Erwin Bader:

Ist Gott evident?

 

Was ist eigentlich evident? Das was wir mit eigenen Augen sehen? Es könnte eine Täuschung sein. Daß wir selbst existieren? Wir könnten bloß Schatten im Traumes eines anderen Wesens sein. Der Mensch scheint sich selbst evident zu sein, die ihn umgebende Welt ebenso, aber von einer Evidenz Gottes zu sprechen scheint dem Denken der modernen Zeit nicht leicht in den Sinn zu kommen. Ich möchte daher einige Gedanken über den Entwicklungsgang des menschlichen Geistes deutend skizzieren, um aufzuzeigen, wie wir diese Evidenz wieder in uns entdecken könnten. Zuerst möchte ich bloß mit der Darstellung einer theistischen Position beginnen, welche man fürs erste als eine Hypothese auffassen mag, wobei ich annehme, daß die Argumente, welche dafür sprechen, langsam den Vorzug jenes Denkmodells veranschaulichen werden. Dabei geht es mir um den Nachvollzug der ursprünglichen, aber verlorenen Evidenz Gottes und dessen sich historisch in der christlichen Philosophie leise anbahnender Wiederentdeckung.

Der Mensch ist nicht nur Materie, auch nicht nur ein Naturwesen wie andere auch, sondern er ragt wie sonst kein geschöpfliches Wesen in jene geistige Ordnung hinein, die ihn mit Gott verbindet. Gott ist Geist, und die Aufgabe der Religion besteht darin, dem Menschen zu helfen, seine Geistnatur zu erkennen, sich darin zu bewegen und dabei zu reifen, um vollkommen zu werden - gemäß einem Ausdruck von Jesus - wie unser Vater im Himmel. Der Mensch ist das schöpferische Geschöpf.

Als schöpferisches Wesen beweist sich der Mensch seine Geistnatur, seine Fähigkeit, über der Materie zu stehen, also sich in einer anderen Dimension zu bewegen als alle andere Schöpfung, die an ihre Geschöpflichkeit vollkommen gebunden ist. Er allein ist fähig, die Gestalt der Umwelt neu zu planen, sie sich untertan zu machen. Dies hat die Welt unserer Tage gesehen, diesen Beweis ihrer Macht hat die Menschheit sich selbst erbracht, in einem nicht nur noch nie dagewesenen Ausmaß, sondern auch in einer Radikalität, daß den Menschen dabei schon der Schwindel erfaßt, daß ihm schon fast schlecht wird, wenn er an die Höhe denkt, bis zu der ihn die Spirale der Akkumulation der vielen geistigen Leistungen, welche in den Produkten Gestalt angenommen hat, hinaufgetragen hat. Er hat Angst, daß er von dieser Höhe wieder hinunterfallen könnte, speziell wenn er das sogenannte Umweltproblem bedenkt. Er fürchtet sich davor, daß die ganze Zivilisation einen Punkt erreichen könnte, wo das Ganze sich seiner Herrschaft entzieht, wo ein kleiner Fehler genügt, um eine riesige Katastrophe auszulösen, gegen welche alle bisherigen Katastrophen noch ein harmloses Vorspiel gewesen sein könnten. Aber er läßt sich durch solche gelegentliche kleine Katzenjammer-Stimmungen nicht beirren, er reagiert diese rasch damit ab, daß er sich Unterhaltung sucht, damit er sich in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten geborgen fühlt, die ja offenbar alle auch zwar manchmal daran denken, daß etwas ziemlich schief laufen könnte, aber dennoch in aller Ruhe ihr Dasein genießen.

Man hat den Eindruck, daß es keine Bremsen gibt, welche unsere Fahrt ins Ungewisse aufhalten könnten. Es besteht sogar der begründete Verdacht, daß sich der Mensch an seiner Macht gleichsam berauscht, daß er süchtig danach wurde, immer neue Bestätigungen dessen zu erhalten, wie großartig er doch eigentlich sei. Dahinter steht, falls diese These wirklich zutrifft, eine innere Leere, welche aber durch die berauschende Fülle von Äußerlichkeit übertönt und übertüncht werden soll. Er hat möglicherweise vor etwas Unbestimmten Angst, vielleicht vor dem manchmal geahnten Problem, daß er gar nicht allein der Herr über all die Dinge ist, die er sich geschaffen hat.

Auf welche Weise herrscht der Mensch? Der erste Schritt scheint zu sein, daß er die Welt einteilt. Es gibt Vergangenheit und Zukunft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und Möglichkeit, Kraft und Leistung, Stoff und Energie, Flüssiges und Festes, Hartes und Weiches, Natur und Kultur, Ganzheit und Teile wie Steine, Holz etc. etc. Der zweite Schritt scheint danach darin zu bestehen, daß er die verschiedenen Teile, in welche er die Welt zerlegt hat, in neuer Weise kombiniert. Dies begann wohl mit der Verwendung von Steinen, aber auch Holzstäben, welche er von Bäumen brach und sie als Werkzeug verwendete; es setzte sich vielleicht fort in der Bearbeitung der Form der Steine, indem er sie mit anderen schlug etc. Wesentlich dabei war aber auch von Anfang an die Koordination der Tätigkeit vieler Einzelpersonen, was wahrscheinlich eine größere Machtsteigerung ergab als die oben beschriebene Vorgangsweise, welche der Mensch auch als Einzelner vornehmen konnte. Wie wir heute feststellen können, gab es bereits in der Steinzeit an vielen Stellen der Erde unabhängig voneinander die Tendenz, riesige Steine von ihrer Stelle weg- und an einen bestimmten Ort in gegliederter Form hinzubefördern.

