwicklung von Populationen unter dem Blickwinkel der Verwandtschaftsnähe und des bei der Rekombination wirkenden Zufalls. Die am schlimmsten vom Aussterben bedrohten Tierarten sind nur mehr durch wenige Exemplare vertreten. Betrachten wir als Beispiel ein Zuchtprogramm zur Rettung einer solchen Art, in dem mit drei nichtverwandten Exemplaren (zwei weiblichen und einem männlichen) begonnen wird. Weiters nehmen wir an, dass jeder Wurf aus drei Jungen besteht (wobei durch eine Hormonbehandlung beeinflusst werden kann, ob es ein weibliches und zwei männliche Jungen gibt oder umgekehrt). Zwei Kreuzungsvarianten werden diskutiert:
Welche ist vom genetischen Standpunkt vorzuziehen? Durch Anwendung der im vorigen Abschnitt erörterten Begriffe und Berechnungsmethoden ergibt sich:
Was können wir mit diesen Zahlen nun anfangen, um die beiden Varianten zu bewerten? Im Prinzip haben wir alle dafür nötigen Hilfsmittel - wir müssen nur die richtigen Fragen stellen. Dazu definieren drei Kenngrößen, die Populationen als Ganzes charakterisieren. Ganz allgemein betrachten wir eine beliebige Population innerhalb eines Verwandtschaftsgraphen. Sie bestehe aus n Individuen. Wenn wir uns erinnern, was Verwandtschafts- und Inzuchtkoeffizienten bedeuten, ergeben sich die folgenden drei Größen fast zwangsläufig:
Berechnen wir diese Größen für die (aus n = 9 Individuen bestehende) jüngste Generation unseres Zuchtprogramms in beiden Varianten, so ergibt sich folgendes Bild:
Variante 2 schneidet hinsichtlich aller drei Kriterien besser ab, ist also ganz eindeutig vom genetischen Standpunkt vorzuziehen. (Übungsaufgaben: Rechnen Sie diese Zahlen nach! Finden Sie eine noch bessere Variante?)
Gehen wir nun dazu über, Populationen über viele Generationen hinweg zu verfolgen. Verwandtschaftsgraphen sind in gewisser Hinsicht die "Bühne", auf der sich die Evolution abspielt - in ihnen bewegen sich die Allele, finden Mutationen statt, bekommen Neuerungen ihre Chance. Zwar ist diese Bühne nicht vorgegeben - sie wird erst durch das Zusammenwirken aller beteiligten Faktoren geschaffen - aber für einen einzelnen, kleinen Akteur wie ein Allel erscheint sie aber zunächst als vorgegebene Struktur, in der er sein Glück versuchen muss. Gerne wüsste wir, die der große Verwandtschaftsgraph der Menschheit oder einer anderen Art aussieht - das würde es uns erleichtern, Fragen der Entwicklung des Lebens und unserer eigenen Geschichte zu beantworten. Allein, wir wissen es nicht, und daher sind wir auf Näherungen und vereinfachte Modelle angewiesen (ähnlich wie die Physik darauf verzichtet, die Bewegung aller Atome des brodelnden Wasserkessels zu beschreiben und sich mit vereinfachten Annahmen und der Betrachtung von Mittelwerten bescheidet). Das Hauptthema der Verwandtschaftsgraphen ist der Zufall: jener Zufall, der bei der Durchmischung der Gene, der großen Errungenschaft der sexuellen Fortpflanzung, wirkt. Im Kleinen ist er mathematisch hervorragend zu beschreiben - wie wirkt er sich im Großen aus? Um dieser Frage nachzugehen, betrachten wir ein Modell, in dem eine Generation auf die andere folgt. Dabei nehmen wir vereinfachend an,
Die einzigen frei wählbaren Parameter des Modells sind die (auf eine Generation bezogene) Wachstumsrate r und die Zahl g der Gründer, die die nullte Generation des Graphen bilden.
