Erwin Bader:
Ist Gott evident?
Was ist eigentlich evident?
Das was wir mit eigenen Augen sehen? Es könnte eine Täuschung sein. Daß
wir
selbst existieren? Wir könnten bloß Schatten im Traumes eines anderen
Wesens
sein. Der Mensch scheint sich selbst evident zu sein, die ihn umgebende
Welt
ebenso, aber von einer Evidenz Gottes zu sprechen scheint dem Denken
der
modernen Zeit nicht leicht in den Sinn zu kommen. Ich möchte daher
einige
Gedanken über den Entwicklungsgang des menschlichen Geistes deutend
skizzieren,
um aufzuzeigen, wie wir diese Evidenz wieder in uns entdecken könnten.
Zuerst
möchte ich bloß mit der Darstellung einer theistischen Position
beginnen,
welche man fürs erste als eine Hypothese auffassen mag, wobei ich
annehme, daß
die Argumente, welche dafür sprechen, langsam den Vorzug jenes
Denkmodells
veranschaulichen werden. Dabei geht es mir um den Nachvollzug der
ursprünglichen, aber verlorenen Evidenz Gottes und dessen sich
historisch in
der christlichen Philosophie leise anbahnender Wiederentdeckung.
Der Mensch ist nicht nur
Materie, auch nicht nur ein Naturwesen wie andere auch, sondern er ragt
wie
sonst kein geschöpfliches Wesen in jene geistige Ordnung hinein, die
ihn mit
Gott verbindet. Gott ist Geist, und die Aufgabe der Religion besteht
darin, dem
Menschen zu helfen, seine Geistnatur zu erkennen, sich darin zu bewegen
und
dabei zu reifen, um vollkommen zu werden - gemäß einem Ausdruck von
Jesus - wie
unser Vater im Himmel. Der Mensch ist das schöpferische Geschöpf.
Als schöpferisches Wesen
beweist sich der Mensch seine Geistnatur, seine Fähigkeit, über der
Materie zu
stehen, also sich in einer anderen Dimension zu bewegen als alle andere
Schöpfung, die an ihre Geschöpflichkeit vollkommen gebunden ist. Er
allein ist
fähig, die Gestalt der Umwelt neu zu planen, sie sich untertan zu
machen. Dies
hat die Welt unserer Tage gesehen, diesen Beweis ihrer Macht hat die
Menschheit
sich selbst erbracht, in einem nicht nur noch nie dagewesenen Ausmaß,
sondern
auch in einer Radikalität, daß den Menschen dabei schon der Schwindel
erfaßt,
daß ihm schon fast schlecht wird, wenn er an die Höhe denkt, bis zu der
ihn die
Spirale der Akkumulation der vielen geistigen Leistungen, welche in den
Produkten Gestalt angenommen hat, hinaufgetragen hat. Er hat Angst, daß
er von
dieser Höhe wieder hinunterfallen könnte, speziell wenn er das
sogenannte
Umweltproblem bedenkt. Er fürchtet sich davor, daß die ganze
Zivilisation einen
Punkt erreichen könnte, wo das Ganze sich seiner Herrschaft entzieht,
wo ein
kleiner Fehler genügt, um eine riesige Katastrophe auszulösen, gegen
welche
alle bisherigen Katastrophen noch ein harmloses Vorspiel gewesen sein
könnten.
Aber er läßt sich durch solche gelegentliche kleine
Katzenjammer-Stimmungen
nicht beirren, er reagiert diese rasch damit ab, daß er sich
Unterhaltung
sucht, damit er sich in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten geborgen
fühlt,
die ja offenbar alle auch zwar manchmal daran denken, daß etwas
ziemlich schief
laufen könnte, aber dennoch in aller Ruhe ihr Dasein genießen.
Man hat den Eindruck, daß
es keine Bremsen gibt, welche unsere Fahrt ins Ungewisse aufhalten
könnten. Es
besteht sogar der begründete Verdacht, daß sich der Mensch an seiner
Macht
gleichsam berauscht, daß er süchtig danach wurde, immer neue
Bestätigungen dessen
zu erhalten, wie großartig er doch eigentlich sei. Dahinter steht,
falls diese
These wirklich zutrifft, eine innere Leere, welche aber durch die
berauschende
Fülle von Äußerlichkeit übertönt und übertüncht werden soll. Er hat
möglicherweise vor etwas Unbestimmten Angst, vielleicht vor dem
manchmal
geahnten Problem, daß er gar nicht allein der Herr über all die Dinge
ist, die
er sich geschaffen hat.
Auf welche Weise herrscht
der Mensch? Der erste Schritt scheint zu sein, daß er die Welt
einteilt. Es gibt
Vergangenheit und Zukunft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und
Möglichkeit, Kraft
und Leistung, Stoff und Energie, Flüssiges und Festes, Hartes und
Weiches,
Natur und Kultur, Ganzheit und Teile wie Steine, Holz etc. etc. Der
zweite Schritt scheint
danach
darin zu bestehen, daß er die verschiedenen Teile, in welche er die
Welt
zerlegt hat, in neuer Weise kombiniert. Dies begann wohl mit der
Verwendung von
Steinen, aber auch Holzstäben, welche er von Bäumen brach und sie als
Werkzeug
verwendete; es setzte sich vielleicht fort in der Bearbeitung der Form
der
Steine, indem er sie mit anderen schlug etc. Wesentlich dabei war aber
auch von
Anfang an die Koordination der Tätigkeit vieler Einzelpersonen, was
wahrscheinlich eine größere Machtsteigerung ergab als die oben
beschriebene Vorgangsweise,
welche der Mensch auch als Einzelner vornehmen konnte. Wie wir heute
feststellen können, gab es bereits in der Steinzeit an vielen Stellen
der Erde
unabhängig voneinander die Tendenz, riesige Steine von ihrer Stelle
weg- und an
einen bestimmten Ort in gegliederter Form hinzubefördern.