Dabei zeigte sich mehr als bei anderen Vorkehrungen eine geistige Kraft des Menschen, die seine kühnsten Erwartungen übertraf. Solange es sich nur um die Jagd handelte, mochte ihm der Unterschied zu einer Horde wilder Tiere, etwa einem geordneten Rudel Wölfe, noch nicht so klar bewußt gewesen sein, ebenso bei der Errichtung von Hütten, weil doch auch Vögel ihre Nester bauen, Bienen ihre Waben und Ameisen ihre Haufen; aber bei der Fähigkeit, einen geordneten Kreis von Riesensteinen aufzustellen, wobei diese Aufwendung der äußersten Kräfte gemäß den konkreten Lebensbedingungen eigentlich übertrieben und nutzlos scheinen mußte, dies war etwas, das ihn abhob von den anderen Lebewesen. Hinter die scheinbare Nutzlosigkeit erwuchs ihm ein echter, größerer Vorteil als aller direkt vital verwertbare Nutzen. Er erfuhr und bestätigte so die Evidenz der geistigen Macht, welche er freilich als eine über ihm stehende verstand. Der Impuls dazu wurde wohl visionär und gleichsam magisch als einer von oben erlebt, der Vollzug dessen noch viel mehr. Erst recht war das Ergebnis jenes Vollzugs, der die kühnsten Erwartungen übertraf, die kaum überbietbare Bestätigung der Evidenz jenes Geistes, der über den Dingen herrscht. Ohne eine bereits vorher bestehende Evidenz Gottes wäre es nicht zu den ersten gemeinschaftlichen Handlungen gekommen, welche erst im Vollzug den eigenen reflexiven Vollzug im denkenden Einzelmenschen und seiner die Gedanken austauschenden Gemeinschaft zur vernunftmäßigen Entwicklung kommen lassen konnte. Hier stellte er sich über die vorgegebene Ordnung der Dinge, er schuf etwas, das weniger seiner geistigen Macht (die ihm erst allmählich dämmerte), sondern seiner Verbindung zur Welt der Götter ein Denkmal sein sollte. Dies war ihm und seinesgleichen die beste Pilgerstätte.

An jenem Ort versammelten sich alle die, welche sich in ihren inneren Seelenwelten und dem daraus abgeleiteten gemeinsamen Handeln miteinander als Einheit erlebt hatten, als sie oder ihre Vorfahren dieses Werk hervorgebracht hatten. Indem sie sich versammelten, erfuhren sie stets aufs neue meditativ, aber auch in der Form der demonstratio ad oculos, die Bedeutung ihrer Götterwelt. Sie erlebten die Steinmale als Werk, das ihnen von jenen Göttern, die sie da verehrten, in Auftrag gegeben worden war, also eigentlich als deren Werk. Ihr Gott war daher darin anwesend. Auch christliche Kirchenbauten wurden noch bis in unsere Zeit immer wieder mit einem direkten Auftrag aus der Welt der Himmlischen motiviert – und gerade ihre Form überstieg mehr noch als die rohen Steine der früheren Kultur die Vorstellungskraft der Einzelpersonen, welche da ihre Tiere hüteten, Pflanzen pflegten, ihre oft sehr bescheidenen Häuser bauten, der Kälte trotzten und das Feuer zähmten. Was haben sie da Großartiges geschaffen, etwa in jener Bergkirche, die an der Stelle stand, wo früher ein bescheidener Opferstein gestanden ist? Allein der Transport der Baumaterialien mit bescheidenen Mitteln nach oben war schon eine faszinierende Leistung, wie sehr faszinierte erst der Bau. Wien war damals, als der Stephansdom errichtet worden war, noch eine überschaubare Ansammlung einiger Bürgerhäuser und Hütten, kleiner als unser heutiger Bezirk Innere Stadt, wenngleich hier freilich mehr Menschen zusammenlebten als heute auf ähnlichem Raum. Bereits ein größeres Landstädtchen wäre in heutiger Zeit mit dem Wien von damals an Einwohnerzahl vergleichbar – und welche Leistung wurde da vollbracht, noch dazu gemessen an den damals bescheidenen technischen Möglichkeiten!

Das Motiv stand in Beziehung zur Bedeutung, die dieses Werk für das Selbstbewußtsein hatte: Den Göttern näher zu sein. Nicht nur deshalb war es so wichtig, weil es für einen Tempel Gottes gehalten wurde, nachdem ein Priester dies so verlangte, sondern weil jeder Betroffene selbst von der Macht des Geistes betroffen war, also von der Bedeutung jener Dimension in ihm selbst, die ihn mit dem Göttlichen auf eine ähnliche Stufe stellte: Die Bedeutung der Schaffenskraft. Gott ist der Schöpfer, der die Welt und uns selber schuf, der uns aber auch diese Kraft gab, ihm ähnlich zu werden. Wie jene Menschen unmittelbar, so können wir jene Macht auch weiterhin besitzen, welche schon unsere Vorfahren dazu befähigte, dieses oder jenes Bauwerk zu errichten, nur wenn wir diese Dimension weiter pflegen. Es sind die Götter für die einen, es ist der eine Gott für die anderen Religionen, welcher der Inbegriff jener Macht des Geistes ist, die auch in unserem eigenen Schaffen zum Ausdruck kommt.

Dieses Schaffen wurde im Wachstum des menschlichen Geistes vom vormodernen zum heutigen wissenschaftlich-aufgeklärten Menschen stetig gesteigert, bis die Naturbeherrschung anders, und zwar nur mehr methodisch, interpretiert wurde. Nachdem sie bereits gleichsam zur Selbstverständlichkeit geworden war, wurde die darin dokumentierte geistige Macht selber und die Frage des Woher und Wozu immer weniger bewußt und allmählich überhaupt nicht mehr gestellt. Dies ist aber auch der erste Schritt zum Verblassen der geistigen Kräfte, bis hin zur Abschaffung ihrer selbst. Denn sobald das Bewußtsein seiner selbst nicht mehr eingedenk ist, sondern es gleichsam bloß als eine Art Exkrement des biologischen Gehirns deutet, dann wird die Schöpfung jenes menschlichen Geistes bald tatsächlich auf die Produktion von Exkrementen reduziert: Nämlich von Exkrementen der ökologischen Fehlgriffe, die unsere Umwelt verschmutzen, die buchstäblich zu stinken beginnen und unseren Lebensraum krank und häßlich machen, sodaß wir, wenn wir uns des Lebens freuen wollen, in eigene Reservate der Freizeitindustrie flüchten müssen, welche wir weitgehend sauber halten, und indem wir sowohl unser Empfinden als auch unser Verhalten auch so umstellen, daß wir die Häßlichkeiten nicht mehr als störend empfinden.

