Vermittlung und Interesse

Zwei Schlüsselkategorien fachdidaktischer Grundlagen im Geographieunterricht

Christian Vielhaber                 Artikel aus : Vielhaber Ch. Hg. (1999): Fachdidaktik kreuz und quer.

Bd.15 der Materialien zur Didaktik der Geographie u. Wirtschaftskunde.

Institut für Geographie Uni Wien

1) Einführende Bemerkungen

Der folgende Beitrag soll als Plädoyer zu Gunsten einer professionellen fachdidaktischen Begründungskompetenz verstanden werden. Diese ist seitens der Universität als grundlegender Ausbildungsstandard bei allen Absolventen des Lehramtstudienganges einzufordern, will man die Qualität des schulpraktischen Unterrichts im Vergleich zur aktuellen Situation (vgl. Götz 1995) ernsthaft und nachhaltig steigern.  .

 Unter fachdidaktischer Begründungskompetenz verstehe ich die Fähigkeit, auf der Grundlage  bewußt ausgewählter Theorien, Unterricht zu strukturieren und Steuerungselemente von Lehr- und Lernprozessen so einzusetzen, daß ein angestrebtes und wenn möglich mit den TeilnehmerInnen eines Lehr-Lernverbundes vereinbartes Unterrichtsergebnis erreicht wird. Als Vorbedingung dieser Begründungskompetenz gilt m.M. die Einsicht, daß das gesamte Spektrum schulpraktischer Bildungsbemühungen von der frontalen Vermittlung stoffbezogener Lerninhalte bis hin zu offenen Lernstrukturen, die auf Selbsttätigkeit und entdeckendem Lernen aufbauen, immer interessengeleitet ist. Sich über diese Interessen klarzuwerden, erachte ich als jene Schlüsselqualifikation, die Lehrenden die Rahmenbedingungen, unter welchen ihr unterrichtliches Handeln stattfindet und stattfinden kann, erst klar werden läßt.

2) Was hat Habermas  mit der Fachdidaktik Geographie zu tun?

 Eigentlich nichts, wenn ich die Zusammenhänge zwischen Unterrichtsinhalten und Interessensbindungen nicht sehen möchte. Dann muß ich mich aber auch der Einsicht verwehren, daß im Rahmen von Unterricht ebenso wie in den Sozialwissenschaften die „doppelte Hermeneutik“ wirksam wird (Habermas 1985, S. 162). Das bedeutet: Verstehensprobleme kommen nicht nur verursacht durch die Theorieabhängigkeit individueller Lernprozesse zum Tragen, sondern die Verstehensproblematik beginnt bereits bei der Auswahl von Inhalten bzw. unterrichtsleitenden Fragestellungen.

 Warum, so könnte diesbezüglich reflektiert werden, gehen Lehrende davon aus, daß ein angestrebtes Lernziel über die thematische Erschließung X leichter, eindrucksvoller und nachhaltiger erreicht werden kann als beispielweise über  den inhaltlichen Zugang Y; oder, warum wird bei der Erschließung einer bestimmten Problemstellung so widerständig an einem bestimmten Vermittlungsritual festgehalten, obwohl die Erfahrung gelehrt hat, daß der gewählte fachdidaktische Zugang keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, Verzeihung, keinen Schüler und keine Schülerin aus seiner bzw. ihrer Lethargie herauslösen kann?

 Wenn ich also als Lehrender nicht willends bin, mich im Rahmen meiner Unterrichtsplanung willfährig curricularen Zielkatalogen oder ausformulierten Lehrbuchinhalten zu unterwerfen, und meinen Bildungsauftrag auch nicht darin sehe, gleichsam als Vollzugsorgan nicht reflektierter Lernkonzepte zu fungieren, dann hat Habermas in Bezug auf ein  umfassenderes Verständnis von  Fachdidaktik Geographie einiges anzubieten.

Aus der Fülle seines Angebotes möchte ich vor allem auf seine These zurückgreifen, die er in seinem ewig jungen Buch mit dem programmatischen Titel „Erkennntis und Interesse“ veröffentlicht hat und die da lautet, daß nicht nur der Verwertungszusammenhang sondern bereits dass Zustandekommen, also der Konstitutionszusammenhang von Erkenntnis interessengeleitet ist.