Dabei zeigte sich mehr als
bei anderen Vorkehrungen eine geistige Kraft des Menschen, die seine
kühnsten
Erwartungen übertraf. Solange es sich nur um die Jagd handelte, mochte
ihm der
Unterschied zu einer Horde wilder Tiere, etwa einem geordneten Rudel
Wölfe,
noch nicht so klar bewußt gewesen sein, ebenso bei der Errichtung von
Hütten,
weil doch auch Vögel ihre Nester bauen, Bienen ihre Waben und Ameisen
ihre
Haufen; aber bei der Fähigkeit, einen geordneten Kreis von
Riesensteinen
aufzustellen, wobei diese Aufwendung der äußersten Kräfte gemäß den
konkreten
Lebensbedingungen eigentlich übertrieben und nutzlos scheinen mußte,
dies war
etwas, das ihn abhob von den anderen Lebewesen. Hinter die scheinbare
Nutzlosigkeit erwuchs ihm ein echter, größerer Vorteil als aller direkt
vital
verwertbare Nutzen. Er erfuhr und bestätigte so die Evidenz der
geistigen
Macht, welche er freilich als eine über ihm stehende verstand. Der
Impuls dazu
wurde wohl visionär und gleichsam magisch als einer von oben erlebt,
der
Vollzug dessen noch viel mehr. Erst recht war das Ergebnis jenes
Vollzugs, der
die kühnsten Erwartungen übertraf, die kaum überbietbare Bestätigung
der
Evidenz jenes Geistes, der über den Dingen herrscht. Ohne eine bereits
vorher
bestehende Evidenz Gottes wäre es nicht zu den ersten
gemeinschaftlichen
Handlungen gekommen, welche erst im Vollzug den eigenen reflexiven
Vollzug im
denkenden Einzelmenschen und seiner die Gedanken austauschenden
Gemeinschaft
zur vernunftmäßigen Entwicklung kommen lassen konnte. Hier stellte er
sich über
die vorgegebene Ordnung der Dinge, er schuf etwas, das weniger seiner
geistigen
Macht (die ihm erst allmählich dämmerte), sondern seiner Verbindung zur
Welt
der Götter ein Denkmal sein sollte. Dies war ihm und seinesgleichen die
beste
Pilgerstätte.
An jenem Ort versammelten
sich alle die, welche sich in ihren inneren Seelenwelten und dem daraus
abgeleiteten gemeinsamen Handeln miteinander als Einheit erlebt hatten,
als sie
oder ihre Vorfahren dieses Werk hervorgebracht hatten. Indem sie sich
versammelten, erfuhren sie stets aufs neue meditativ, aber auch in der
Form der
demonstratio ad oculos, die Bedeutung ihrer Götterwelt. Sie erlebten
die
Steinmale als Werk, das ihnen von jenen Göttern, die sie da verehrten,
in
Auftrag gegeben worden war, also eigentlich als deren Werk. Ihr Gott
war daher
darin anwesend. Auch christliche Kirchenbauten wurden noch bis in
unsere Zeit
immer wieder mit einem direkten Auftrag aus der Welt der Himmlischen
motiviert
– und gerade ihre Form überstieg mehr noch als die rohen Steine der
früheren
Kultur die Vorstellungskraft der Einzelpersonen, welche da ihre Tiere
hüteten,
Pflanzen pflegten, ihre oft sehr bescheidenen Häuser bauten, der Kälte
trotzten
und das Feuer zähmten. Was haben sie da Großartiges geschaffen, etwa in
jener
Bergkirche, die an der Stelle stand, wo früher ein bescheidener
Opferstein
gestanden ist? Allein der Transport der Baumaterialien mit bescheidenen
Mitteln
nach oben war schon eine faszinierende Leistung, wie sehr faszinierte
erst der
Bau. Wien war damals, als der Stephansdom errichtet worden war, noch
eine
überschaubare Ansammlung einiger Bürgerhäuser und Hütten, kleiner als
unser
heutiger Bezirk Innere Stadt, wenngleich hier freilich mehr Menschen
zusammenlebten
als heute auf ähnlichem Raum. Bereits ein größeres Landstädtchen wäre
in
heutiger Zeit mit dem Wien von damals an Einwohnerzahl vergleichbar –
und
welche Leistung wurde da vollbracht, noch dazu gemessen an den damals
bescheidenen technischen Möglichkeiten!
Das Motiv stand in
Beziehung zur Bedeutung, die dieses Werk für das Selbstbewußtsein
hatte: Den
Göttern näher zu sein. Nicht nur deshalb war es so wichtig, weil es für
einen
Tempel Gottes gehalten wurde, nachdem ein Priester dies so verlangte,
sondern
weil jeder Betroffene selbst von der Macht des Geistes betroffen war,
also von
der Bedeutung jener Dimension in ihm selbst, die ihn mit dem Göttlichen
auf
eine ähnliche Stufe stellte: Die Bedeutung der Schaffenskraft. Gott ist
der
Schöpfer, der die Welt und uns selber schuf, der uns aber auch diese
Kraft gab,
ihm ähnlich zu werden. Wie jene Menschen unmittelbar, so können wir
jene Macht auch weiterhin besitzen, welche schon unsere Vorfahren
dazu befähigte, dieses oder jenes Bauwerk zu errichten, nur wenn wir diese
Dimension
weiter pflegen. Es sind die Götter für die
einen,
es ist der eine Gott für die anderen Religionen, welcher der Inbegriff
jener
Macht des Geistes ist, die auch in unserem eigenen Schaffen zum
Ausdruck kommt.
Dieses Schaffen wurde im
Wachstum des menschlichen Geistes vom vormodernen zum heutigen
wissenschaftlich-aufgeklärten Menschen stetig gesteigert, bis die
Naturbeherrschung anders, und zwar nur mehr methodisch, interpretiert
wurde.