Wir leben in einer Welt, die ursprünglich einer geistigen Ordnung gehorchte, der auch wir selbst unser Dasein verdanken. Diese Ordnung des Geistes ist heute nicht mehr evident, wir scheinen sie aus dem Blickfeld verloren zu haben. Wenn wir von geistigen Ordnungen reden, dann meinen wir nur mehr solche methodischer Art, solche des technischen Vorgehens, also vor allem des formal-logischen Urteilens und mathematischen Planens. Logik und Mathematik wurden also der Technik untergeordnet, sie sind es nicht von Anfang an. Aber das Ziel des gesamten Vorgehens ist uns aus dem Blick geraten. Dabei ist nicht primär der böse Wille dafür verantwortlich, sondern die fortgeschrittene Entwicklungsstufe hat den Überblick erschwert und schließlich so gut wie unmöglich gemacht. Wer weiß denn heute wirklich, was da in allem zusammen wirklich vorgeht? Die Menschen kennen nicht einmal mehr die Grundlagen des technischen Vorgehens, sobald es deren eigenen Fachbereich übersteigt. Wir stellen aber auch gar nicht mehr die Frage, was wir eigentlich und letztlich mit unserem Schaffen und Tun erreichen wollen. Wir wissen nicht einmal mehr, wer damit gemeint ist, wenn wir das Wort Wir verwenden. Wenn wir sagen, wir verschmutzen die Welt, dann zeigt sich bereits, daß nicht nur die Verantwortlichkeit, sondern auch das Bewußtsein dafür unterschiedlich verteilt ist.

Unser kollektives Bewußtsein, welches am Anfang der technischen Eroberung der Welt gestanden ist, ist uns ohne erkennbare Schuld einzelner Menschen aus dem Griff gekommen – wie sollen wir dann danach überhaupt die Frage erörtern, was wir alle gemeinsam denn tatsächlich und letztlich mit allem unseren Tun und Schaffen erstreben und erreichen wollen? Was ist der Sinn von allem? Die Frage taucht auf, seit die frühere Evidenz verloren ist.

Die Frage nach dem Sinn, auf die Viktor E. Frankl hingewiesen hat, scheint zwar heute wichtig, aber eher für jeden einzelnen Menschen privat und für sich, aber nicht für das Kollektiv der Menschheit. Wer oder was wäre denn die Instanz, diese Frage für die Menschheit als Ganze zu stellen - und sie zu beantworten? Der Sinn des privaten Lebens könnte ja auch so verstanden werden, sich aus dem Ganzen herauszureißen und die Welt neben sich untergehen zu lassen. Auch die Begriffe des kleinen und großen Fahrzeugs im Buddhismus könnten so verstanden werden: Mag die Welt in Flammen aufgehen, es kommt nur darauf an, ein Fahrzeug bereit zu stellen, um möglichst viele zu retten: Nicht ein kleines, sondern ein großes Fahrzeug ist daher nötig, sagte der Mahayana-Buddhismus.

Niemand will sich heute anmaßen, die Frage nach einem Sinn für alle Menschen zu berühren, wo noch dazu mutmaßlich klar ist, daß damit alle schon gegen diese Frage und erst recht gegen eine Antwort darauf protestieren werden. Denn da alle betroffen sind und solange die Interessen aller Menschen so beschaffen sind, daß jeder dazu neigt, nur sich selbst zum Zweck zu machen, wird die ganze Menschheit, so mag befürchtet werden, jede Vernetzung des Bewußtseins der Ernsthaftigkeit der Problemlage massiv unterdrücken. Solches beobachten wir etwa im Zusammenhang mit dem Wirtschaften, dem Recht und der Politik. Dabei ist auch der Widerstand noch nicht genügend groß, wenn ich die Anlage dieses Sinns als Ausdruck einer Ordnung des Geistes deute. Diese Ordnung des Geistes muß freilich bereits vor unserer eigenen langsamen Reifung des geistigen Lebens existiert haben, denn anders wäre die wohlgeordnete Schöpfung nicht da, welche wir erkennen können.

Die Evidenz Gottes hat aber zwei Seiten, die eine ist die eines persönlichen Erlebnisses oder der persönlichen Erkenntnis, die andere die der gesellschaftlich-sprachlichen Mitteilbarkeit, durch welche man erst den anderen darauf hin weisen kann, ein Erlebnis oder eine Erkenntnis zu haben. Die Gesellschaft selbst filtert und interpretiert aber die Mittel der Kommunikation und prägt den Menschen so einen Stempel auf, der ihr Denken beeinflußt. Nicht der innerste Kern wird zwar beeinflußt, aber in der Form der Mitteilung verhüllt sich die Unmittelbarkeit, als Preis für die Aussagbarkeit dessen, was sich im innersten Kern des Menschen vollzieht.

Die frühen Gesellschaften hatten immer die Evidenz Gottes in ihrem sprachlichen Instrumentarium der Kommunikation aufbewahrt, allerdings auch dort in eine Form gegossen, welche den Gehalt doch auch veränderte. Denn die Gesellschaft lebt zwar aus ihren geistigen Quellen, aber sie vollzieht ihr Leben in politischen Bahnen einschließlich aller sonstigen Formen der Machtausübung. Durch die historischen Machtverhältnisse, so lautet meine These, wurde nun die Evidenz Gottes zwar nicht aufgehoben, aber verfälscht und damit ihr Wesen unkenntlich gemacht. An die Stelle der urspünglichen Evidenz trat die vergesellschaftete Meinung über die Evidenz.

Ich verstehe unter Macht nicht per se einen Mißbrauch (wie Jacob Burghardt sie versteht), auch nicht den Zwang als Wesen der Macht wie Max Weber oder Hans Kelsen, sondern eher wie Hannah Arendt eine im Grunde unverzichtbare Form gemeinschaftlichen Handelns, welche mißbrauchbar ist, aber den handelnden Einzelmenschen als eigentlichen Ursprung der Macht nicht aufhebt. Das Volk, so sagt sie, und ich ergänze, der Einzelne, bleibt immer irgendwie das Subjekt der Macht, auch wenn dessen Fokussierung in einem Machtträger faktisch erst Macht praktisch anwendbar macht. Machtträger können Macht mißbrauchen, aber Hegel sagt auch richtig, nur der könne zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will. Im Widerstand gegen Hitler und Stalin haben sich vor allem Einzelmenschen bewährt, weil die erzwungene Kollektivierung des Bewußtseins kaum eine andere Wahl offen ließ.