 Erkenntnis selbst kann als ein Prozeß im Spannungsfeld von Wahrnehmung und Wirklichkeit gesehen werden und bedeutet gleichzeitig auch das Resultat dieses Prozesses. Wege zur Erkenntnis sind zahlreich und vielschichtig. Sie spannen sich von der Position, daß die wirkliche Welt tatsächlich so beschaffen ist, wie sie uns erscheint und daß alle realen Dinge und Prozesse logische Konstruktionen aus Sinnesdaten sind, bis zur reinen Vernunfterkenntnis, die Sinnes“Wahr“nehmung als verläßliche Erkenntnisquelle ausscheidet.

 Wir Geographen haben uns immer sehr schwer getan, Erkenntnis oder für uns: „die Welt“ bzw. einen erdräumlichen Ausschnitt davon nicht nur als Abbild von Wirklichkeit zu  sehen, sondern als Konstruktion einer Wirklichkeit, die erst durch Kommunikation, durch Beziehungen mit der Umwelt Sinn erhält. Diese Deutungsschwierigkeiten lassen sich im Rahmen traditioneller Sichtweisen nicht so ohne weiteres aus dem Weg räumen. Offenbar bedarf es der Fähigkeit, Dinge oder auch Welt(bilder, -ausschnitte etc.) neu zu denken, um kommunikationsfähig in dem Sinn zu werden, nicht auf „eine Welt“ als unveränderbares Vermittlungsobjekt zu beharren, sondern eine bereits in einer bestimmten Weise vorstrukturierte Wirklichkeit zumindest als Möglichkeit zu akzeptieren und damit offen für weitere Deutungen zu sein. Gerade diese Akzeptanz würde uns als Lehrende die Perspektive eröffnen, gemeinsam mit unseren SchülerInnen einen Verständnisvorgang in Bezug auf Wirklichkeit einzuleiten, der konstruktiv vorangetrieben werden könnte. Der Unterricht  wäre damit jener Rahmen innerhalb dessen unterschieden wird zwischen „der Welt“ wie sie für uns als Lehrende erscheint und der Welt vom differenzierten Standpunkt der Handelnden aus. Die im Rahmen eines Lernprozesses vorgebrachten rationalen Deutungen, wären somit nicht das Ende eines Erklärungsansatzes sondern wären als Anfang zu verstehen, der sich auf der Grundlage kommunikativer Handlungen weiter entwickeln ließe. Der Frage welchen Interessen eine bestimmte Interpretation von „Welt“ = „Erkenntnis“ = „Vermittlungsinhalt“ im Rahmen der Auseinandersetzung über einen bestimmten Problemzusammenhang dient, käme für einen Bildungsweg, der die Erreichung reflexiver Fähigkeiten zum Ziel hat, zentrale Bedeutung zu.

 Ausschlaggebend dabei ist die Klarlegung, wem die angepeilte Erkennntis eigentlich dienen bzw. nützen soll, welches erkenntnisleitende Interesse die Forschungsüberlegungen steuert. Habermas differenziert diesbezüglich grundlegend und gibt ein technisches, ein praktisches und ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse vor, wobei alle drei Interessensbereiche auf bestimmte Handlungskontexte verweisen, denen sie angehören und in denen sich Erkenntnisnormen und -gegenstände überhaupt erst konstituieren (vgl. dazu Schmidt-Wulffen 1998):

 * Das „Technische Erkenntnisinteresse“ entspricht dem Typus des „Instrumentellen Handelns“

 * Das „Praktische Erkennntisinteresse“ dem, des „Kommunikativen Handelns“

 * Das „Emanzipatorische Erkenntnisinteresse dem, der praktisch und politisch folgenreichen Selbstreflexion.

3) Warum sollen Erkenntniswege nicht auch Vermittlungswege sein?

 Das Spannungsfeld „Wahrnehmung und Wirklichkeit“ kennzeichnet, wie wir oben bereits angedeutet haben,  nun sicherlich nicht nur Wege der Erkenntnis im wissenschaftlichen, sondern auch Wege der Vermittlung im didaktischen aber auch schulpraktischen Bereich.

 Wenn ich diese Affinität als konstitutiv erachte, dann können wir uns dies auch zunutze machen und das Verhältnis „Realität und Erkenntnis“ auf das Verhältnis „Realität und Vermittlung“ transformieren oder umpolen, denn in beiden Fällen geht es um Fragen, die die Erfassung bzw. Übereinstimmung zwischen Welt und unserem Bild von der Welt betreffen. Eigentlich ist die Feststellung, daß Erkenntnissuche und -wege von unterrichtspraktischen Vermittlungsbemühungen gar nicht so weit entfernt sind „common sense“, denn was anderes erfahren und erleben SchülerInnen, die im Rahmen selbsttätigen und entdeckenden Lernens  zu für sie neuen Einsichten vorstoßen als genau dasselbe, was WissenschafterInnen im Rahmen ihrer Erkenntnissuche erfahren und erleben.