Nachdem
sie bereits gleichsam zur Selbstverständlichkeit geworden war, wurde
die darin dokumentierte
geistige Macht selber und die Frage des Woher und Wozu immer weniger
bewußt und
allmählich überhaupt nicht mehr gestellt. Dies ist aber auch der erste
Schritt
zum Verblassen der geistigen Kräfte, bis hin zur Abschaffung ihrer
selbst. Denn
sobald das Bewußtsein seiner selbst nicht mehr eingedenk ist, sondern
es
gleichsam bloß als eine Art Exkrement des biologischen Gehirns deutet,
dann
wird die Schöpfung jenes menschlichen Geistes bald tatsächlich auf die
Produktion von Exkrementen reduziert: Nämlich von Exkrementen der
ökologischen
Fehlgriffe, die unsere Umwelt verschmutzen, die buchstäblich zu stinken
beginnen und unseren Lebensraum krank und häßlich machen, sodaß wir,
wenn wir
uns des Lebens freuen wollen, in eigene Reservate der Freizeitindustrie
flüchten müssen, welche wir weitgehend sauber halten, und indem wir
sowohl
unser Empfinden als auch unser Verhalten auch so umstellen, daß wir die
Häßlichkeiten nicht mehr als störend empfinden.
Wir leben in einer Welt,
die ursprünglich einer geistigen Ordnung gehorchte, der auch wir selbst
unser
Dasein verdanken. Diese Ordnung des Geistes ist heute nicht mehr
evident, wir
scheinen sie aus dem Blickfeld verloren zu haben. Wenn wir von
geistigen
Ordnungen reden, dann meinen wir nur mehr solche methodischer Art,
solche
des
technischen Vorgehens, also vor allem des formal-logischen Urteilens
und
mathematischen Planens. Logik und Mathematik wurden also der Technik
untergeordnet, sie sind es nicht von Anfang an. Aber das Ziel des
gesamten
Vorgehens ist uns aus dem Blick geraten. Dabei ist nicht primär der
böse Wille
dafür verantwortlich, sondern die fortgeschrittene Entwicklungsstufe
hat den
Überblick erschwert und schließlich so gut wie unmöglich gemacht. Wer
weiß denn heute wirklich, was da in
allem
zusammen wirklich vorgeht? Die Menschen kennen nicht einmal mehr die
Grundlagen
des technischen Vorgehens, sobald es deren eigenen Fachbereich
übersteigt. Wir
stellen aber auch gar nicht mehr die Frage, was wir eigentlich und
letztlich
mit unserem Schaffen und Tun erreichen wollen. Wir wissen nicht einmal
mehr,
wer damit gemeint ist, wenn wir das Wort Wir verwenden. Wenn wir sagen,
wir
verschmutzen die Welt, dann zeigt sich bereits, daß nicht nur die
Verantwortlichkeit, sondern auch das Bewußtsein dafür unterschiedlich
verteilt
ist.
Unser kollektives Bewußtsein,
welches am Anfang der technischen Eroberung der Welt gestanden ist, ist
uns
ohne erkennbare Schuld einzelner Menschen aus dem Griff gekommen – wie
sollen
wir dann danach überhaupt die Frage erörtern, was wir alle gemeinsam
denn
tatsächlich und letztlich mit allem unseren Tun und Schaffen erstreben
und
erreichen wollen? Was ist der Sinn von allem? Die Frage taucht auf,
seit die
frühere Evidenz verloren ist.
Die Frage nach dem Sinn,
auf die Viktor E. Frankl hingewiesen hat, scheint zwar heute wichtig,
aber eher
für jeden einzelnen Menschen privat und für sich, aber nicht für das
Kollektiv
der Menschheit. Wer oder was wäre denn die Instanz, diese Frage für die
Menschheit als Ganze zu stellen - und sie zu beantworten? Der Sinn des
privaten Lebens könnte ja auch
so
verstanden werden, sich aus dem Ganzen herauszureißen und die Welt
neben sich
untergehen zu lassen. Auch die Begriffe des kleinen und großen
Fahrzeugs im
Buddhismus könnten so verstanden werden: Mag die Welt in Flammen
aufgehen, es
kommt nur darauf an, ein Fahrzeug bereit zu stellen, um möglichst viele
zu
retten: Nicht ein kleines, sondern ein großes Fahrzeug ist daher nötig,
sagte der Mahayana-Buddhismus.
Niemand will sich heute
anmaßen, die Frage nach einem Sinn für alle Menschen zu berühren, wo
noch dazu
mutmaßlich klar ist, daß damit alle schon gegen diese Frage und erst
recht
gegen eine Antwort darauf protestieren werden. Denn da alle betroffen
sind und
solange die Interessen aller Menschen so beschaffen sind, daß jeder
dazu neigt, nur
sich
selbst zum Zweck zu machen, wird die ganze Menschheit, so mag
befürchtet
werden,
jede Vernetzung des Bewußtseins der Ernsthaftigkeit der Problemlage
massiv
unterdrücken. Solches beobachten wir etwa im Zusammenhang mit dem
Wirtschaften, dem Recht und
der
Politik. Dabei ist auch der Widerstand noch nicht genügend groß, wenn
ich die
Anlage
dieses Sinns als Ausdruck einer Ordnung des Geistes deute. Diese
Ordnung des
Geistes muß freilich bereits vor unserer eigenen langsamen Reifung des
geistigen
Lebens existiert haben, denn anders wäre die wohlgeordnete Schöpfung
nicht da,
welche wir erkennen können.
Die Evidenz Gottes hat aber zwei Seiten, die eine ist die eines persönlichen Erlebnisses oder der persönlichen Erkenntnis, die andere die der gesellschaftlich-sprachlichen Mitteilbarkeit, durch welche man erst den anderen darauf hin weisen kann, ein Erlebnis oder eine Erkenntnis zu haben. Die Gesellschaft selbst filtert und interpretiert aber die Mittel der Kommunikation und prägt den Menschen so einen Stempel auf, der ihr Denken beeinflußt. Nicht der innerste Kern wird zwar beeinflußt, aber in der Form der Mitteilung verhüllt sich die Unmittelbarkeit, als Preis für die Aussagbarkeit dessen, was sich im innersten Kern des Menschen vollzieht.