Aber das Kollektiv hatte in der archaischen Periode der Entwicklung des menschlichen Geistes wohl eine viel stärkere Kraft als wir es heute sehen: Alle jene Tätigkeiten, durch welche die Menschen sich ihrer geistigen Fähigkeit sichtlich schrittweise bewußt werden konnten, wurden ja im Kollektiv vollzogen; und im Kollektiv gibt es und gab es freilich auch Hierarchien. Wenn nun die Oberen ein Ziel setzten und es als Willen Gottes ausgaben, haben Menschen, welche schon vorher den Weg der Evidenzerhellung im gemeinschaftlichen Vollzug positiv erfahren haben, bereitwillig mitgetan, auch falls es sich um Akte handelte, welche sie nicht ursprünglich als göttlich gewollt erlebt hätten. Freilich war damit der Weg zur Mißbrauchbarkeit der Rede von Gott geebnet.

Vor allem Kriege spielten bei dieser Verfälschung der ursprünglichen Evident Gottes eine wichtige Rolle: Raubzüge, die im Sinne eines echten Gottesverständnisses mit dem Willen Gottes ja gänzlich unvereinbar sind, lassen sich von den Oberen bisweilen gut als gottgewollt ausgeben, weil sich damit im Denken der Untergebenen auch die Seite der eigenen „Raubtierseele“ ansprechen ließ. Ich bin überzeugt, daß archaische Gesellschaften häufig von solchen Versuchungen zu Raubzügen überwältigt wurden. Aber auch im Schutz dagegen hatten sich die weniger kriegerischen Gemeinschaften kriegerisch zu üben und die Unterdrückung des Menschen wurde so, wiewohl sie zutiefst schlecht ist, in Verkehrung der friedensgemäßen Wahrheit über Gott als angeblich göttlich geboten angesehen.

Die Gemeinschaften hatten zunächst alle ihren eigenen, separaten Gott oder ihre Götterversammlung, der sie treu dienten. Manche Völker haben ihre Selbstbezeichnung von der Gottheit abgeleitet, der sie dienten, auch wenn inhaltlich und sogar sprachlich die Übergänge fließend waren. So dienten die germanischen Teu-tonen dem Teu (Diu), einem Wort, das mit dem lateinischen Deus und griechischen Theos verwandt ist. Davon leitet sich auch die Bezeichnung „deutsch“ ab und der Gott Diu findet sich auch in der Bezeichnung des Wochentags Diens-Tag wieder. Ich halte es für wahrscheinlich, daß analog dazu auch die Selbstbezeichnung der Goten mit dem Wort „Gott“ zusammenhängt. Diese Bedeutung ist freilich völlig verloren gegangen, nur Nietzsche hat einmal darauf hingewiesen und gescholten, die Deutschen sollten sich doch endlich wieder als jene Heiden verstehen, die sie nach ihrer Namensgebung seien.

Die klassische Denkweise der Griechen und Juden, aber auch der Europäer und Orientalen schlechthin ging von einer Evidenz der Götter aus, welche keines Beweises bedurft hatte. Die Juden unterschieden sich von den Nachbarn darin, daß ihnen nur der einzige Gott evident war, während die anderen, teils anthropomorph vorgestellten Götter nur Vorstellungen der Nachbarvölker seien. Die Griechen wieder brachten die Philosophie ins Spiel, sie bezweifelten die Götterwelt, aber nicht den einen Gott, sie fragten nach dem Gott aller Menschen. Sokrates (und mit ihm Plato) und Aristoteles schufen die Wegmarken der neuen Denkweise, welche zusammen mit der jüdischen Tradition die Grundlage des abendländischen Denkens über Gott bildeten.

So gab es also zur Zeit Christi Geburt eigentlich zumindest vier Gottesvorstellungen: Die beiden religiösen, nämlich die tendenziell anthropomorphe (des Morgen- und Abendlandes) und die jüdisch-monotheistische; und die beiden philosophischen, nämlich die, den Mythos über die Gottheiten von der Seele her aufhebende, Anschauung bei Sokrates und Plato und die andere, den Mythos von außen, im Blick auf den Kosmos aufhebende, metaphysische Anschauung des Aristoteles. Die Aufhebung verstehe ich dabei im Sinne des Begriffs bei Hegel, also nicht als Absage (Aufgeben), sondern Wandlung (geläuterte Erhaltung und Erhöhung).

Für das frühe Christentum ist die Person Jesu Christi die Schlüsselstelle zur Versöhnung dieser vier Positionen. Wichtig ist vor allem die Verbindung von religiöser und philosophischer Position. Der Gottmensch Jesus Christus überwindet die Vorstellung von den Menschengottheiten der Antike und löst sie ab, indem das gewachsene Verständnis von Religion nicht durch die philosophische Kritik an den anthropomorphen Göttern bloß aufgegeben wird, sondern zugleich im Blick auf Jesus den Gottessohn eine neue Würde erhält, weil die neue Sichtweise - den philosophischen Ansprüchen gemäß- der sich langsam bildenden neuen Meinung besser genügte als die alte Götterwelt. Denn in den frühen Gottheiten spiegelte sich noch der Mensch in seiner rohen Gestalt, christlich gesprochen als Sünder, aber in Christus wird Gott sichtbar, wie er sich von den sündhaften Menschen unterscheidet, aber auch den (später "humanistisch" genannten) Ansprüchen der großen Philosophen nicht nur entspricht, sondern diese überbietet: Der "menschliche" Gott ist die Liebe.

Der Universalitätsanspruch des Monotheismus aus der jüdischen Tradition überwindet die Unvereinbarkeit der partikular zuständigen, in Konflikten zueinander stehenden Gottheiten gemäß der hellenistischen Welt und findet schon vor dem Christentum durch Philo von Alexandrien zunehmend Akzeptant bei philosophisch interessierten Hellenisten. Eine neu und tiefer erfahrbar werdende philosophische Evidenz des Vorzugs der Ethik gegenüber der Willkür findet seit der faszinierenden Beispielwirkung Jesu eine Einheit mit der tradierten religiösen Evidenz des Göttlichen, nicht nur im Judentum, sondern auch in römisch-griechischen, philosophisch geprägten Umfeld. Das geschichtlich wirksam gewordene Verbindungsglied zwischen den Welten der Religion und der Vernunft ist also Jesus Christus, der als Brücke zwischen beiden, als Einheit von Gott und Mensch gesehen wird.

