Die Fraktale Fabrik
aus diesem Text lassen sich auf einprägsamste Art und Weise zwei sehr wichtige Erkenntnisse ableiten:
1 Die Japaner haben bewiesen, dass sowohl die Förderung der Kreativität und der Motivation des "einfachsten" Mitarbeiters, als auch die Integration dieser Mitarbeiter in den Entscheidungsprozess ein Schlüssel zum Erfolg in der heutigen Zeit ist. Auch wenn selbstverständlich die Ziele und Vorgehensweisen im Detail ganz anders sind, wird in solch ganz unterschiedlichen Management-Werkzeugen wie, z.B., die ® GWA und das ® NPM offensichtlich versucht, neue Ideen und (unternehmerische) Verantwortung nicht nur auf höchster Ebene zu entwickeln bzw. anzusiedeln.
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Obwohl frühere Management- und Fertigungsmethoden heutzutags (richtigerweise)
kritisiert bzw. als überholt betrachtet werden (wie z.B. der Taylorismus
unten), darf man nicht übersehen, dass solche Methoden auch nur schrittweise
weiterentwickelt werden konnten und können. Der Taylorismus bedeutete bei
seiner Einführung einen höchst kreativen Fortschritt. Und aus Gründen die
unten ersichtlich werden, wäre es damals schier unmöglich gewesen, eine
fraktale Fabrik, z.B., einzuführen. Die notwendigen Voraussetzungen dazu hätten
schlichtweg gefehlt.)
Die
fraktale Fabrik - Überwindung des hierarchischen Taylorismus
Die Neuorganisation des Arbeitsprozesses mit selbständig operierenden, doch
miteinander verbundenen Arbeitseinheiten wird als zentrale Aufgabe für eine
nachtayloristische Arbeitswelt gesehen. Mit der modernen mathematischen
Betrachtungsweise selbstähnlicher Strukturen lässt sich die neue
Produktionsstruktur anschaulich erklären. Es zeigt sich, dass die ® «Lean
Production» nicht die letzte Antwort auf unsere Probleme sein kann.
Die Organisation der traditionellen Industriewelt basiert auf den Erkenntnissen
des amerikanischen Ingenieurs Frederick W. ® Taylor (1856 bis 1915) und seines
Epigonen Henry Ford I. Sie waren die Erfinder der Arbeitsteilung und
Fliessbandfertigung, und sie zerlegten die Fabrikarbeit in viele kleine
Einheiten, wobei die wenig gebildeten Arbeiter schnell und möglichst ohne viel
Gedankenarbeit in grossen Fabrikhallen immer gleiche Handgriffe in
hintereinandergeschalteten Arbeitsvorgängen ausführten. Damit konnte sehr viel
kostengünstiger als in den zerstreuten Handwerksbetrieben gefertigt werden.
Diese industrielle Massenfertigung hat zu Wirtschaftswachstum und
Massenwohlstand geführt.
Systemimmanente Schwächen des Taylorismus
Charakteristisch für den Taylorismus bzw. Fordismus war eine Hierarchie, die
von wenigen, geschulten Menschen bestimmt war und welche die Firmen pyramidenförmig
durchdrang. Wuchernde Bürokratie, mangelnde Flexibilität, starre Arbeitszeiten
sowie geringe Verantwortung der Beteiligten wurden sehr rasch Kennzeichen des
Taylorismus. Neue Produkte wurden in speziellen Forschungsabteilungen
entwickelt, und die Qualitätskontrolle fand isoliert am Produktionsende in
einer Endkontrolle statt, die Mängel mit grossen Kosten beseitigen musste.
Systemimmanent war auch, dass sich durch die geringe Verantwortung der einzelnen
Mitarbeiter Verschwendung ausbreitete. Eine hohe Lagerhaltung wurde nötig, weil
in den starr hintereinander angeordneten Arbeitsvorgängen zahlreiche Puffer
eingebaut werden mussten. Oft wurde auf Vorrat gefertigt. Mit fortschreitender
Ausbildung der Fabrikarbeiter - auch auf mittlerer und unterer Ebene -, der
Durchsetzung von Demokratieprinzipien - Mitwirkung und Mitbestimmung -, den
allgemeinen Emanzipationsbestrebungen der lohnabhängig Arbeitenden und mit der
höheren Komplexitätsgrade der Produkte war klar, dass der Taylorismus einer «postfordistischen»
Produktionsweise zu weichen hatte. Die Kreativität der Mitarbeiter wird gefördert
und der Arbeitsprozess auf den Kunden ausgerichtet.
«Lean Production» als neuer Ansatz
Eiji Toyoda und sein Produktionsingenieur Taiichi Ohno haben bereits in den fünfziger
Jahren für die Autoindustrie Überlegungen angestellt, wie das
Produktionssystem des Taylorismus effizienter gestaltet werden könnte. Es
entstanden japanische Produktionsmethoden, die mit den folgenden Begriffen
umschrieben werden können: Das ® «Kanban-System» vermindert den
innerbetrieblichen Materialfluss durch stark reduzierte Zwischenlager (® «Just-in-time»-Lieferungen).
