Romanistentag 2021

R in der Romania:
System, Variation und Wandel

Elissa Pustka (Wien) / Eva Remberger (Wien) / Fernando Sánchez-Miret (Salamanca)

Die R-Laute (rhotics) bilden eine ganz besondere Gruppe von Lauten. Phonologisch sind sie relativ isoliert vom Rest des Phonemsystems. Diese im Spracherwerb besonders spät erworbenen Laute (Jakobson 1962) befinden sich schließlich laut Trubetzkoy (1939: 131) „außerhalb der Lokalisierungsreihen“. Vermutlich deshalb variieren sie in den Sprachen der Welt phonetisch so viel: in Artikulationsart (Trills, Taps, Frikative, Approximanten etc.), Artikulationsort (alveolar, uvular etc.) und Stimmbeteiligung (meist stimmhaft, aber auch stimmlos); dazu kommen Vokalisierung und Elision (vgl. Van de Velde/van Hout 2001, Wiese 2011). Damit können sie hervorragend als Ressource zum Ausdruck sozialer Identität eingesetzt werden (vgl. Celata/Meluzzi/Ricci 2016). Entsprechend häufig wandeln sich die R-Laute auch im Laufe der Sprachgeschichte. Bis heute gibt der ganz Europa erfassenden Wandel vom alveolaren Vibranten [r] (insbesondere im Lateinischen) zum uvularen Frikativ [ʁ] im 17. Jahrhundert (u.a. im Französischen, aber auch im Deutschen) Rätsel auf (vgl. Göschel 1971); daneben findet sich die Variante [ʁ] aber auch in Brasilien und Puerto Rico (vgl. Graml 2009). Schließlich stellt sich die Frage, warum R-Laute in manchen Sprachen und Varietäten in bestimmten phonotaktischen Positionen – insbesondere in der Silbencoda – verschwinden (vgl. Pustka 2012), sich in anderen dagegen erhalten (vgl. Sánchez-Miret 2012).

Theoretisch stellt sich das Problem der Identität des bzw. der R-Laute: Was hält diese artikulatorisch so unterschiedlichen Realisierungen zu einer einzigen kognitiven Repräsentation zusammen? Diese erstaunliche Einheit spiegelt die Graphie wider, indem sie die Laute einheitlich etwa im lateinischen Alphabet mit dem Graphem <r> darstellt bzw. mit Rho <ρ> im Griechischen – daher auch der Name rhotics nach (vgl. Wiese 2011). Psycholinguistische Studien zeigen sogar, dass die Repräsentation häufig elidierter /r/ sich erst mit dem Erlernen der Graphie entwickelt (Chevrot/Beaud/Varga 2000). Lindau (1985) hat für dieses „Chamäleon“ (Wiese 2003: 41) ein kognitives Prototypen-Modell vorgeschlagen, in dem die unterschiedlichen phonischen Varianten durch ein Netz geteilter Merkmale miteinander verbunden sind. Dies ließe sich sehr gut zum Vergleich von Sprachen und Varietäten (z.B. Abgrenzung zu /l/, /w/ und /χ/)  sowie zur Identifikation diachroner Pfade (Stärkungs- und Schwächungsprozesse in verschiedenen Silbenpositionen) nutzen. Ergänzt werden müsste die Möglichkeit, dass Sprachen wie Spanisch und Katalanisch zwei R-Laute in Opposition zueinander setzen /ɾ/ : /r/.

Die romanischen Sprachen mit ihren europäischen und außereuropäischen Varietäten bieten ein vielversprechendes Feld, um dieses Modell zu testen und weiterzuentwickeln und damit aus der Romanistik heraus einen Beitrag für die allgemeine Sprachwissenschaft zu liefern. 

Die Sektion soll aktuelle Forschungen zu den R-Lauten in den romanischen Sprachen bündeln und damit die Perspektiven von Phonetik, Phonologie, Psycholinguistik, Soziolinguistik, Dialektologie und Sprachgeschichte zusammenführen. Dabei soll es insbesondere um die folgenden Themen gehen:

  • Phonetische und phonologische Methoden zur Abgrenzung der R-Laute
  • Empirische Dokumentation der R-Laute in verschiedenen Sprachgemeinschaften in der Romania inklusive der romanisch basierten Kreolsprachen
  • Kontrastive Studien zwischen den romanischen und mit anderen Sprachen (insbesondere mit dem Deutschen und Englischen), Untersuchungen zum L1-Erwerb und Fremdsprachenlernen sowie klinische und didaktische Aspekte
  • Variation der R-Laute innerhalb der sprachlichen Systeme einzelner Sprecher*innen abhängig von phonotaktischen, lexikalischen und soziolinguistischen Faktoren
  • Wandel der R-Laute in den romanischen Sprachen und ihre Diffusion im Raum, auch über Sprachgrenzen hinweg
  • Theoretische Modellierung der Lautklasse(n) der R-Laute 

Bibliographie