Christian Swertz

Aufklärung, Computer und die bildungspolitischen Vorschläge des "Technologierates"

1 Einleitung

"Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch gelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist."1 Das ist eine Bemerkung von 1970. Geändert hat sich wenig, die technologische Gesellschaft ist immer noch ein Herrschaftssystem, und Technik ist nicht wertfrei geworden. Allerdings ist das nicht erst seit 1970 so. Technik ist immer schon mit gesellschaftlichen Interessen verbunden. Was sich spätestens seit der Industrialisierung auch auf die Schule auswirkt. Gesellschaftliche Gruppen versuchten und versuchen, Schulen für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Das war am Beginn der Industrialisierung so, und das ist auch heute noch so. Dazu ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Aufklärung.

2 Historisches

Aufklärung beginnt mit der Befreiung des Denkens aus religiösen Zwängen. Gott - oder besser: Gottes Verkündigung - wird durch den Menschen ersetzt. Das führt zu einem veränderten Weltverständnis: Statt die Welt als Teil Gottes zu begreifen, wird ausgehend vom Menschen versucht, die Welt zu verstehen. Diese Überlegungen äußert Wilhelm von Occam bereits am Anfang des 14. Jahrhunderts. Occam macht damit das Individuum gegenüber der Religion stark, löst es aus den Vorgaben der Kirche und stellt es auf die eigenen Füße. Seine Freiheit wird zum ideal, seine Emanzipation und Eigenständigkeit zum Ziel.2

Das bleibt nicht ohne Einfluss auf Schulen. Vor dem Beginn der Aufklärung geht es in der Schule darum, die Religion als gegebene Wahrheit zu erlernen. Der Einfluss der Aufklärung führt im Laufe der Zelt dazu, dass nicht mehr die Religion, sondern über Religion unterrichtet wird. Religion wird vom Maßstab zum Gegenstand des Unterrichts. Nun klappt es mit der Befreiung des Individuums nicht so, wie die Aufklärerinnen und Aufklärer sich das vorstellen. Denn im 18. Jahrhundert kommt die Industrialisierung und ihre Technologie auf.

Im Rahmen der Industrialisierung baut das Bürgertum seine wirtschaftliche Macht aus. Das Bürgertum wiederum sichert seine Wirtschaftsmacht vor allem mit Hilfe von Technologie, die es in neuen Produktionsanlagen nutzt. Neben einiger Macht übernimmt das Bürgertum dabei auch aufklärerische Vorstellungen. Das hat für die Schulen, für deren Verbreitung das Bürgertum eine wichtige Rolle spielt, Konsequenzen: Sie stehen zwischen den wirtschaftlichen und aufklärerischen Ansprüchen. Besonders deutlich wird das bei der Einrichtung der Industrieschulen:3 Sie entstehen in England, Frankreich und Deutschland. In diesen Schulen werden Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) und Religion unterrichtet. Mit der Vermittlung von Kulturtechniken sollen die individuellen Kompetenzen gestärkt und damit die Eigenständigkeit gefördert werden. Das sind die aufklärerischen Ziele.

Daneben haben die Schulen noch eine andere Funktion: Sie sollen die arme Bevölkerung an die neuen Produktionsbedingungen gewöhnen. Die vom Bürgertum mit der Industrialisierung eingeführte Technologie stellt Arbeitsanforderungen, die vor allem die Landbevölkerung nicht erfüllen kann. Und zwar weniger in Bezug auf Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern in Bezug auf die Arbeitsgewohnheiten. In den Industrieschulen müssen die Kinder daher neben dem Unterricht auch arbeiten und werden so an die neuen Arbeitsverhältnisse angepasst. Für die arme Bevölkerung heißt das, dass mit der Möglichkeit zur Loslösung aus religiösen Zwängen der nahtlose Übergang in technologische (und ökonomische) Zwänge verbunden ist.