Seit der konstantinischen Wende wollte niemand mehr diese Brückenfunktion missen, sie wurde zum Inbegriff der neu gefundenen Evidenz Gottes, welche zugleich zu einer neuen Evidenz des ethisch Guten wurde; aber doch gab es unterschiedliche Meinungen, wie die Verbindung und Vermischung zwischen beiden konkret zu beschreiben sei. Es entstehen die Diskussionen über die göttliche und menschliche Natur Jesu, worin die Verbindung der göttlichen und ethisch-menschlichen Dimension in Jesus, dem Inbegriff dieser neuen „fleischgewordenen“ Evidenz Gottes, ihre doch weiterhin unterschiedlichen Deutungen und Ausprägungen finden will. Der Streit legte sich eigentlich nicht durch die (mehr oder weniger glücklich) gefundene, politisch funktionale und für theologisch optimal gehaltene Form des Ausdrucks, auch nicht durch deren autoritative und mit Zwang verbundene Deklarationen, sondern erst durch jenen religiösen, soziologisch spontanen Zusammenhalt, welcher alsbald im Zuge der Kriegswirren der Völkerwanderungszeit notwendig wurde. Erst heute glätteten sich die Wogen der Kontroversen endgültig.

Das römische Reich, welches eine politische Einheit und einen relativen Frieden garantierte, war mit der kriegerischen Völkerwanderung verloren und zugleich verunmöglichte die Dringlichkeit der konkreten Lebensprobleme die philosophische Vertiefung. So kam es erst langsam zu einer Konsolidierung, welche nicht ohne eine solche im politischen Bereich möglich war, wobei allmählich das Frankenreich, ein bisher eher wenig maßgeblicher Raum der früheren Welt, eine tonangebende Rolle einnahm.

Thomas von Aquin formuliert in Paris eine für seine Zeit ungewöhnliche, aber lange Zeit das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmende Formel der Versöhnung, wobei die Bedeutung der göttlichen Person Jesu mit jener der aristotelischen Philosophie eine Verbindung eingeht. In völlig neuer Weise wird damit die Philosophie wieder als eigener Bereich neben dem der Religion gewürdigt. Was göttlich ist, ist vernünftig, und was vernünftig ist, ist göttlich, so könnte man die Position von Thomas – in Abwandlung eines Wortes von Hegel – formulieren. Jesus hat nach Augustinus auch den Weg zur Vernunft eröffnet und Aristoteles auch den Weg der Vernunft zu Gott. Beide Wege haben also ihre Bedeutung und Berechtigung, sie ergänzen einander. Die Nahtstelle zwischen der göttlichen und der menschlich-philosophischen Welt findet Thomas in den Gottesbeweisen, wo er Aristoteles schöpferisch weiter interpretiert, um auch die vom Christentum gelehrten Aspekte Gottes aus der Sichtweise aristotelisch-philosophischen Denkens so gut er kann einzubeziehen. Gott ist der All-Bewirker, ist ens realissimum, die allerwirklichste Wirklichkeit. Insgesamt legte Thomas damit fünf Aspekte des Umgangs mit Religionskritik vor und legte dar, Gott könne so philosophisch bewiesen werden.

Eine gewisse Religionskritik war in der scholastischen Methode ein implizites Argument, um gegen diese die Vernunftgemäßheit des Glaubens an Gott zu belegen. Wenn die philosophische Zugangsweise zwei Traditionen kannte, die platonische und die aristotelische, so hat auch die platonische - wie hier die aristotelische - Tradition auch Aspekte der Religionskritik nach Europa transportiert, wenngleich nur mittelbar in der Form ihrer Überwindung. Auch Sokrates wurde ja der Gottlosigkeit angeklagt und widerlegte diesen Vorwurf; seine Argumente für Gott sind freilich anders als die des Aristoteles. Es geht Plato bei der Schilderung der Verteidigung des Sokrates nicht darum, gleichsam darzulegen, daß Gott philosophisch gesehen notwendig existiert, sondern daß der große Sokrates, entgegen der gegen ihn gerichteten Anklage, an Gott glaubte. Er läßt Sokrates darlegen, daß er weder das Göttliche leugne, da er sich von einem Daimonion (als Gewissen, aber auch also ein Gott zu verstehen) geführt verstehe, noch daß er der herkömmlichen Religionsausübung untreu geworden sei, da er immerhin das Orakel bezüglich seines „inkriminierten“ Weges befragt habe. Die Parallele des Todesurteils gegen Sokrates und Jesus ohne tatsächliche Schuld war immer auch ein Brückenpfeiler zwischen Philosophie und christlicher Religion.

Im christlich-abendländischen Geistesleben hatte die Religionskritik also ursprünglich die Rolle der angesichts dieser möglich gewordenen vernünftigen Rechtfertigung und Verteidigung des christlichen Glaubens; aber die Religionskritik barg in sich letztlich auch ein Potential, sich von dieser Rolle los zu reißen und zu verselbständigen, was zu der für das Abendland typisch Form der negatorischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Gott führte. Bezüglich der dabei angewandten Ausdrucksform trug aber auch eine Besonderheit des Christusglaubens bei: War doch Jesus einer, der dem Spott ausgesetzt gewesen ist. Der Gott Jesu Christi vergibt den Sündern, also wohl auch den Spöttern; Jesus vergab ja sogar jenen, die ihn töteten. Den Spott auf den Punkt bringend könnte man also gewissermaßen frevlerisch gesagt haben: Wenn es wahr ist, daß Gott uns alle gern hat, dann kann er uns doch allesamt gern haben! Spott gegen Gott und die Götter hat es immer auch gegeben, aber kaum war dieser anderswo so bitter wie im gegnerischen Umfeld des Christentums. Dabei hatte die negatorische Auseinandersetzung mit Gott eigentlich zwei völlig unterschiedliche Zielrichtungen: Die eine war, den Spott damit auf die Spitze zu treiben – die andere aber, sich selbst (und vielleicht auch „seinen“ Gott?) auf diesem Wege dem Angriff des Spottes zu entziehen. Im Mittelalter schwelte diese zweideutige Eigentümlichkeit zwar noch im Untergrund, sie war aber immer präsent.