 Diese Übereinstimmung tritt allerdings nur dann auf, wenn den SchülerInnen ein Lerninhalt nicht stofflich fertigverpackt als eine Art Reproduktionsfutter vorgesetzt wird, ohne weitere Möglichkeit, die dem Lerninhalt immanenten Fragestellungen auf Grundlage persönlicher Zugänge zu erweitern. Lassen Sie uns also diesen Transfer  - in Anlehnung an Habermas -  etwas detaillierter vollziehen und tun wir ganz einfach so als ob „Erkenntnis“ und „Vermittlung“ das gleiche Paar Schuhe wären:  

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4) Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnis sondern auch schulpraktische Vermittlung ist interessengeleitet

 Was steht hinter den „schulpraktischen Vermittlungsinteressen“, die wir in der Folge auch „Bildungs-Ambitionen“, nennen können und die auf Grund bestehender (Aus)Bildungsdefizite in viel zu vielen Fällen auch unbewußt zu unterrichtsleitenden oder zumindest -steuernden Faktoren werden und welche Abhängigkeiten für den schulpraktischen Unterricht könnten in Bezug auf die ausdifferenzierten Iinteressenstypen im Hinblick auf die Trias Didaktik - Methodik-Unterrichtspraxis aufgezeigt werden?

Versuchen wir nun gemeinsam den Sprung von der Ebene doch eher abstrakter Typenvorstellung hin zu konkreten potentiellen Unterrichtsverläufen bzw. Lernprozessen, die den einzelnen ausdifferenzierten Interessensbindungen  unterliegen. Wie wäre beispielsweise ein Geographieunterricht vorstellbar, der Typ 1 zuordenbar wäre?

 Dieser Unterrichtstyp weist eine Organisationsform auf, dessen Verlauf sich dadurch charakterisieren läßt, daß so ziemlich alle Inhalte, die in Form linearer Wissenvermittlung von Lehrpersonen an Schüler weitergegeben werden, ohne jeden weiteren Begründungszusammenhang in Form reines Reproduktionswissens prüfend abgefragt werden: Aus vielen vorstellbaren inhaltlichen Varianten nehmen wir beispielsweise das bei SchülerInnen,  LehrerInnen wie BuchautorInnen gleichermaßen beliebte Thema  Regenwald, um die Hintergründe unreflektierten Vorgehens zu verdeutlichen. Die Annäherung an die Themenstellung erfolgt, wie Unterrichtsbeobachtungen aber auch Analysen von Lehrbüchern belegen, vornehmlich über  Begriffsklärungen wie etwa Tropenklimat, Stockwerkkulturen, Zenitalregen, Edelholzarten etc. oder über Verteilungsmuster. 

 Das Angebot umfaßt ein Sammelsurium von Beliebigkeiten, deren Auswahl und Stellenwert für Bildung vom Adressaten eigentlich nicht nachvollzogen werden können, weil die Verwendungszusammenhänge nicht einsichtig sind. Selbst wenn alle möglichen Antworten, die auf Grund der potentiellen Ftagestellungenerbracht werden könnten, addiert würden, die SchülerInnen kämen doch zu keinem für sie sinnvollen Verwendungszusammenhang der aufgenommenen Informationen in Bezug auf den Lebensraum „Tropischer Regenwald“.Von der Qualität her ist es „totes Wissen“, das in diesem Fall transportiert wird. Dieses könnte erst dann zum Leben erweckt werden, wenn es in Beziehung zu den Interessen und Bedürfnissen der SchülerInnen tritt und zwar derart, daß es ihnen möglich gemacht wird, sich dieses Wissen produktiv anzueignen (Wofür kann ich das jetzt brauchen?) und kritisch weiterzuentwickeln (Wozu ist das eigentlich noch verwertbar? Haben die gewonnenen Einsichten für mich in irgendeiner Weise Bedeutung)

 Typ 2

 Durch das Technische Vermittlungsinteresse werden inhaltlich Lernprozesse gesteuert, die kurz gesagt einer Wenn - Dann Rationalität unterliegen. Sie alle kennen diesbezügliche Beispiele:

„Wenn von den EU-Staaten die fiskalischen und monetären Konvergenzkriterien erfüllt wurden, dann ist die Zulassung zur Währungsunion legitim“ (Beispiel einer diesbezüglichen Arbeitsaufgabe: Ausgangspunkt ist eine Tabelle der EU Mitgliedstaaten aus der die entsprechenden Konvergenzkriterien ablesbar sind und die definierten Standards der Konvergenzkriterien, als Voraussetzung zum Eintritt in die Währungsunion - Liste jene Länder auf, die zum Zeitpunkt x zur Währungsunion zugelassen werden, wenn die angegebenen Grenzwerte als Zulassungskriterien  erfüllt sein müssen)

 „Wenn ein bestimmtes Einkommen erreicht wird, dann kommen spezifische Kriterien der Wohnstandortwahl zum Tragen“ (Beispiel einer diesbezüglichen Arbeitsaufgabe: Ausgangspunkt sind Informationen über Einkommens und Vermögenssituation von bestimmten Privathaushalten, sowie über ihre soziale Struktur und die Immobilieninserate der Wochenendausgabe einer Tageszeitung -  Begib dich auf Wohnungssuche. Welche Angebote des Immobilienmarktes kommen für Dich auf Grund der budgetären Lage des dir zugeteilten Hauhaltes (Schüler erhält für zugeteilten Haushaltstyp bestimmte Farbklebepunkte) in Betracht? Trage die gefundenen Standorte in den an der Tafel angebrachten Stadtplan mittels der entsprechenden Farbklebepunkten  ein  )

 „Wenn alpiner Raum dann Grünlandwirtschaft“ (Beispiel einer diesbezüglichen Arbeitsaufgabe: Ausgangpunkt sind die Bodennutzungsarten auf Gemeindebasis entsprechend den Zensusangaben von ausgewählten alpinen Gemeinden und ihren Nachbargemeinden, die bereits im Alpenvorland liegen. - Zeichne auf einer entsprechenden Karte  die Grenze des Alpenraumes in den vorgegebenen Kartenausschnitt ein und färbe entsprechend den Angaben der verfügbaren Statistik die Gemeindeflächen mit dominanter Grünlandwirtschaft mit grüner Farbe, die Gemeinden, in denen andere Bodennutzungsarten vorherrschen mit brauner Farbe ein.)

 Etc., etc.

 Tragfähigkeitsüberlegungen, Bestimmung von Armutsgrenzen und Entwicklungsstandards bis hin zu Maßstabsarbeiten und Zuordnungsaufgaben zu spezifischen Klassen, Zonen oder Gruppen, all das kann unterrichtlich unter diesem Typ subsummiert werden.

 Das grundlegende Problem dieses Ansatzes ist uns allerdings allen geläufig: Es ist die ihm immanente Dogmatik, die für den Geographieunterricht lautet: Wie ich als Lehrer die Welt sehe, ist es richtig, wenn du (Schüler) es anders siehst, bist du entweder dumm oder feindselig. Das Dilemma einer exklusiv zweckrational gesteuerten Didaktik besteht darin, daß es im Rahmen jeglicher Problemerschließung eine Anfangsursache und eine(n)  Schuldige(n) geben muß, wenn etwas nicht funktioniert. Doch wir  VertreterInnen  der Wissenschaft und der Schulpraxis sollten inzwischen im Umgang mit der Realität sehr wohl gelernt haben, daß sich ein System auch dann als nicht funktionsfähig erweisen kann, wenn sich alle Beteiligten aus ihrer Sicht wohlwollend und rational verhalten.

 Ein Unterricht, der gleichsam exklusiv  über das Technische Vermittlungsinteresse gesteuert wird, greift also in vielen Fällen vorstellbarer Auseinandersetzungen mit gegenwartsorientierten Fragestellungen zu kurz, um den SchülerInnen für sie einsichtige Begründungs- und Verwertungszusammenhänge zu vermitteln.  