Damit ist der Zwiespalt, in dem Schule hier steht, deutlich: Die aufgeklärte humanistische Idee einer Autonomie und Freiheit des vernünftigen Menschen steht der Anpassung an die Technologie gegenüber. Dieser Zwiespalt entsteht durch die beiden Interessen des Bürgertums: Zum einen an aufklärerischen Idealen und zum anderen am wirtschaftlichen Gewinnen.

3 Aufklärung und Computer

Und dieser Zwiespalt besteht noch heute: Das zeigen die Vorschläge des vom Bundeskanzler eingesetzten und mit einflussreich Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung besetzten "Rates für Forschung, Technologie und Innovation":4 Der Rat sieht unsere Gesellschaft in einer technologischen Revolution. Alle Lebensbereiche des Menschen würden dadurch verändert. Konsequenterweise wird vorgeschlagen, dass den Menschen der Zugang zur computergestützten Kultur ermöglicht werden soll. Es gelte, ein Klima der Aufgeschlossenheit für die neuen Technologien zu schaffen. Ziel ist es, so wörtlich im Bildungskapitel: »Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird nicht zuletzt davon abhängen, wie rasch [ ... ] das Bildungswesen in die Lage versetzt wird, diesen Herausforderungen zu begegnen.« Maßstab für das Bildungswesen sind also wirtschaftliche Interessen. Zu deren Umsetzung soll nach den Vorschlägen des Rates u.a. die Fortbildung des Lehrpersonals beitragen. Möglich werden soll auch Unterricht ohne die gleichzei­tige Anwesenheit Lehrender und Lernender an einem Ort. Empfohlen wird dazu eine Bildungspartnerschaft zwischen Schulen und Wirtschaft. Was bedeutet das für die Schülerinnen und Schüler?

3.1 Computer und Religion

Aufklärung habe ich zuerst als Aufklärung über Religion und dann als Aufklärung über Technologie dargestellt. Die Mythen der Religion werden durch technologische Mythen ersetzt. Wie man so etwas macht, zeigen die Vorschläge des Rates. Ich habe dazu einmal einige behauptete Wirkungen der Computertechnologie zusammengestellt: Sie löse eine dritte technologische Revolution aus, sie könne die Wettbewerbsfähigkeit sichern, sie werde alle Lebensbereiche des Menschen verändern, sie werde alle kulturellen Formen verändern, sie werde die räumlichen und zeitlichen Grenzen der Welt relativieren, usw. usw.

Wie gesagt: Das alles bewirkt nach Meinung des Rates die Computertechnologie. Solche Wirkungen wurden bisher allenfalls einer Göttin oder einem Gott zugetraut. Sagte der kirchliche Mythos noch: "Gott ist überall", so heißt es jetzt beim Rat wörtlich: "Internet und Multimedia sind überall". So werden Computer mystifiziert. Sie bestimmen dann statt einer Göttin oder eines Gottes das Schicksal des Menschen, sein Leben und seine Arbeit. So macht man Technologie zum Mythos.

Von Aufklärung ist dabei allerdings nichts zu sehen. Individuen und ihre Ansprüche tauchen allenfalls als Konsumenten von Information auf Menschlichkeit steht nicht auf dem Programm. Denn von Schülerinnen und Schülern ist kaum zu erwarten, dass sie aus eigener Kraft die Mythen der Technologie und die damit verbundenen gesellschaftlichen Interessen reflektieren können. Dazu müsste sie nicht nur die Technologie, sondern auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge kennen. Werden Kinder und Jugendliche mit den Geräten auch noch alleine gelassen (was der Rat ja vorschlägt), liefert man sie schutzlos an die Technik aus.