Eine Besonderheit des Christentums ist übrigens auch die Tendenz der Gläubigen zu einer zweifelnden Haltung gegenüber der weltlichen Macht. Das Christentum verbreitete sich anfangs eher unter den Minderprivilegierten und weniger innerhalb der Eliten. Dies war den einen ein Beweis für die Güte des Christentums, anderen aber, speziell wenn sie sich in der Führung des Gemeinwesens betätigen wollten, eine ständige Verunsicherung, ja eine Infragestellung ihrer Existenzberechtigung. Clemens von Alexandrien schrieb ein Buch: Welcher Reiche kann gerettet werden, was freilich insinuiert, daß es eben schwer sei, als Christ zur Geld- und Machtelite zu gehören. Innerhalb der Elite wurden daher auch gerne religionskritische Töne laut, wie schon Augustinus berichtete. In der abendländischen Kultur kam es nun allmählich doch wieder zu einer Anhebung des wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Niveaus einer größeren Schichte, welche bisher keine vorgezeichnete Rolle in Gemeinwesen hatte: Das Bürgertum, welches einerseits von der tatsächlichen Macht ausgeschlossen, andererseits aber doch Elite war. Ob aus dem Adel oder aus dem einfachen Volk hervor gewachsen, so zeichnete sich diese neue Schichte zunehmend durch ihre wirtschaftliche und intellektuelle Potenz gegenüber der Gesamtgesellschaft ab. Voltaire, der sehr reich war, beklagte sich, das Christentum sei ja einseitig nur für die Armen.

Diese neue Elite war auch die neuen Träger jener Religionskritik, welche, gemeinsam mit deren bildungsmäßiger Brillanz, den Grundstock für die Entwicklung der Aufklärung bildeten. Ihr Motiv war zugleich die Kritik an der weltlichen Macht und das Streben danach. Die herkömmliche Macht wurde – nicht zu recht – als Ausdruck des Christentums gedeutet. Freilich hatte die alte Gesellschaft das Christentum als Mittel zur Machterhaltung gedeutet, aber die Eigenständigkeit des Christentums wies immer über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf deren mögliche Verbesserung. Immerhin war es durch die Identifikation von Religion und Macht möglich, die Religionskritik mit der Machtkritik auf einen Nenner zu bringen.

Einerseits lag gerade in der Kritik an der weltlichen Macht eine Kontinuität der Tradition des Christentums im Volksverständnis, andererseits wurde der Versuch gemacht, die Macht auf eine neue Basis zu stellen. Dies bedeutete für das Bürgertum, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu ändern, daß deren eigene Machtausübung möglich war, andererseits aber auch, an die Stelle des Christentums eine andere Quelle der Rechtfertigung der Macht zu stellen: Die Vernunft. So geschah es, daß die bisherige Einheit von Vernunft und Religion, welche bei aller damit dennoch verbundenen Problematik doch immerhin eine beachtliche Höherentwicklung des europäischen Geistes in Gang zu setzen vermochte, nun zerrissen wurde.

Entwicklung ist freilich immer auch mit Entzweiung verbunden. Dies war auch schon zu jener Zeit der Fall, als Vernunft und Religion noch in relativer Einheit waren. Wichtig ist aber, daß die Entzweiung wieder aufgehoben werden kann, weil sie sonst die Gesamtheit zerstört und Unfrieden bringt. So waren tatsächlich die Kriege der Neuzeit insgesamt folglich noch zerstörerischer als jene des „finsteren“ Mittelalters. Die Voraussetzung für die Zerstörungskraft war dabei die neue Rationalität des Tötens, die industrielle Entwicklung von immer gefährlicheren Waffen. Während das Mittelalter in sonstiger Hinsicht sehr viele Fortschritte machte, (sagte einst Friedrich Engels), gab es hinsichtlich der militärischen Kampfstrategie vergleichsweise eher einen Stillstand. Nicht nur in den Künsten ist aus heutiger Sicht der Fortschritt zu jener Zeit beachtlich, sondern auch in den Wissenschaften, wiewohl auch der Durchbruch erst nach dem Ende des Mittelalters gelang. Der Dreißigjährige Krieg und letztlich die napoleonischen Kriege brachten jene neue expansive Militarisierung Europas, welche nach dem weltumspannenden Kolonialismus die Epoche der Weltkriege und der Totalitarismen erst ermöglichte. Das Ende der alten Einheit des Christentums und die Aufklärung wirkten sich so gesehen hinsichtlich der Kriege zunächst eher aktivierend als hemmend aus.

Immanuel Kant ist der Vollender und Überwinder der Aufklärung. Er widerlegt die Gottesbeweise, aber nicht Gott; er verwirft aber auch die Kriegsverherrlichung und stellt das Ziel eines „Reiches der reinen praktischen Vernunft“ in Aussicht, offenbar bewußt in Anlehnung an die christlichen Tradition, wenngleich – neben der herkömmlichen Form –  auch in säkularer Ausdrucksweise.

Kant bemühte sich, den Glauben an Gott auf die Basis des von ihm empfohlenen moralischen Gottesbeweises zu stellen. Das wurde oft nicht für gut geheißen. Die Atheisten stießen sich daran und meinten, er sei hier der Aufklärung untreu, die Religiösen wieder beklagten, daß diese Begründung Gottes zu schwach sei. In Wirklichkeit könnte er aber einfach die Evidenz Gottes so mit der Vernunft in Einklang zu bringen versucht haben, ohne die üblichen Gottesbeweise anerkennen zu müssen.