Die frühen Gesellschaften
hatten immer die Evidenz Gottes in ihrem sprachlichen Instrumentarium
der
Kommunikation aufbewahrt, allerdings auch dort in eine Form gegossen,
welche den
Gehalt
doch auch veränderte. Denn die Gesellschaft lebt zwar aus ihren
geistigen
Quellen, aber sie vollzieht ihr Leben in politischen Bahnen
einschließlich
aller sonstigen Formen der Machtausübung. Durch die historischen
Machtverhältnisse, so lautet meine These, wurde nun die Evidenz Gottes
zwar
nicht aufgehoben, aber verfälscht und damit ihr Wesen unkenntlich
gemacht. An
die Stelle der urspünglichen Evidenz trat die vergesellschaftete
Meinung über
die Evidenz.
Ich verstehe unter Macht
nicht per se einen Mißbrauch (wie Jacob Burghardt sie versteht), auch
nicht den Zwang
als Wesen der Macht wie Max
Weber oder Hans Kelsen, sondern eher wie Hannah Arendt eine im Grunde
unverzichtbare Form gemeinschaftlichen Handelns, welche mißbrauchbar
ist, aber den
handelnden
Einzelmenschen als eigentlichen Ursprung der Macht nicht aufhebt. Das
Volk, so sagt sie, und ich ergänze,
der
Einzelne, bleibt immer irgendwie das Subjekt der Macht, auch wenn
dessen
Fokussierung in einem Machtträger faktisch erst Macht praktisch
anwendbar
macht. Machtträger können Macht mißbrauchen, aber Hegel sagt auch
richtig, nur
der könne zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will. Im
Widerstand gegen Hitler und Stalin haben sich vor allem Einzelmenschen
bewährt,
weil die erzwungene Kollektivierung des Bewußtseins kaum eine andere
Wahl offen
ließ.
Aber das Kollektiv hatte in
der archaischen Periode der Entwicklung des menschlichen Geistes wohl
eine viel
stärkere Kraft als wir es heute sehen: Alle jene Tätigkeiten, durch
welche die
Menschen sich ihrer geistigen Fähigkeit sichtlich schrittweise bewußt
werden
konnten, wurden ja im Kollektiv vollzogen; und im Kollektiv gibt es und
gab es
freilich auch Hierarchien. Wenn nun die Oberen ein Ziel setzten und es
als
Willen Gottes ausgaben, haben Menschen, welche schon vorher den Weg der
Evidenzerhellung im gemeinschaftlichen Vollzug positiv erfahren haben,
bereitwillig mitgetan, auch falls es sich um Akte handelte, welche sie
nicht
ursprünglich als göttlich gewollt erlebt hätten. Freilich war damit der
Weg zur Mißbrauchbarkeit der Rede von Gott geebnet.
Vor allem Kriege spielten
bei dieser Verfälschung der ursprünglichen Evident Gottes eine wichtige
Rolle:
Raubzüge, die im Sinne eines echten Gottesverständnisses mit dem Willen
Gottes
ja gänzlich unvereinbar sind, lassen sich von den Oberen bisweilen gut
als
gottgewollt
ausgeben, weil sich damit im Denken der Untergebenen auch die Seite der
eigenen
„Raubtierseele“ ansprechen ließ. Ich bin überzeugt, daß archaische
Gesellschaften
häufig von solchen Versuchungen zu Raubzügen überwältigt wurden. Aber
auch im
Schutz
dagegen hatten sich die weniger kriegerischen Gemeinschaften
kriegerisch zu
üben und die Unterdrückung des Menschen wurde so, wiewohl sie zutiefst
schlecht
ist, in Verkehrung der friedensgemäßen Wahrheit über Gott als angeblich
göttlich geboten angesehen.
Die Gemeinschaften hatten zunächst alle ihren eigenen,
separaten Gott oder ihre Götterversammlung, der sie treu
dienten.
Manche Völker haben ihre Selbstbezeichnung von der Gottheit abgeleitet,
der sie
dienten, auch wenn inhaltlich und sogar sprachlich die Übergänge
fließend
waren. So dienten die germanischen Teu-tonen dem Teu (Diu), einem Wort,
das mit
dem lateinischen Deus und griechischen Theos verwandt ist. Davon leitet
sich
auch die Bezeichnung „deutsch“ ab und der Gott Diu findet sich auch in
der
Bezeichnung des Wochentags Diens-Tag wieder. Ich halte es für
wahrscheinlich,
daß analog dazu auch die Selbstbezeichnung der Goten mit dem Wort
„Gott“
zusammenhängt. Diese Bedeutung ist freilich völlig verloren gegangen,
nur Nietzsche
hat einmal darauf hingewiesen und gescholten, die Deutschen sollten
sich doch
endlich wieder als jene Heiden verstehen, die sie nach ihrer
Namensgebung
seien.
Die klassische Denkweise
der Griechen und Juden, aber auch der Europäer und Orientalen
schlechthin ging
von einer Evidenz der Götter aus, welche keines Beweises bedurft hatte.
Die
Juden unterschieden sich von den Nachbarn darin, daß ihnen
nur der
einzige Gott evident war, während die anderen, teils anthropomorph
vorgestellten
Götter
nur Vorstellungen der Nachbarvölker seien. Die Griechen
wieder
brachten die Philosophie ins Spiel, sie bezweifelten die Götterwelt,
aber nicht
den einen Gott, sie fragten nach dem Gott aller Menschen. Sokrates (und
mit ihm Plato) und Aristoteles schufen
die
Wegmarken der neuen Denkweise, welche zusammen mit der jüdischen
Tradition die
Grundlage des abendländischen Denkens über Gott bildeten.
So gab es also zur Zeit
Christi Geburt eigentlich zumindest vier Gottesvorstellungen: Die
beiden
religiösen, nämlich die tendenziell anthropomorphe (des Morgen- und
Abendlandes) und die jüdisch-monotheistische; und die beiden
philosophischen,
nämlich die, den Mythos über die Gottheiten von der Seele her
aufhebende, Anschauung
bei
Sokrates und Plato und die andere, den Mythos von außen, im Blick auf
den
Kosmos
aufhebende, metaphysische Anschauung des Aristoteles. Die Aufhebung
verstehe ich
dabei im
Sinne des Begriffs bei Hegel, also nicht als Absage (Aufgeben), sondern
Wandlung (geläuterte Erhaltung und Erhöhung).