3.2 Computer und Wirtschaft

In dem Positionspapier des Rates wird weiter vorgeschlagen, dass Menschen der Zugang zur computergestützten Kultur »ermöglicht« wird. Es gelte, ein Klima der Aufgeschlossenheit für die neuen Technologien zu schaffen. Ziel sei es, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mit Hilfe des Bildungswesens zu erhalten. Der Rat wörtlich: »Es [das Bildungswesen c.s.] hat die Aufgabe, die Menschen auf ein Leben mit den neuen Techniken vorzubereiten [ ... ]. « Diese Vorschläge lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig: Eine Anpassung der Kinder an die durch die Computertechnologie veränderten Produktionsbedingungen soll in der Schule stattfinden. (Nebenbei: die Informationsgesellschaft wird offenbar auch eine kapitalistische sein. So weit ist es mit dem revolutionären Potential der Technik denn wohl doch nicht her ... )

Damit ist der Rat auf bekanntem Terrain: Die Aufgabe der Schule soll wie zu Beginn der Industrialisierung eine Anpassung der Bevölkerung an die wirtschaftli­chen Bedürfnisse sein. Hier ist von Fortschritt oder zukunftsträchtigen Entwicklungen wenig zu sehen. Diese Vorschläge sind äußerst konservativ, sie zementieren bestehende Abhängigkeitsstrukturen. Hier ist von Individuen, humanistischen Ideen oder Aufklärung keine Spur zu finden. Zwar wird eine "gute Lind umfassende Bildung" auch in der Informationsgesellschaft vom Rat für wichtig gehalten. Es geht aber offenbar nicht um aufgeklärte Bildung, sondern um Bildung als Anpassung an Wirtschaftsbedarfe. Der gebildete Mensch soll nicht einer sein, der selber denken kann, sondern einer, der gut funktioniert. Die Kinder werden so nicht nur an den technologischen Mythos, sondern auch an die wirtschaftlichen Interessen ausgeliefert.

Neben diesen Aspekten spielte die Macht in der Aufklärung eine wichtige Rolle: Wie sieht es mit der Machtfrage heute aus?

3.3 Computer und Macht

Dazu ein Zitat: "Die neuen Medien schaffen freilich auch Probleme, unter anderem solche der Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen." Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen wird als Problem gesehen. In der Erläuterung wird deutlich, worin das Problem besteht: "Einerseits wird die repräsentative Demokratie in Frage gestellt, wenn jeder Bürger sich im Prinzip unmittelbar an der politischen Willensbildung beteiligen kann Das gelte es zu vermeiden. Statt dessen sollten die Computernetze   so der Rat weiter   dazu verwendet werden, die Akzeptanz politischer Entscheidungen zu fördern.

Eine demokratische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen wird offenbar nicht gewünscht. Computernetze können hier in der Tat helfen: Wir dürfen dann über das Internet die politischen Entscheidungen zur Kenntnis nehmen und einen interaktiven Kommentar abgeben. Damit hat die Politik die Bürgerinnen und Bürger vom Hals, Protest findet nur noch virtuell statt.

Computertechnologie wird damit als Instrument zur Stabilisierung und Institutionalisierung vorhandener hierarchischer Machtstrukturen verwendet. Auch hier wird dem einzelnen Menschen nicht viel zugetraut. Statt dessen will der Rat den »institutionalisierten Diskurs« retten. Ein Demokratieverständnis, dass ich nicht teile: In einem demokratischen Staat sollte die Macht vom Volke ausgehen.

Die Position des Rates wird aber aus der historischen Perspektive verständlich: Da die Kirche durch die Aufklärung und die Ablösung der Göttinnen und Götter durch das Bürgertum mit seiner Technologie entmachtet wurde, erwartet man offenbar, dass durch Aufklärung über die Computertechnologie den jetzt Herrschenden in einer Informationsgesellschaft ähnliches droht. Das wollen sie vermeiden, und die eingeschlagene Doppelstrategie ist dazu durchaus geeignet: Auf der einen Seite wird Aufklärung, auf der anderen Seite demokratischer Machtgewinn des Volkes verhindert. Damit ist deutlich: Nicht nur Aufklärung ist zu fordern, sondern auch Emanzipation.

4 Perspektiven

Erziehungsziele für die Schule werden durch politische Entscheidungen festgelegt. Vor allem über Curricula, aber auch über die Staatsexamen für angehende Lehrerinnen und Lehrer, die Schulgebäude, und eben auch über die angeschafften Sachmittel z.B. Computer. Die Wirkung dieser Festlegung sollte man nicht unterschätzen: Hier werden grundlegende Entscheidungen über Ziele und Formen der Schule getroffen.