Dafür spricht einiges, unter anderem Kants Versuch, die Theodizeefrage in neuer Weise zu beantworten. Alle bisherigen Versuche seien gescheitert, schrieb er, weil sie nicht die authentische Position eingenommen hätten. Nur im Gewissen ist der Mensch authentisch, nur hier spricht Gott selbst (wenn überhaupt) zum einzelnen Menschen, der ja bei der bloß einseitigen (anmaßenden) Anklage Gottes durch den Menschen gar nicht zur Sprache kommen kann. Der in einem alttestamentarischen Buch beschriebene Hiob habe, so sagt Kant, seine übermäßigen Leiden nur deshalb ertragen und mit dem Glauben an Gott letztlich doch noch für vereinbar sehen können, weil er sich moralisch (vom Gewissen her) dazu entschieden habe, am Glauben an Gott fest zu halten. Wie aber, so muß man fragen, hätte er dies tun können, wenn nicht Gott ihm (wiederum zumindest im Gewissen) evident gewesen wäre?

Ist nicht diese Evidenz Gottes der Sinn des Begriffes eines "transzendentalen Gottesbeweises", den man zur Beschreibung der Position Fichtes und anderer verwendet hat? Ist nicht schon bei Kant der Ansatz zu dieser Art einer „transzendentalen“ Denkweise wenigstens im Ansatz zu erkennen? Wenn Fichte in seiner auf Breitenwirkung seines Philosophierens abzielenden Schrift über die "Bestimmung des Menschen" im "Glauben" die Lösung der Probleme zwischen Zweifel und Wissen zu erkennen gibt, so bringt er zum Ausdruck, daß der Mensch nirgendwo so sehr Evidenz erlebt, weder in Betrachtung der sinnlichen Welt noch im Urteil über sein eigenes Dasein, wie in der Erkenntnis Gottes als Ausdruck seines Glaubens. Wir haben bei Kant vom Gewissen gesprochen und ich möchte hier auch die Sprache näher betrachten: Die „Gewißheit“ ist es, was wir nirgends so erleben, wie im Gewissen. Jenes Organ in uns, wo wir mit Gott so nahe verbunden sind, wie es uns nur überhaupt möglich ist, ist auch der Hort der höchstmöglichen Gewißheit innerhalb einer Welt voller Ungewißheiten.

Karl Jaspers, der vom „philosophischen Glauben“ spricht, expliziert damit eigentlich dies, das im Bereich der christlich-abendländischen Geistesgeschichte immer der Kern war: Die Einheit von Vernunft und Glauben. Wenn wir sie auch oft eingebüßt oder abgelegt haben, so können wie sie bisweilen in „Grenzsituationen“ wieder spüren: Angesichts von Leid, Tod und Schuld stehe ich unmittelbar vor dem Umgreifenden, hier bin ich mit Gott verbunden, hier ist meine Vernunft herausgefordert; entscheidet sich, wie ich künftig handeln werde.

Mir persönlich war Gott in gewisser Weise zwar immer evident, wenngleich ich mich trotzdem manchmal im Denken und Handeln von Gott entferne. Daher meine ich, daß die Evidenz immer wieder verschüttet wird, aber wieder aufgedeckt werden kann. Diese Aufdeckung sehe ich als den Sinn des Wortes Offenbarung an: Es wird wieder offenkundig, was eigentlich evident wäre, aber verschüttet war. Mir scheint, daß dies die Besonderheit Jesu Christi in seinem Leben, in der Lehre, aber auch in Leid, Tod und Auferstehung war. Daß Gott die Liebe sei, wurde durch ihn wieder evident. Und wenn ich als religiöser Christ an die Auferstehung glaube, bedeutet dies für mich, daß Er als Auferstandener auch meinen Weg immer neu zur Wiederauffindung der Evidenz Gottes begleitet und mich bei der Bewältigung dessen, sowie auch bei der Beseitigung der am Suchen behindernden Lasten des Lebens, behilflich sein will, ähnlich wie er zu Lebzeiten den Zeitgenossen behilflich war. Hier sehe ich eine Tiefe der Religion, welche nicht der Tiefe des Philosophierens im Wege sein kann, ebenso wenig wie umgekehrt die recht verstandene Philosophie dem Glauben widersprechen kann. Sobald nämlich Gott wirklich evident ist, dann durchzieht diese Evidenz auch das Philosophieren. Ohne diese Evidenz aber scheint sich die Philosophie im Geplätscher an der Oberfläche zu verlieren und in keine Tiefe der Erkenntnis vor zu dringen; zumindest sofern es uns um jene Tiefe im Sinne der Existenzbewältigung geht, welche bei Max Scheler als Heilswissen bezeichnet wird.

Ein so verstandener, evidenter Gott bedarf aber keines Beweises, ja die Frage nach einem Beweis könnte schon fast als Eingeständnis gelten, daß jemandem die Evidenz abhanden gekommen sei. Aber im Zweifelsfall kann der Beweis wenigstens eines: Er kann aufweisen, daß der Glaube an Gott wenigstens nicht der Vernunft widerspricht. Dies ist dem Glaubenden freilich doch zu wenig, solange daneben immer noch die Behauptung der Nichtexistenz Gottes einen ebenbürtigen Platz für sich beansprucht.

Kein Beweis Gottes auf rein philosophischer Ebene könnte einen existentiellen Widerstand gegen Gott wirklich auflösen. Aber  bewegt wird eigentlich der Mensch nicht primär durch die Vernunft, sondern nur durch etwas, das als Kraft erlebt werden kann. Denn die Vernunft ist eher wie ein Regelsystem, welches das Abgleiten des Denkens in Irrtümer – auch existentieller Art – verhindert, aber sie hat in sich allein noch keine motivierende Kraft. Eine solche motivierende Kraft erlebe ich allemal sowohl in den nicht zu verachtenden Gefühlen, als auch (und vor allem) im Glauben! Daher ist die Philosophie gut beraten, auch den Glauben mehr zu thematisieren. Glaube und Religion, dies sind Kräfte, welche den Menschen bewegen können; so kommt der Mensch mit Gott in Verbindung und die Philosophie kann danach beschreiben, worum es sich dabei handelt und ob bzw. wie dies mit der Vernunft im Einklang zu sehen ist. Wenn uns dies wieder gelingt, dann ist der Geist des Menschen wieder bei sich und der Mensch ist wieder ein Wesen, das selber über sich bestimmen kann und sein Denken nicht als bloßes Exsudat des Gehirns abtut. Wenn aber der Mensch in diesem Sinne seines Geistes mächtig ist, dann ist er auch in besonderer Weise praktisch tätig am Aufbau jener Welt, welche uns für menschenwürdig gilt. Eine solche Tätigkeit konnte von Fichte, Hegel und anderen als Wirken für das Kommen des Reiches Gottes interpretiert werden. Wir können es auch als unser Bemühen um eine humanere Welt bezeichnen.