Das ® «Total Quality Management» und der «Quality Circle» (Anm.: siehe®
Qualitätszirkel) ersetzen die bisherige Endkontrolle durch eine permanente
Qualitätskontrolle während des gesamten Produktionsprozesses. Das ® «Kaizen»
vermeidet grosse Sprünge bei der Einführung neuer Techniken und führt
Neuerungen bei fortlaufendem Prozess unter Beteiligung der Mitarbeiter auf
Gruppenebene in kleinen Schritten ein. Integration und nicht Teilung wird zum
Prinzip; die Arbeitsgruppe wird selbständige Produktionseinheit. Womack, Jones
und Ross vom Massachusetts Institute of Technology fassten die neue japanische
Produktionsweise 1990 in ihrem Bestseller «Die zweite Revolution in der
Autoindustrie» unter dem Schlagwort ® «Lean Production - schlanke Produktion»
zusammen. Interessanterweise enthüllten sie dabei, dass nicht die niedrigeren Löhne
oder der höhere Automatisierungsgrad japanische Produkte kostengünstiger
machten; es lag vielmehr an der besseren Organisation in Produktion und
Management, dass die Japaner nur 16 Stunden gegenüber 25 Stunden der Amerikaner
und gar 36 Stunden der Europäer benötigten, um ein Auto zu bauen. Die «Lean
Production» ist inzwischen überall eingeführt (Anm. d. Red.: nach der
Publikation dieser Erkenntnisse hat die Privatwirtschaft im Westen also sehr
schnell reagiert! Könnte die öffentliche Hand notwendige Veränderungen ähnlich
schnell einführen?); Produktionssteigerungen um 20-30% gegenüber der
tayloristischen Arbeitsteilung sind keine Seltenheit.
Selbstorganisation und Selbstoptimierung
Morphologisch interessant ist, dass sich die geschilderte Entwicklung der
industriellen Organisationsstruktur unter den modernen Begriff der
Fraktalbildung einordnen lässt: J. Warnecke von der Universität Stuttgart
sprach bereits von der «fraktalen Fabrik», und L. Hellkuhl hat sich Gedanken
über die Gesetzmässigkeit der Gruppenbildung in Unternehmen gemacht, die der
selbstähnlichen Fraktalbildung in hochkomplexen Strukturen nahekommt. Diese
Begriffe entstammen der von B. Mandelbrot in den siebziger Jahren eingeführten
Theorie der fraktalen Geometrie, mit der die Selbstorganisation und
Selbstoptimierung natürlicher Strukturen, also auch höherer Organismen,
beschrieben werden kann. In gewissem Sinne ergänzt diese Theorie die von I.
Prigogime entdeckte Eigenschaft von offenen dissipativen Systemen, deren innere
Entropie (Unordnung in der Strukturbildung) abnehmen kann, wenn von aussen ein
Energiefluss eindringt. Übertragen auf den Industriebetrieb bedeutet dies, dass
dieser als lernfähiger «lebender Organismus» aufgefasst werden und sich im
Spannungsfeld des Marktwettbewerbs selbst optimal organisieren muss. Das Fraktal
ist nun eine «selbständige Unternehmenseinheit, deren Ziele und Leistungen
eindeutig beschreibbar sind» (J. Warnecke). Ihr wichtigstes Merkmal ist die
Selbstähnlichkeit; jede Mitarbeitergruppe versteht sich als Dienstleister der
Kollegen und löst ihre Aufgaben ganzheitlich inklusive Qualitätskontrolle.
Alles geht von der Gruppe aus, und höhere Ordnungszustände entstehen aus den
niedrigeren - also gerade umgekehrt wie im Tayloristischen System.
Die Fabrik in der Fabrik in der Fabrik . . .
Möglich wird dies, weil der Bildungsstand der Arbeiterschaft und die
Bereitschaft zur Übernahme grösserer Verantwortung in den letzten Jahrzehnten
stark gewachsen sind. Der effektiv höhere Komplexitätsgrad der Strukturen
erlaubt es, die Kreativität der Mitarbeiter (Anm.: siehe ® Kreativitätskiller)
nutzbar zu machen, wobei im lernfähigen System eine optimierende
Selbstorganisation in Gang kommt - in diesem Falle mit dem erklärten Ziel einer
höheren Produktivität und damit einer höheren Wettbewerbsfähigkeit. Die
(…) zeigt eine (…) fraktale Gruppenstruktur (…). Es handelt sich um einen
fraktal organisierten, typisch mittelständischen Betrieb (…). Was die Gruppe
in der niedrigeren Ordnung leisten kann, wird prinzipiell nicht von der Gruppe höherer
Ordnung wahrgenommen. So entstehen relativ selbständige, leicht überblickbare
Einheiten. Beginnend mit einer «Keimzellengruppe», lassen sich so grosse
Unternehmungen mit Tausenden von Mitarbeitern abbilden. Nach dem Selbstähnlichkeitscharakter
des Aufbaus und nach der relativen Selbständigkeit der Gruppen kann von der
Fabrik in der Fabrik in der Fabrik . . . gesprochen werden.
Das Sierpinski-Dreieck als Modell für Selbstähnlichkeit (…)
Es wird deutlich, dass die Informationswege einer solchen Fabrikstruktur nicht
proportional zu der Grösse wachsen, sondern viel kürzer sind als in der
seriellen klassischen Hierarchie der Unternehmensstruktur nach Taylor. Die Einführung
der schlanken Produktion mit fraktaler Produktionsstruktur ist sicher eine
Methode, die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Das
System kann gegenüber dem einzelnen Mitarbeiter die «Entfremdung» von der
Arbeit aufheben, weil es ihn mit seiner Kreativität und seinem
Verantwortungsgefühl aufwertet.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 21. Mai 1994
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