Mit dieser Macht ist Verantwortung verbunden. Die politische Entscheidungen über die Ziele der Schule sollten daher sorgfältig getroffen werden.

Die Vorschläge des Rates sind nicht dazu geeignet, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Statt auf die vorgeschlagene Auslieferung und Anpassung sollte die Ideen des freien Menschen wieder hervorgeholt werden. Es sollte nicht der Computer unterrichten, sondern über Computer unterrichtet werden. Computer sollten nicht Maßstab, sondern Gegenstand des Unterrichts sein..

Eine Befreiung des Menschen aus den Mythen der Technologie ist vorstellbar, indem der Mensch sich auf sich selbst besinnt. Wir als Menschen entscheiden über uns selber. Damit müssen und können wir leben. Das wirft uns auf uns selbst zurück. Und daraus, aus der Besinnung des Menschen auf sich selbst, entsteht die Herausforderung für die Schule. Sie sollte die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, mit dieser Herausforderung umzugehen. Die Persönlichkeit sollte dazu gefördert und zum Umgang mit dem eigenen Denken und Handeln angeleitet werden. Damit wird der Mensch in den Mittelpunkt von Bildung gestellt. Und der Mensch wird zugleich das Ziel. Den Menschen stark zu machen ist, die Herausforderung für die Schule.

Unter dieser Perspektive sollte die soziale, politische und wirtschaftliche Hand­lungsfähigkeit gefördert werden. Das hieße z.B., die Fähigkeit, soziale Beziehungen aufzubauen durch Unterricht zu fördern. Oder die aktive Beteiligung an politischen Entscheidungen zu lernen. Oder die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit durch die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen zu fördern. Die Interessen von Wirtschaft und Politik sollten in der Schule berücksichtigt werden. Aber diese Interessen dürfen nicht das einzige sein, was Unterricht bestimmt.

Auch Kritik muss gelernt werden können. Das erreicht man nicht durch das Vertrauen auf eine natürliche Kritikfähigkeit. Computer sind keine Natur, Computer sind ein künstliches Erzeugnis und mit gesellschaftlichen Interessen verbunden. Die Struktur der Technik und die mit ihr verbundenen Interessen entziehen sich leicht dem Zugriff einzelner. Fähigkeit zum Umgang mit der Technik sollte nicht nur die "Bedienung" der Maschinen, sondern auch Reflexion beinhalten.

Computer sind dazu keineswegs zwingend erforderlich. Statt reiner Anpassung sollte eher gelernt werden, auf den Gebrauch von Computertechnologie bewusst verzichten zu können.

Auf den Menschen sollte die Schule setzen, nicht auf die Technologie. Die Vorschläge des Rates werden der politischen Verantwortung für die Schule nicht gerecht. Statt Anpassung an die Technologie zu leisten, kann Schule über Computertechnologie aufklären. Wenn dabei der Umgang mit Computern gelernt wird, ist das kein Fehler. Wenn die Fähigkeit zum Verzicht gelernt wird, ist das auch kein Fehler. Wenn aber nur der Umgang ohne Aufklärung gelernt wird, wird der Mensch an die Maschine angepasst. Dann ist es besser, keine Computer in den Schulen zu benutzen.

1 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Frankfurt am Main' 1970

2 Störig, Hans-Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie; Kohlhammer: Frankfurt am Main 1990

3 vgl. zur Industrieschule: Koneffke, Gernot: El. Ph. Sextros Schrift "Über die Bildung der Jugend zur Industrie" (Göttingen 1785) und die theoretische Grundlegung der norddeutschen Industrieschulbewegung; in: Heydorn, Heinz-Joachim; Koneefke, Gernot: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung. List: München 1973; S. 51-82

4 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hrsg.):lnformationsgesellschaft. Chancen, Risiken und Herausforderungen. Feststellungen und Empfehlungen, Bonn: 1995 (auch: http://www.dlr.de/bmbf)