Offenbarung verstehe ich also im philosophischen Sinn als die Wiedererkennbarkeit der Evidenz Gottes, welche religiös als von ihm selbst gewirkt verstanden wird; einer Evidenz Gottes, das heißt, daß sie mit der Erhellung der den Menschen wirklich adäquaten Denkweise verbunden ist. Wenn der Mensch zu den Gesetzen des rechten Denkens (Logik) und des rechten Handelns (Ethik) vorstößt, dann ist ihm die Evidenz Gottes wieder offenbar geworden. Eine mögliche Wiederentdeckung der Evidenz Gottes führt zur Genesung der Gesellschaft, welche durch Kriege und Unrecht krank wurde, und der Einzelpersonen, die anders den Blick auf den Sinn des Ganzen verloren haben. Wenn der Sinn wirklich wieder evident wird, dann wird er aber nicht nur im Einzelnen, sondern letztlich unter allen neu verstehbar und kommunizierbar. Humanisierung, Friede und echter Dialog zwischen unterschiedlichen religiösen Positionen wird umso eher möglich, als die Güte Gottes evident wird.

Eigentlich kann es ein Vertrauen auf Gott erst dann geben, wenn er als ein guter Gott in der Tiefe unseres Bewußtseins als evident erlebt wird; und doch scheint die Vertrauenswürdigkeit Gottes gleichsam untrennbar zur Evidenz Gottes zu gehören. Menschen aller Völker wenden sich an Gottheiten mit ihren Anliegen und zeugen damit, daß sie diesen zutrauen, ihnen helfen zu können. Und doch zeigt die biblische Geschichte vom Sündenfall Adams das Mißtrauen gegen Gott, weil nur dann der „Einflüsterung“ nachgegeben werden konnte, welche lautete, Gott wolle nicht haben, daß der Mensch wie er selbst werde, wenn das Urvertrauen zu Gott unsicher wurde. Dies ist wohl unser Problem als Menschen: So evident Gott für uns sein kann, so schwächlich und unbeständig ist unser Vertrauen auf ihn. Ist es einmal verloren, wie soll es wieder gefunden werden?

Gott ist gerecht, und deshalb mögen ihn manche – nicht. Ein Grund für unser mangelndes Vertrauen auf Gott liegt nämlich in dem, was wir „schlechtes Gewissen“ nennen. So sehr auch im Gewissen Gott zu uns sprechen kann und das Wort Gewissen auch mit Gewißheit zusammenhängt, ist der Mensch in seiner Freiheit doch auch imstande, sich dem Gewissen zu widersetzen. Was als wirklich gewiß im Menschen verankert ist, von dem ist es nicht verwunderlich, daß es sich wieder zurück meldet, wie sehr es auch verdrängt und als unpassend bekämpft wird. Denn zur Evidenz Gottes gehört auch das Bild von der Gerechtigkeit Gottes. Gott ist gut und gerecht. Wenn er aber gerecht ist, dann wird er, so fürchtet sich derjenige, der sich gegen sein Gewissen stellte, ihn dafür bestrafen.

Der Begriff schlechtes Gewissen ist ein Synonym für ein strafendes Gewissen; aber es ist nicht nur ein strafendes Gewissen, sondern, wie ja das Wort schlecht auch genau betrachtet aussagt, ein verdorbenes, schlecht funktionierendes Gewissen. Man flüchtet vor der befürchteten Strafe und flüchtet daher vor dem Gewissen. Ein schlechtes Gewissen führt den Menschen daher in die Irre, weil es ihn von der Evidenz des gütigen Gottes weg bringt und so noch weiter von Gott wegführen kann. Neben schlechten Erfahrungen mit den Mitmenschen und der Obrigkeit kann also auch die eigene Psyche schuld sein an dem Verlust der Evidenz Gottes. Aber wie kommt man wieder zur Evidenz, wenn man sie verloren hat?

Es gibt zwei Wege, meine ich, die einander ergänzen sollen: Das vernünftige Denken und die religiöse Versenkung, die mich beide Gott näher bringen (können). Religion hat nicht die Aufgabe, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen – das entsteht leider von selbst, sondern den Menschen vom schlechtem Gewissen richtig zu befreien, indem sie ihn zuerst das Faktum anerkennen läßt und langsam wieder das Gute in seinem Gewissen zu entdecken hilft: Nicht das Strafende, wie die verbreitete Meinung lautet, sondern die Eigenschaft des Gewissens, zum Guten hin zu lenken, macht eigentlich das Gewissen aus. Von den guten Vorbildern und der meditativen Selbsthilfe, die einen Menschen mit sich selbst wieder ins Reine bringen kann, bis zur Philosophie gibt es auch im Zwischenbereich mehrere Möglichkeiten, um zur Gotteserkenntnis zu gelangen.

Die Philosophie verstehe ich hier als rationalen Weg zu jener Erkenntnis, welche religiös im Gebet und in der Versenkung, im Mediationsweg erfahrbar ist. Gott ist als so evident erlebbar wie das Sein schlechthin, wie bei Jaspers mit den bei ihm beschriebenen Erfahrungen in Grenzsituationen klar wird. Er ist ja das Sein schlechthin, behaupte ich, und er gibt sich laut dem Buch Genesis folglich auch zu erkennen als der „Ich bin“, also die Fülle des Seins, die aber nicht apersonal verstanden werden kann, wie auch ich mich als Seiender nicht apersonal verstehen kann. Wenn das Sein umfassend ist, dann hat es freilich auch jenen Aspekt der Person zu besitzen, die auch ich als Seinender an mir feststellen kann: Ich bin. Der Gott als der Umfassende kann nicht ein Es, also bloß Sache sein, er kann nicht seins- und rangmäßig unter mir stehen, sondern muß als eine Fülle verstanden werden, die zweifellos weitaus größer, aber auch um nichts geringer ist als eine menschliche Person.

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