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 Typ 3

Kommt der Lernprozeß in eine Phase, in der das praktische Vermittlungsinteresse leitend wird, ist damit - klar erkennbar - eine Expansion des Subjektiven verbunden und der Aspekt einer differenzierten Wertebegründung bezüglich problematisierter Fragestellungen. Allerdings: Die Wertezuweisungen im grundsätzlichen Bereichen werden von außen vorgegeben. Dadurch wird ein gesellschaftlicher Rahmen aufgebaut, innerhalb dessen sich Schüler und Lehrer konsumierend, fragend und suchend bewegen. Die gesamte Interaktion, die im Unterricht zwischen den Beteiligten  abläuft, alles Handeln, Diskutieren und Reflektieren, das Aufzeigen aller möglichen Perspektiven einer Fragestellung u.v.a.m. spielt sich in einem quasi abgesteckten, gesellschaftlich akzeptierten Rahmen ab. Die Ethik, die eingemahnt wird, ist immer einer christlich abendländische sowie eine pluralistisch demokratische, was außerhalb dieser Perspektiven liegt, erscheint den Beteiligten am Lernprozeß ganz einfach als nicht existent. Kurz: Die didaktische Aufgabenstellung läßt sich klar formulieren. Es werden Lebenssituationen entworfen, die sich an einer fortgeschrittenen Moderne orientieren und für die gilt es für die SchülerInnen Bewährungs- und Bewältigungsszenarien zu entwerfen.

 Wenn wir uns fragen, entlang welcher didaktischer Leitlinien sich ein Unterricht überzeugend entwickeln läßt, der dem praktischen Vermittlungsinteresse folgt, gibt es wohl nur eine Antwort: Es ist der curriculare zielorientierte Ansatz, der durch seine „Lebenssituationsorientierung“ das „praktische Vermittlungsinteresse“ gleichsam manifest machte.

 Diese Ausrichtung an potentiellen realen Situationen des Lebens, wurde ab den Achtziger Jahren, als das Lernen mit allen Sinnen wiederentdeckt wurde, zweifelsohne mit- beeinflußt vom Alltags- und Lebensweltansatz des Alfred Schütz. Die Verwertungsidee für einen geographischen Unterricht erscheint ja vordergründig wirklich als zwingend: Die Analyse der Strukturen der Lebenswelt des Alltags geht von der Erkenntnis aus, daß Alltagshandlungen kein Produkt von Beliebigkeiten darstellen, sondern daß sie bestimmten Regeln und Methoden unterliegen.

Die Botschaft an die FachdidaktikerInnen der Geographie, zumindest an jene, die sich ein wenig mit einschlägiger Fachliteratur (z.B.: Weichhart,Werlen: Raum und alltagliche Lebenswelten), mit Literatur der allgemeinen Didaktik (z.B.:Salzberger-Wittenberg:Pädagogik der Gefühle, Mayer, H.: Handlungsorientierung) und der Erkenntnistheorie (z.B.: Schütz, Luckmann: Strukturen der Lebenswelt) auseinandersetzten, schien damit eindeutig: Es gibt gleichsam für alle Mitglieder sozialer Gruppen -  im Rahmen eines gemeinsamen Zeit-Raum Kontinuums - verbindliche Lebenssituationen des Alltags, die man exemplarisch auswählen, systematisieren und funktional zuordnen kann.

 Bei der Übernahme des Gedankengebäudes der „Lebens- und Alltagswelt“ trat allerdings in gar nicht so wenigen Fällen ein Problem auf, das sich vielfach bereits bei jenen fach-didaktischen Transferleistungen abzeichnete, durch die der Schulgeographie die Ideen der  Curriculumtheorie des Saul Robinsohn erschlossen werden sollten: Das verfügbare Theoriekonzept wurde von vielen FachdidaktikerInnen nicht umfassend gedacht sondern auf eine leichte Verwendbarkeit für die Unterrichtspraxis hin abgeklopft. Die Konsequenz daraus war, daß plakativ verkürzte und vereinfachte Botschaften in die Geographie-didaktik transferiert wurden, die vielfach aus dem Zusammenhang  des ursprünglichen gesamtheitlich gedachten Konzeptes gerissen erscheinen

 Der Zweck eines solchen Vorgehens erscheint vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Lehrpläne an den Schulen dem Kriterium der Wissenschaftsorientierung zu entsprechen haben, klar: Es geht um eine theoriebezogene Absicherung von jenen Themenstellungen, die schülerorientiert vermittelt werden, d. h. der spezifische Lernprozeß nimmt seinen Ausgang bei Problemstellungen, die in einem direkten Zusammenhang mit lebenswelt-lichen Erfahrungshorizonten der SchülerInnen stehen. Immerhin, ein Blick in die einschlägigen fachdidaktischen Journale der letzten Jahre zeigt, daß auf der Ebene der publizierten unterrichtsunterstützenden Medien die Perspektiven einer Fachdidaktik Geographie zumindestens ansatzweise in Richtung pluraler Sinndeutung, Lebensnähe, Konstruktivität etc. erweitert wurde: Den Schülern wurden die ausgewählten Lebens-situationen als Unterrichtsinhalte zugeführt und es wurde ihnen suggeriert: Schaut her, das sind eure Lebens- und Alltagswelten und was wir machen, ist  daher lebensnaher Unterricht.