Die dynamischen Variablen des Modells sind die Populationsgröße n und die bereits oben definierten Mittelwerte (1) und (2) der Verwandtschaftskoeffizienten. Sind ihre Werte in einer Generation bekannt, so haben wir mit der obigen Formel (4) einen guten Näherungsausdruck für den Wert von M in der nächsten Generation. Es ist nicht schwer, nachzurechnen, dass der Wert von V in der nächsten Generation V + (1 - M)/(4rn) beträgt (Übungsaufgabe). Führen wir nun die Bezeichnungen nj, Vj und Mj für die Werte dieser Größen in der j-ten Generation ein, so erhalten wir das iterative System
mit den Anfangsbedingungen n0 = g, V0 = 1/(2g), M0 = 0, wobei wir g ³ 2 setzen. So andersartig diese Gleichungen jetzt auch aussehen mögen als die Berechnungen der letzen beiden Abschnitte - sie sind nichts anderes als die auf den Mendelschen Gesetzen beruhende Entwicklung unserer Kenngrößen in einem großen, aber im Durchschnitt relativ einheitlich aufgebauten Verwandtschaftsgraphen. Um die Gültigkeitsgrenzen des Modells abzustecken, bemerken wir:
Werden die Gleichungen (5) - (7) ein bisschen unter die Lupe genommen, so ergeben sich zwei Fälle:
In beiden Fällen ergibt sich, dass der Zufall der Rekombination eine erhebliche Rolle spielt - insbesondere, wenn die Population klein ist. Diese Art des Zufalls heißt genetische Drift. Auf ihm basiert die Erwartung, dass sich Allelverteilungen (z.B. die Häufigkeit der Blutgruppen) in getrennten Populationen in zufälliger Weise auseinander entwickeln werden. Wir haben diese Erwartung bei der Rekonstruktion der frühen menschlichen Wanderungen in einem früheren Abschnitt bereits verwendet. Wichtig ist, dass es sich hierbei nicht um eine Wirkung der natürlichen Selektion handelt! In diesem Sinn kann das System (5) - (7) als Modell der genetischen Drift betrachtet werden. Die durch das Modell beschriebene Zeitentwicklung lässt sich recht gut am Computer verfolgen. So ergibt sich beispielsweise für g = 1000 und r = 1.003 (eher langsames Wachstum) folgender Plot für Vj und Mj (die beiden Funktionen sind mit freiem Auge nicht zu unterscheiden) während der ersten 3000 Generationen: Beide Größen streben einem Wert knapp über 0.08 zu. Nach 3000 Generationen ist die Population auf stattliche acht Millionen angewachsen. Sind (hypothetischerweise) alle 2000 Allele in der Gründerpopulation befindlichen Allele voneinander verschieden, sind nun etwa 8% aller Individuen homozygot. Die Wahrscheinlichkeit, zwei identische Allele zufällig aus dem Genpool zu ziehen, ist ebenso groß. Wieviele Alleltypen werden untergegangen sein? Machen wir eine Überschlagsrechnung: wenn noch die Kopien von k verschiedenen Allelen mit gleicher Häufigkeit vorhanden sind, entspricht das einer Urne mit 16 Millionen Kugeln, die je eine von k Farben haben. Die Wahrscheinlichkeit, zwei gleichfarbige Kugeln (mit Zurücklegen) herauszuziehen, ist 1/k. Setzen wir das gleich 0.08, so ergibt sich k = 12.5. Von den ursprünglich 2000 Alleltypen der Gründer sind also nur mehr wenige mit nennenswerter Verbreitung vorhanden - die anderen sind entweder ausgestorben oder mit sehr viel kleineren Häufigkeiten vertreten! (Allgemein ist die Größenordnung der in der j-ten Generation noch einigermaßen häufig vertretenen Alleltypen durch Vj-1 gegeben). Allerdings wird sich bei einer derart großen Zahl von Generationen die Wirkung von allmählich angehäuften Mutationen zeigen: nicht alle in diesem Modell als identisch verbuchten Allele werden identisch sein. Weiters ist das Modell insofern unrealistisch, als sich kaum je eine Population über derart viele Generationen ohne Aufspaltungen entwickelt.
Diese Resultate zeigen eindrucksvoll, wie stark der in der Rekombination wirkende Zufall (die genetische Drift) die Evolution beeinflusst. Entsteht durch Mutation ein neues Allel, so hat es zunächst gegen diesen Zufall zu kämpfen. Selbst wenn es seinen Trägern Vorteile verschafft (die in der Regel nur zu einer bescheidenen Steigerung der durchschnittlichen Nachkommenszahl führen), kann es aussterben. Erst wenn es diesen Kampf überstanden hat und in zahlreichen Kopien vorliegt, bestimmt die natürliche Selektion sein weiteres Schicksal. Das oft missverstandene und missbrauchte Schlagwort vom "Überleben der Tüchtigsten" (survival of the fittest) ist also bei Weitem nicht der einzige Mechanismus der Evolution!