Für das frühe Christentum
ist die Person Jesu Christi die Schlüsselstelle zur Versöhnung dieser
vier
Positionen. Wichtig ist vor allem die Verbindung von religiöser und
philosophischer Position. Der Gottmensch Jesus Christus überwindet die
Vorstellung von den Menschengottheiten der Antike und löst sie ab,
indem das
gewachsene Verständnis von Religion nicht durch die philosophische
Kritik an
den anthropomorphen Göttern bloß aufgegeben wird, sondern zugleich im
Blick auf
Jesus den Gottessohn eine neue Würde erhält, weil die neue Sichtweise
- den
philosophischen Ansprüchen gemäß- der sich langsam bildenden neuen
Meinung
besser
genügte als die alte Götterwelt. Denn in den frühen Gottheiten
spiegelte sich
noch der Mensch in seiner rohen Gestalt, christlich gesprochen als
Sünder, aber in Christus
wird Gott
sichtbar, wie er sich von den sündhaften Menschen unterscheidet, aber
auch den (später
"humanistisch" genannten) Ansprüchen der großen Philosophen nicht nur
entspricht, sondern diese
überbietet: Der "menschliche" Gott ist die Liebe.
Der Universalitätsanspruch
des Monotheismus aus der jüdischen Tradition überwindet die
Unvereinbarkeit der
partikular zuständigen, in Konflikten zueinander stehenden Gottheiten
gemäß der
hellenistischen Welt und findet schon vor dem Christentum durch Philo
von
Alexandrien zunehmend Akzeptant bei philosophisch interessierten
Hellenisten.
Eine neu und tiefer erfahrbar werdende philosophische Evidenz des
Vorzugs der
Ethik gegenüber der Willkür findet seit der faszinierenden
Beispielwirkung Jesu
eine Einheit mit der tradierten religiösen Evidenz des Göttlichen,
nicht nur im
Judentum, sondern auch in römisch-griechischen, philosophisch geprägten
Umfeld.
Das geschichtlich wirksam gewordene Verbindungsglied zwischen den
Welten der Religion und der Vernunft
ist
also Jesus Christus, der als Brücke zwischen beiden, als Einheit von
Gott
und Mensch
gesehen wird.
Das römische Reich, welches
eine politische Einheit und einen relativen Frieden garantierte, war
mit der
kriegerischen Völkerwanderung verloren und zugleich verunmöglichte die
Dringlichkeit
der konkreten Lebensprobleme die philosophische Vertiefung. So kam es
erst
langsam zu einer Konsolidierung, welche nicht ohne eine solche im
politischen
Bereich möglich war, wobei allmählich das Frankenreich, ein bisher eher
wenig
maßgeblicher
Raum der früheren Welt, eine tonangebende Rolle einnahm.
Eine gewisse
Religionskritik war in der scholastischen Methode ein implizites
Argument, um gegen diese die
Vernunftgemäßheit des Glaubens an Gott zu belegen. Wenn die
philosophische
Zugangsweise zwei Traditionen kannte, die platonische und die
aristotelische,
so hat auch die platonische - wie hier die aristotelische - Tradition
auch Aspekte der
Religionskritik nach Europa transportiert, wenngleich nur
mittelbar in der
Form ihrer Überwindung. Auch Sokrates wurde ja der Gottlosigkeit
angeklagt
und
widerlegte diesen Vorwurf; seine Argumente für Gott sind freilich
anders als die
des
Aristoteles. Es geht Plato bei der Schilderung der Verteidigung des
Sokrates
nicht darum, gleichsam darzulegen, daß Gott philosophisch gesehen
notwendig existiert, sondern daß der große Sokrates, entgegen der gegen
ihn gerichteten Anklage, an Gott
glaubte.
Er läßt Sokrates darlegen, daß er weder das Göttliche leugne, da er
sich von
einem Daimonion (als Gewissen, aber auch also ein Gott zu verstehen)
geführt
verstehe, noch daß er der herkömmlichen Religionsausübung untreu
geworden sei,
da er immerhin das Orakel bezüglich seines „inkriminierten“ Weges
befragt habe.
Die Parallele des Todesurteils gegen Sokrates und Jesus ohne
tatsächliche
Schuld war
immer auch ein Brückenpfeiler zwischen Philosophie und christlicher
Religion.
Im
christlich-abendländischen Geistesleben hatte die Religionskritik also
ursprünglich
die Rolle der angesichts dieser möglich gewordenen vernünftigen
Rechtfertigung und Verteidigung des christlichen
Glaubens; aber die Religionskritik barg in sich letztlich auch ein
Potential,
sich von dieser Rolle los zu reißen und zu verselbständigen, was zu der
für das
Abendland typisch Form der negatorischen Auseinandersetzung mit dem
Begriff
Gott führte. Bezüglich der dabei angewandten Ausdrucksform trug aber
auch eine
Besonderheit des Christusglaubens bei: War doch Jesus einer, der dem
Spott
ausgesetzt gewesen ist. Der Gott Jesu Christi vergibt den Sündern, also
wohl
auch den Spöttern; Jesus vergab ja sogar jenen, die ihn töteten. Den
Spott auf
den Punkt bringend könnte man also gewissermaßen frevlerisch gesagt
haben: Wenn
es wahr ist, daß Gott uns alle gern hat, dann kann er uns doch allesamt
gern
haben! Spott gegen Gott und die Götter hat es immer auch gegeben, aber
kaum war
dieser anderswo so bitter wie im gegnerischen Umfeld des Christentums.
Dabei
hatte die negatorische Auseinandersetzung mit Gott eigentlich zwei
völlig
unterschiedliche Zielrichtungen: Die eine war, den Spott damit auf die
Spitze
zu treiben – die andere aber, sich selbst (und vielleicht auch „seinen“
Gott?)
auf diesem Wege dem Angriff des Spottes zu entziehen. Im Mittelalter
schwelte
diese zweideutige Eigentümlichkeit zwar noch im Untergrund, sie war
aber immer
präsent.