 Aber diese Einschätzung ist nicht haltbar. Was auf diese Weise in den Unterricht projeziert wird, sind nicht die Alltagswelten der Schüler, es sind synthetische Versatzstücke, inhaltliche Fertigpakete, die angeleitet von einer Fast Food Didaktik konsumiert werden (müssen). Man kann  es auf den Punkt bringen: Der Alltag aus der Alltagswelt kann dem Schüler nicht vorgeschrieben werden und die Lebenswelt wird sich wohl am Leben der SchülerInnen orientieren müssen, will man ihr fachdidaktische Relevanz einhauchen.. Offensichtlich läßt sich, wie Schmidt Wulffen(1998) es ausdrückt, eine didaktische Lebens- und Alltagsweltorientierung nicht durch den Rückgriff aud die Fachwissenschaft begründen, sondern bedarf der Orientierung auf die eigenen Fragestellungen der Schüler, bedarf des Bezuges zur eigenen Person sowie zu Handlungssituationen und Verwertungs-zusammenhängen, um Lernen als sinnvoll erlebbar zu machen.

Mit ein Ziel einer so verstandenen lebensweltlichen Orientierung wäre es, den SchülerInnen die Möglichkeit einzuräumen, sich reflektierend über ihre Lebenswelt, die bisher unreflektierte Erfahrungsbasis war,  zu erheben (natürlich ohne sich von ihr distanzieren zu können). Dieser Reflexionsprozeß  bezieht alle Erinnerungen, gegenwärtigen Handlungen und zukünftige Hoffnungen mit ein und schafft damit die Voraussetzung für jene Horizonterweiterung, die neue Spielräume für Problemannäherungen und Handlungsalternativen eröffnet und die geltenden Standards für Interaktionen und Wertungen, wie sie durch die bislang festgelegten Erwartungstrukturen und Sinnhorizonte definiert wurden, neu absteckt (vgl. Hierdeis und Hug 1996, S. 634ff).

Allerdings findet sich in unserer heutigen hochtechnisierten Gesellschaft die Bereiche  Alltag, System und Lebenswelt zumeist derartig labyrinthisch verzahnt (Stichworte: Multikulturelle Gesellschaften, Globalisierung, Delokalisierung etc.), sodaß ein Verstehen von und ein Aufklären über die gesellschaftliche Konstruktion von Lebenswelten und Weltbildern ungemein erschwert wird. Trotzdem ist aber aus fachdidaktischer Sicht  eine bestimmte Strategie der Problemannäherung, die für sich in Anspruch nimmt, komplexe Dinge vereinfacht darzustellen, auf jeden Fall abzulehnen und zwar weil deren Glaubwürdigkeit und Brauchbarkeit bisher einer näheren Überprüfung niemals haben standhalten können  - Es ist jene Strategie mit der auf Vordergründigkeit getrimmten Problemlösungskonzepte über „raumrelevante schulgeographische Unterrichtseinheiten“ in die Klassenzimmer transportiert werden. Der damit verbundene fachdidaktische Verwertungszusammenhang reduziert sich dabei gleichsam ausschließlich auf die Bereitsstellung einer stofflichen Grundlage für den Unterricht. Das bedeutet konkret, daß Unterricht nicht von vereinfachten (fach) reduktionistischen Problemstellungen ausgehen sollte, sondern vielmehr sollte die Realität unstrukturierter Probleme zugrunde gelegt werden (vgl. dazu Schmidt-Wulffen 1998)

Die Aufgabe des Lehrers wäre es dann, seine SchülerInnen über nicht erkannte Bedeutsamkeiten aufzuklären, über indirekte Betroffenheiten, um ihnen  die Möglichkeit zu eröffnen, diese Angebote in einen persönlichen Handlungs- und Bedeutungskontext zu integrieren. Daraus könnten sich im Unterricht unterschiedliche einander widersprechende Positionen entwickeln, die Anlaß zu Auseinandersetzungen sein könnten, in deren Rahmen auch inhaltliche Fehler, die beispielsweise ihre Ursache in fehlenden oder/und falschen Informationen haben, durch Einsicht korrigierbar wären. Das setzt aber ein hohes Maß an pädagogischer und kommunikativer Kompetenz seitens der Lehrenden voraus, die leider derzeit vielfach nicht verfügbar ist .  