Im vorvorigen Abschnitt haben wir uns die Hautflügler (Bienen, Wespen und Ameisen) angesehen und in ihren Fortpflanzungsmodalitäten einen möglichen evolutionären Grund für die extreme Kooperation dieser Tiere gefunden. Eine andere Ordnung staatenbildender Insekten sind Termiten (Isoptera), und auch von ihnen können wir etwas über die Mechanismen der Evolution lernen. Im Gegensatz zu Hautflüglern sind Termiten insofern "gewöhnliche" Tiere, als Weibchen und Männchen diploid sind, d.h. zwei Chromosomensätze tragen. In ihnen hat die Evolution eine andere Methode entwickelt, extreme verwandtschaftliche Nähe herzustellen: Termiten leben von der Inzucht. Eine Kolonie geht aus der Paarung eines einzigen Königspaars hervor. Stirbt ein Partner, so wird er oder sie durch eines der Kinder ersetzt, so dass über viele Generationen hinweg alle Bewohner eines Termitenhügels einer Schwester-Bruder-Inzuchtkette entspringen. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass das jeweilige Erzeugerpaar immer gemeinsam abdankt, so ergibt sich folgender Verwandtschaftsgraph (linkes Bild) wobei wir uns eine Fortsetzung über viele Generationen vorzustellen haben. (Ähnlich krasse Inzucht wird manchmal im Labor an Mäusepopulationen angewandt). Analysieren wir die Verwandtschaftsverhältnisse: Im rechten Bild sind alle sterilen Individuen weggelassen, und die verbleibenden sind mit den Inzucht- und Verwandtschaftskoeffizienten der (j -1)-ten und der j-ten Generation beschriftet. Mit den im vorigen Abschnitt besprochenen Berechnungsmethoden ergibt sich das iterative Gleichungssystem
mit den Anfangswerten F0 = 0 und f0 = 0. Es ist ein Spezialfall unseres obigen Populationsmodells (5) - (7) mit r = 1 und g = 2, wobei sich die Variablen gemäß Mj = Fj und Vj = fj/2 + (1 + Fj)/4 umrechnen. Das System (8) kann durch einen geschossenen Ausruck in j gelöst werden, aber uns interessiert hier nur das Verhalten für große j: Die Folgen Fj und fj konvergieren beide gegen 1. (Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie schnell das geht, berechnen und plotten Sie die obigen Kenngrößen für die ersten 30 Generationen!) Für große j bedeutet das, dass alle Individuen mit hoher Wahrscheinlichkeit genetisch identisch und homozygot sind, d.h. zwei gleiche Allele tragen. Sind in der Gründergeneration vier verschiedene Allele vorhanden, so werden drei von ihnen aussterben - welche, das bestimmt der Zufall (die genetische Drift). Jedes Allel, das in der Gründergeneration mit einer Kopie vertreten war, übernimmt mit Wahrscheinlichkeit 1/4 das Ruder. (Das passt bestens mit Punkt 1 des Satzes im vorigen Abschnitt zusammen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein aus einem Individuum zufällig herausgegriffenes Allel gleich einem seltenen Allel ist - was gleich der erwarteten Anzahl der Kopien dieses Allels pro Induviduum ist -, beträgt 1/(2g), also 1/4). Auf diese Weise reduziert Inzucht die genetische Variabilität. Entstehen von Zeit zu Zeit durch Mutationen neue Allele, so hat jeder dieser Mutanten eine reelle Chance, sich in der gesamten Population zu fixieren, sieht sich aber alsbald vom nächsten Neuling herausgefordert. Wir kommen also zu dem Schluss, dass alle Bewohner einer Termitenkolonie mit hoher Wahrscheinlichkeit genetisch identisch sind. Inzucht besitzt hier weniger Nachteile als bei den anderen Tieren, da die Allele, die sich im homozygoten Erbgang schädlich auswirken, von der natürlichen Selektion bereits entfernt wurden (und ständig werden).