Eine Besonderheit des
Christentums ist übrigens auch die Tendenz der Gläubigen zu einer
zweifelnden
Haltung gegenüber der weltlichen Macht. Das Christentum verbreitete
sich
anfangs eher unter den Minderprivilegierten und weniger innerhalb der
Eliten.
Dies war den einen ein Beweis für die Güte des Christentums, anderen
aber,
speziell wenn sie sich in der Führung des Gemeinwesens betätigen
wollten, eine
ständige Verunsicherung, ja eine Infragestellung ihrer
Existenzberechtigung.
Clemens von Alexandrien schrieb ein Buch: Welcher Reiche kann gerettet
werden,
was freilich insinuiert, daß es eben schwer sei, als Christ zur Geld-
und
Machtelite zu gehören. Innerhalb der Elite wurden daher auch gerne
religionskritische
Töne laut, wie schon Augustinus berichtete. In der abendländischen
Kultur kam
es nun allmählich doch wieder zu einer Anhebung des wirtschaftlichen
und
bildungsmäßigen Niveaus einer größeren Schichte, welche bisher keine
vorgezeichnete Rolle in Gemeinwesen hatte: Das Bürgertum, welches
einerseits
von der tatsächlichen Macht ausgeschlossen, andererseits aber doch
Elite war.
Ob aus dem Adel oder aus dem einfachen Volk hervor gewachsen, so
zeichnete sich
diese neue Schichte zunehmend durch ihre wirtschaftliche und
intellektuelle
Potenz gegenüber der Gesamtgesellschaft ab. Voltaire, der sehr reich
war,
beklagte sich, das Christentum sei ja einseitig nur für die Armen.
Diese neue Elite war auch
die neuen Träger jener Religionskritik, welche, gemeinsam mit deren
bildungsmäßiger Brillanz, den Grundstock für die Entwicklung der
Aufklärung
bildeten. Ihr Motiv war zugleich die Kritik an der weltlichen Macht und
das
Streben danach. Die herkömmliche Macht wurde – nicht zu recht – als
Ausdruck
des Christentums gedeutet. Freilich hatte die alte Gesellschaft das
Christentum
als Mittel zur Machterhaltung gedeutet, aber die Eigenständigkeit des
Christentums wies immer über die bestehenden Verhältnisse hinaus auf
deren
mögliche Verbesserung. Immerhin war es durch die Identifikation von
Religion
und Macht möglich, die Religionskritik mit der Machtkritik auf einen
Nenner zu
bringen.
Einerseits lag gerade in
der Kritik an der weltlichen Macht eine Kontinuität der Tradition des
Christentums im Volksverständnis, andererseits wurde der Versuch
gemacht, die
Macht auf eine neue Basis zu stellen. Dies bedeutete für das Bürgertum,
die
gesellschaftlichen Verhältnisse so zu ändern, daß deren eigene
Machtausübung
möglich war, andererseits aber auch, an die Stelle des Christentums
eine andere
Quelle der Rechtfertigung der Macht zu stellen: Die Vernunft. So
geschah es,
daß die bisherige Einheit von Vernunft und Religion, welche bei aller
damit
dennoch verbundenen Problematik doch immerhin eine beachtliche
Höherentwicklung
des europäischen Geistes in Gang zu setzen vermochte, nun zerrissen
wurde.
Entwicklung ist freilich
immer auch mit Entzweiung verbunden. Dies war auch schon zu jener Zeit
der
Fall, als Vernunft und Religion noch in relativer Einheit waren.
Wichtig ist
aber, daß die Entzweiung wieder aufgehoben werden kann, weil sie sonst
die
Gesamtheit zerstört und Unfrieden bringt. So waren tatsächlich die
Kriege der
Neuzeit insgesamt folglich noch zerstörerischer als jene des
„finsteren“
Mittelalters. Die Voraussetzung für die Zerstörungskraft war dabei die
neue
Rationalität des Tötens, die industrielle Entwicklung von immer
gefährlicheren
Waffen. Während das Mittelalter in sonstiger Hinsicht sehr viele
Fortschritte
machte, (sagte einst Friedrich Engels), gab es hinsichtlich der
militärischen
Kampfstrategie vergleichsweise eher einen Stillstand. Nicht nur in den
Künsten
ist aus heutiger Sicht der Fortschritt zu jener Zeit beachtlich,
sondern auch
in den Wissenschaften, wiewohl auch der Durchbruch erst nach dem Ende
des
Mittelalters gelang. Der Dreißigjährige Krieg und letztlich die
napoleonischen
Kriege brachten jene neue expansive Militarisierung Europas, welche
nach dem
weltumspannenden Kolonialismus die Epoche der Weltkriege und der
Totalitarismen
erst ermöglichte. Das Ende der alten Einheit des Christentums und die
Aufklärung wirkten sich so gesehen hinsichtlich der Kriege zunächst
eher
aktivierend als hemmend aus.
Immanuel Kant ist der
Vollender und Überwinder der Aufklärung. Er widerlegt die
Gottesbeweise, aber
nicht Gott; er verwirft aber auch die Kriegsverherrlichung und stellt
das Ziel
eines „Reiches der reinen praktischen Vernunft“ in Aussicht, offenbar
bewußt in
Anlehnung an die christlichen Tradition, wenngleich – neben der
herkömmlichen
Form – auch in säkularer Ausdrucksweise.
Kant bemühte sich, den
Glauben an Gott auf die Basis des von ihm empfohlenen moralischen
Gottesbeweises zu stellen. Das wurde oft nicht für gut geheißen. Die
Atheisten
stießen sich daran und meinten, er sei hier der Aufklärung untreu, die
Religiösen wieder beklagten, daß diese Begründung Gottes zu schwach
sei. In
Wirklichkeit könnte er aber einfach die Evidenz Gottes so mit der
Vernunft in
Einklang zu bringen versucht haben, ohne die üblichen Gottesbeweise
anerkennen
zu müssen.