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 Typ 4

 Im Rahmen eines kontinuierlichen Lernprozesses, der von Typ 1 seinen Ausgang nimmt und in späterer Folge in Typ 2 bzw. 3 übergeht, würden nunmehr Sachverhalte die technisch-zweckrational und praktisch aufgearbeitet wurden, nach möglichen Alternativen oder Widersprüchen unter dem leitenden Interesse an Mündigkeit und Selbstbestimmung befragt werden. Aber nicht nur der Maßstab der individuellen persönlichen Mündigkeit ist hier gefragt, sondern es soll auch das solidarische Interesse an der Selbstbestimmung jeweils anderer vorzugsweise Betroffener in Konflikt- und Problemfällen geweckt und geschult werden, um mittels emphatischer Zugänge die Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit individueller Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten auf der einen Seite und der umgebenden Gesellschaft auf der anderen Seite zu ermöglichen.

Wäre die oben angeführte Passage Teil eines Referates vor SchulpraktikerInnen, so  wäre an dieser Stelle üblicherweise ein Zwischenruf zu erwarten:“Und wie stellen sie sich die Umsetzung in die Unterrichtspraxis vor?“ Meine Antwort wäre: „Ganz einfach“ - das sich auf Habermas beziehende kritisch emanzipatorische Vermittlungsinteresse teilt ja nicht die radikale Vernunftkritik, die der Didaktik der Aufklärung immanent ist und ermöglicht daher auch ganz simple lebens- und alltagsweltlich relevante Zugänge, die unterrichtspraktisch ohne viel Aufwand umsetzbar erscheinen  und trotzdem geeignet sind, über Zusammenhänge, die Wirklichkeit konstruieren, aufzuklären. Daher sind Reflexionen über Widersprüche (Wieso ist der lokale Apfel teurer als die weitgereiste Banane? Wie kommt es zu Isolation und Einsamkeit in der Großstadt? Wieso geht es mir so schlecht, obwohl es uns doch allen so gut geht? Wieso ist mir fad, obwohl ich hundert Sachen zum Spielen habe? Wieso muß ich am Wochenende mit meinen Eltern in den Zweitwohnsitz fahren, obwohl es mir in der Stadt viel besser gefällt) und die Herausarbeitung von Gegensätzlichem (Was wird eigentlich außerwertgesetzt, wenn wir etwas inwertsetzen?) ebenso zulässig, wie grundsätzliche Fragen künftiger Lebensorientierung (Müssen die Bewohner der Dritten Welt wirklich arm bleiben, damit wir unseren Wohlstand halten können?)

 Paul Watzlawik hat der Horizonterweiterung durch dialektische Reflexion einen prägnanten Aphorismus gewidmet: Wer seine Lage verbessern will, muß darüber nachdenken, was er tun müßte, um sie zu verschlechtern. Doch gehen wir zurück zu den Möglichkeiten, die sich daraus für den Geographieunterricht ergeben, so öffnet sich ein weites Feld von Fragehorizonten, denen wir am Beispiel touristischer Erschließungnachgehen wollen:

 Eine ganze Reihe von Szenarien sind vorstellbar, die dem Schüler die Möglichkeit eröffnen, seine Fähigkeiten zur kritischen Selbstrefexion zu überprüfen.

 Hier: die gesunde Bergwelt, die politisch beschworen und in Tourismusprospekten beworben wird,  da: die brüchig gewordenen Bannwälder und die erodierten Hänge, die kein Wasser mehr halten können. Auf der einen Seite  die Fokusierung des Blickes auf die hartnäckigen Versuche des Menschen, aus ökonomischen Erwägungen heraus die Emanzipation von der Natur siegreich voranzutreiben und auf der anderen Seite die Verdeutlichung der Perspektive, daß dieser Weg kläglich gescheitert ist und sich diese Niederlage in vielfältiger Weise gleichsam einzementiert abzeichnet und zwar in immer wieder verlängerten und erweiterten Lawinenverbauungen, die das menschliche Schutzbedürnis doch nur vordergründig befriedigen können; bei neu und rückgebauten Wildbachregulierungen, die das Bedrohungspotential nur räumlich verlagern, letztlich aber nicht verhindern konnen;  bei Kanalisierungen, die mit den dynamischen Siedlungserweiterungen niemals Schritt halten können, etc.