Dieses Resultat legt es nahe, das soziale Verhalten der Termiten als speziellen Fall von Verwandtschaftsaltruismus zu verstehen: Ein Allel, das es seinen Trägern nahelegt, die Kolonie zu verlassen und Nachkommen mit einem nichtverwandten Partner zu zeigen, hat weniger Chance auf Ausbreitung im Genpool als ein Kooperations-Allel. Effektiv geschieht hier also etwas ganz Ähnliches wie bei den Hautflüglern, nur mit anderen Mitteln: die Geschwister sind untereinander näher verwandt als mit ihren (hypothetischen) Nachkommen mit einem Partner aus einer anderen Kolonie. Dieser Ansatz erklärt auch, warum die Kasten steriler Arbeiter bei Termiten aus Individuen beiderlei Geschlechts gebildet werden (während sie bei den Hautflüglern, wie wir gesehen haben, nur aus Weibchen bestehen). Nach vielen Generationen der Inzucht geschieht dann endlich der genetische Austausch zwischen Nachkommen verschiedener Kolonien (ohne den jede Kolonie über kurz oder lang zu einer eigenen Art würde) - dann wird ausgeschwärmt und "fremdgepaart", und in jeder neugegründeten Kolonie beginnt wieder eine lange Inzuchtkette. In den siebziger Jahren wurde zur allgemeinen Überraschung entdeckt, dass ein ganz ähnlicher Mechanismus auch von einer Säugetierart verwirklich wurde: von den Nacktmullen, kleinen unbehaarten Nagetieren, die in großen unterirdischen Kolonien in Afrika leben. Ressourcen:
Alle heute lebenden Geparden sind so nahe miteinander verwandt wie Labormäuse nach langer Inzucht. Insgesamt besitzt die Population eine extrem niedrige genetische Variabliltät. Geparde, die tausende von Kilometern entfernt voneinander geboren wurden, zeigten kaum Abstoßungsreaktionen nach Hautverpflanzungen (was sonst nur bei eineiigen Zwillingen der Fall ist). Das ist äußerst ungewöhnlich. Als möglicher Grund wird vermutet, dass die Population der Geparden einmal durch einen Flaschenhals (bottleneck) gegangen ist, d.h. knapp vor dem Aussterben stand. Aufgrund genauerer genetischer Untersuchungen wird geschätzt, dass das vor etwa 10 000 Jahren passiert ist. Das würde bedeuten, dass alle heutigen Geparden nur von wenigen Induviduen, die vor nicht allzu langer Zeit gelebt haben, abstammen. Unser oben entwickeltes Populationsmodell (5) - (7) berücksichtigt zwar viele Faktoren nicht, aber probieren wir dennoch aus, ob es eine vernünftige Größenordnung für die Zahl der Gepardenvorfahren voraussagt. Falls die Flaschenhalsvermutung stimmt und wir eine Gepardengeneration mit 10 Jahren ansetzen, müssen wir das Modell über 1000 Generationen verfolgen. Heute leben zwar nur mehr an die 12 000 Exemplare, aber das ist vor allem der Verfolgung und Tötung dieser Tiere während der letzten 100 Jahre zu danken. Davor soll es 100 000 Geparden gegeben haben, und wir nehmen diese Zahl als n1000 an, woraus (unter den vereinfachten Annahmen des Modells) eine Wachstumsrate von r = (105/g)1/1000 folgt. Können wir die Nähe der Verwandtschaft heutiger Geparden quantifizieren? Erinnern wir uns: Der Inzuchtkoeffizient ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Genort aufgrund der Abstammung homozygot zu sein. Die genetischen Daten können dahingehend interpretiert werden, dass diese Größe ungefähr den Wert 0.97 hat (wobei dazugesagt sei, dass diese Interpretation nicht unumstritten ist). Wir setzen daher M1000 = 0.97. (Das entspricht dem Inzuchtkoeffizienten von Labormäusen nach zwanzig Generationen exzessiver Inzucht). Damit ist nur mehr g unbestimmt. Ein bisschen trial and error mit dem System (5) - (7) zeigt, dass der Wert g = 8 (aus dem sich eine Wachstumsrate von 1.0095 ergibt) diese Daten reproduziert. Hat es also in der kritischen Zeit acht Geparden gegeben? Das zu behaupten wäre verwegen, aber nach unserem Modell waren es wenige, und das ist ein schönes Resultat. |
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