Dafür spricht einiges, unter
anderem Kants Versuch, die Theodizeefrage in neuer Weise zu
beantworten. Alle
bisherigen Versuche seien gescheitert, schrieb er, weil sie nicht die
authentische Position eingenommen hätten. Nur im Gewissen ist der
Mensch
authentisch, nur hier spricht Gott selbst (wenn überhaupt) zum
einzelnen
Menschen, der ja bei der bloß einseitigen (anmaßenden) Anklage Gottes
durch den
Menschen gar nicht zur Sprache kommen kann. Der in einem
alttestamentarischen
Buch beschriebene Hiob habe, so sagt Kant, seine übermäßigen Leiden nur
deshalb
ertragen und mit dem Glauben an Gott letztlich doch noch für vereinbar
sehen
können, weil er sich moralisch (vom Gewissen her) dazu entschieden
habe, am
Glauben an Gott fest zu halten. Wie aber, so muß man fragen, hätte er
dies tun können,
wenn nicht Gott ihm (wiederum zumindest im Gewissen) evident gewesen
wäre?
Ist nicht diese Evidenz
Gottes der Sinn des Begriffes eines "transzendentalen
Gottesbeweises", den man zur Beschreibung der Position Fichtes und
anderer
verwendet hat? Ist nicht schon bei Kant der Ansatz zu dieser Art einer
„transzendentalen“ Denkweise wenigstens im Ansatz zu erkennen? Wenn
Fichte in
seiner auf Breitenwirkung seines Philosophierens abzielenden Schrift
über die
"Bestimmung des Menschen" im "Glauben" die Lösung der
Probleme zwischen Zweifel und Wissen zu erkennen gibt, so bringt er zum
Ausdruck, daß der Mensch nirgendwo so sehr Evidenz erlebt, weder in
Betrachtung
der sinnlichen Welt noch im Urteil über sein eigenes Dasein, wie in der
Erkenntnis Gottes als Ausdruck seines Glaubens. Wir haben bei Kant vom
Gewissen
gesprochen und ich möchte hier auch die Sprache näher betrachten: Die
„Gewißheit“ ist es, was wir nirgends so erleben, wie im Gewissen. Jenes
Organ
in uns, wo wir mit Gott so nahe verbunden sind, wie es uns nur
überhaupt
möglich ist, ist auch der Hort der höchstmöglichen Gewißheit innerhalb
einer
Welt voller Ungewißheiten.
Karl Jaspers, der vom
„philosophischen Glauben“ spricht, expliziert damit eigentlich dies,
das im
Bereich der christlich-abendländischen Geistesgeschichte immer der Kern
war:
Die Einheit von Vernunft und Glauben. Wenn wir sie auch oft eingebüßt
oder
abgelegt haben, so können wie sie bisweilen in „Grenzsituationen“
wieder
spüren: Angesichts von Leid, Tod und Schuld stehe ich unmittelbar vor
dem
Umgreifenden, hier bin ich mit Gott verbunden, hier ist meine Vernunft
herausgefordert; entscheidet sich, wie ich künftig handeln werde.
Mir persönlich war Gott in
gewisser Weise zwar immer evident, wenngleich ich mich trotzdem
manchmal im
Denken und Handeln von Gott entferne. Daher meine ich, daß die Evidenz
immer
wieder verschüttet wird, aber wieder aufgedeckt werden kann. Diese
Aufdeckung
sehe ich als den Sinn des Wortes Offenbarung an: Es wird wieder
offenkundig,
was eigentlich evident wäre, aber verschüttet war. Mir scheint, daß
dies die
Besonderheit Jesu Christi in seinem Leben, in der Lehre, aber auch in
Leid, Tod
und Auferstehung war. Daß Gott die Liebe sei, wurde durch ihn wieder
evident.
Und wenn ich als religiöser Christ an die Auferstehung glaube, bedeutet
dies
für mich, daß Er als Auferstandener auch meinen Weg immer neu zur
Wiederauffindung der Evidenz Gottes begleitet und mich bei der
Bewältigung
dessen, sowie auch bei der Beseitigung der am Suchen behindernden
Lasten des
Lebens, behilflich sein will, ähnlich wie er zu Lebzeiten den
Zeitgenossen
behilflich war. Hier sehe ich eine Tiefe der Religion, welche nicht der
Tiefe
des Philosophierens im Wege sein kann, ebenso wenig wie umgekehrt die
recht
verstandene Philosophie dem Glauben widersprechen kann. Sobald nämlich
Gott
wirklich evident ist, dann durchzieht diese Evidenz auch das
Philosophieren.
Ohne diese Evidenz aber scheint sich die Philosophie im Geplätscher an
der
Oberfläche zu verlieren und in keine Tiefe der Erkenntnis vor zu
dringen;
zumindest sofern es uns um jene Tiefe im Sinne der Existenzbewältigung
geht,
welche bei Max Scheler als Heilswissen bezeichnet wird.
Ein so verstandener,
evidenter Gott bedarf aber keines Beweises, ja die Frage nach einem
Beweis
könnte schon fast als Eingeständnis gelten, daß jemandem die Evidenz
abhanden
gekommen sei. Aber im Zweifelsfall kann der Beweis wenigstens eines: Er
kann
aufweisen, daß der Glaube an Gott wenigstens nicht der Vernunft
widerspricht.
Dies ist dem Glaubenden freilich doch zu wenig, solange daneben immer
noch die
Behauptung der Nichtexistenz Gottes einen ebenbürtigen Platz für sich
beansprucht.
Kein Beweis Gottes auf rein
philosophischer Ebene könnte einen existentiellen Widerstand gegen Gott
wirklich auflösen. Aber bewegt wird
eigentlich
der Mensch nicht primär durch die Vernunft, sondern nur durch etwas,
das als
Kraft erlebt werden kann. Denn die Vernunft ist eher wie ein
Regelsystem,
welches das Abgleiten des Denkens in Irrtümer – auch existentieller Art
–
verhindert, aber sie hat in sich allein noch keine motivierende Kraft.
Eine
solche motivierende Kraft erlebe ich allemal sowohl in den nicht zu
verachtenden Gefühlen, als auch (und vor allem) im Glauben! Daher ist
die
Philosophie gut beraten, auch den Glauben mehr zu thematisieren. Glaube
und
Religion, dies sind Kräfte, welche den Menschen bewegen können; so
kommt der
Mensch mit Gott in Verbindung und die Philosophie kann danach
beschreiben,
worum es sich dabei handelt und ob bzw. wie dies mit der Vernunft im
Einklang
zu sehen ist. Wenn uns dies wieder gelingt, dann ist der Geist des
Menschen
wieder bei sich und der Mensch ist wieder ein Wesen, das selber über
sich
bestimmen kann und sein Denken nicht als bloßes Exsudat des Gehirns
abtut. Wenn
aber der Mensch in diesem Sinne seines Geistes mächtig ist, dann ist er
auch in
besonderer Weise praktisch tätig am Aufbau jener Welt, welche uns für
menschenwürdig gilt. Eine solche Tätigkeit konnte von Fichte, Hegel und
anderen
als Wirken für das Kommen des Reiches Gottes interpretiert werden. Wir
können
es auch als unser Bemühen um eine humanere Welt bezeichnen.
Offenbarung verstehe ich
also im philosophischen Sinn als die Wiedererkennbarkeit der Evidenz
Gottes,
welche religiös als von ihm selbst gewirkt verstanden wird; einer
Evidenz Gottes,
das heißt, daß sie mit der Erhellung der den Menschen wirklich
adäquaten
Denkweise verbunden ist. Wenn der Mensch zu den Gesetzen des rechten
Denkens
(Logik) und des rechten Handelns (Ethik) vorstößt, dann ist ihm die
Evidenz
Gottes wieder offenbar geworden. Eine mögliche Wiederentdeckung der
Evidenz
Gottes führt zur Genesung der Gesellschaft, welche durch Kriege und
Unrecht
krank wurde, und der Einzelpersonen, die anders den Blick auf den Sinn
des
Ganzen verloren haben. Wenn der Sinn wirklich wieder evident wird, dann
wird er
aber nicht nur im Einzelnen, sondern letztlich unter allen neu
verstehbar und
kommunizierbar. Humanisierung, Friede und echter Dialog zwischen
unterschiedlichen religiösen Positionen wird umso eher möglich, als die
Güte
Gottes evident wird.
Eigentlich kann es ein
Vertrauen auf Gott erst dann geben, wenn er als ein guter Gott in der
Tiefe
unseres Bewußtseins als evident erlebt wird; und doch scheint die
Vertrauenswürdigkeit Gottes gleichsam untrennbar zur Evidenz Gottes zu
gehören.
Menschen aller Völker wenden sich an Gottheiten mit ihren Anliegen und
zeugen
damit, daß sie diesen zutrauen, ihnen helfen zu können. Und doch zeigt
die
biblische Geschichte vom Sündenfall Adams das Mißtrauen gegen Gott,
weil nur
dann der „Einflüsterung“ nachgegeben werden konnte, welche lautete,
Gott wolle
nicht haben, daß der Mensch wie er selbst werde, wenn das Urvertrauen
zu Gott
unsicher wurde. Dies ist wohl unser Problem als Menschen: So evident
Gott für
uns sein kann, so schwächlich und unbeständig ist unser Vertrauen auf
ihn. Ist
es einmal verloren, wie soll es wieder gefunden werden?
Gott ist gerecht, und
deshalb mögen ihn manche – nicht. Ein Grund für unser mangelndes
Vertrauen auf
Gott liegt nämlich in dem, was wir „schlechtes Gewissen“ nennen. So
sehr auch
im Gewissen Gott zu uns sprechen kann und das Wort Gewissen auch mit
Gewißheit
zusammenhängt, ist der Mensch in seiner Freiheit doch auch imstande,
sich dem
Gewissen zu widersetzen. Was als wirklich gewiß im Menschen verankert
ist, von
dem ist es nicht verwunderlich, daß es sich wieder zurück meldet, wie
sehr es
auch verdrängt und als unpassend bekämpft wird. Denn zur Evidenz Gottes
gehört
auch das Bild von der Gerechtigkeit Gottes. Gott ist gut und gerecht.
Wenn er
aber gerecht ist, dann wird er, so fürchtet sich derjenige, der sich
gegen sein
Gewissen stellte, ihn dafür bestrafen.
Der Begriff „schlechtes Gewissen“ ist
ein Synonym für ein strafendes Gewissen; aber es ist
nicht nur ein strafendes Gewissen, sondern, wie ja das Wort „schlecht“ auch
genau betrachtet aussagt, ein verdorbenes, schlecht funktionierendes
Gewissen.
Man flüchtet vor der befürchteten Strafe und flüchtet
daher vor dem Gewissen. Ein schlechtes Gewissen führt den Menschen daher in die Irre, weil es ihn von der
Evidenz des gütigen Gottes weg bringt – und so noch weiter von Gott wegführen
kann. Neben schlechten Erfahrungen mit den
Mitmenschen und der Obrigkeit kann also auch die eigene Psyche schuld
sein an
dem Verlust der Evidenz Gottes. Aber wie kommt man wieder zur Evidenz,
wenn man
sie verloren hat?
Die
Philosophie verstehe ich hier als rationalen Weg zu jener Erkenntnis,
welche religiös im Gebet
und in der Versenkung, im Mediationsweg erfahrbar ist. Gott ist als so
evident erlebbar wie
das Sein schlechthin, wie bei Jaspers mit den bei ihm beschriebenen
Erfahrungen in Grenzsituationen klar wird. Er ist ja das Sein
schlechthin, behaupte ich, und er gibt sich laut dem
Buch Genesis folglich auch zu erkennen als der „Ich bin“, also die
Fülle des Seins, die aber
nicht apersonal verstanden werden kann, wie auch ich mich als Seiender
nicht
apersonal verstehen kann. Wenn das Sein umfassend ist, dann hat es
freilich auch jenen
Aspekt der Person zu besitzen, die auch ich als Seinender an mir
feststellen
kann: Ich bin. Der Gott als der Umfassende kann nicht ein Es, also bloß
Sache
sein, er kann nicht seins- und rangmäßig unter mir stehen, sondern muß
als eine Fülle verstanden
werden, die zweifellos weitaus größer, aber auch um nichts geringer ist als eine
menschliche
Person.