 Gerade am Beispiel der Lawinenverbauungen  lassen sich Horizonterweiterungen hinsichtlich allfälliger Problemstellungen geradezu idealtypisch vorbereiten, denn derlei bauliche Maßnahmen dienen bei weitem nicht nur dem Schutz der Menschen, wie immer wieder beschworen wird, nein, sie dienen heute auch und vielleicht sogar vor allen Dingen dem Schutz fremdenverkehrstechnischer Infrastruktur in Gebieten, in denen noch vor wenigen Jahrzehnten kein Mensch zu finden war, und sie  stehen als Symbole für den Mythos „Mensch und Berg“ mit dem sich nicht nur in Tirol trefflich Politik machen läßt. Einige Beispiele gefällig:

 Das Kühtai, eine Skiarena im Bereich zwischen Sellrain und Ötztal gelegen mußte mit Millionenaufwand verkehrstechnisch erschlossen werden, um den Touristen die hochalpine Peripherie zugänglich zu machen, während das schnee- und lawinensichere Gebiet am Talausgang unausgebaut blieb. Fragt man nach den Ursachen, kommt der Faktor regionalpolitischer Machtspiele in den Blickwinkel, der einem ansonsten verschlossen bliebe.

 Im Tiroler Lechtal wird derzeit in einer kleinen Ortschaft um fast 30 Millionen Schillinge eine Lawinenverbauung errichtet, um fünf Häuser zu schützen. Pikanterweise wurden vier  dieser Gebäude erst in jüngerer Vergangenheit ohne Genehmigung in der gelben Gefahrenzone erbaut. Offensichtlich zählt die Erhaltung eines Mythos mehr als die Tatsache der Illegalität von Bauvorhaben 

 Nicht weniger reflexionswert ist das nächste Beispiel: Um mehr als hundert Millionen Schillingen wird eine wintersichere Zufahrt nach Grameis errichtet, mit 52 Einwohnern die bevölkerungsschwächste Gemeinde Österreichs, acht Kilometer abseits des Lechtales in einer hochalpinen Region gelegen. Im gleichen Zeitraum wird für Österreich  ein Sparpaket geschnürt, das soziale Randgruppen, wie etwa alleinerziehende Mütter besonders hart trifft, das Bauern im Haupttal ums Überleben kämpfen läßt und Familien mit studierenden Kindern durch Kürzung der Familienbeihilfen und Freifahrtzuschüsse das Haushaltsbudget merkbar einengt. Mit welchem interessensgeleiteten Zugang könnte den Hintergründen einer derart  widersprüchlichen Verteilung auf die Spur gekommen werden, wenn nicht mittels kritisch reflektierendem Zugang? Der möglichen Themen sind viele und wohl jeder Schulstandort hat in seinem Umfeld ein oder mehrere „Kühtais`und Gramais`, die es sich lohnt aufzuspüren, um die Hintergründe raumstrukturierender Kräfte und damit spezifische Macht- Herrschaftskonstellationen deutlich zu machen.

 Spinnen wir die möglichen Fragekreise weiter: Wer sind beispielsweise im alpinen Fremdenverkehrsraum die Verlierer, die Nutznießer oder Gewinner einer Entwicklung, die innerhalb einer Generation einen völligen Wandel ökonomischer und sozialer Strukturen herbeigeführt hat?: Was ist mit SaisonarbeiterInnen, die allzu oft unangemeldet und unterbezahlt ihren Dienst versehen, was mit der bäuerlichen Bevölkerung, die zunehmend ihrer eigenen Authentizität entfremdet wird und den Ausverkauf ihrer Heimat erlebt. Oder vielleicht geht die Entwicklung doch in`s Positive und die angesprochenen Gruppen haben durch den Kontakt mit importierten meist urbanen Lebensformen neue soziale und materielle Sicherheit gewonnen? Wo sind die Frauen in sozialer Hinsicht heute im Vergleich zu früher zu positionieren, nachdem sie durch die geänderten Ansprüche einer fremdenverkehrsorientierten Wirtschaft neue Aufgaben übernehmen mußten?

 Wie gehen wir mit offensichtlichen Widersprüchen um, die viele von uns selbst erfahren? Wie erleben: und kommentieren wir das seltsame Szenario von mehr oder weniger leicht geschürzten Menschenmassen in  einer seilbahnerschlossenen hochalpinen Gletscherregion. Naturnähe und Einsamkeit versus Seilbahnerschließung und Hochalpenstraßen ist aber nur ein Beispiel unter zahlreichen anderen, die für SchülerInnen gesellschaftlich produzierte Widersprüche anschaulich und damit problematisiebar  machen kann.

 Wie gezeigt, es gibt vielfältige Fragen, an die SchülerInnen herangeführt werden können, um ihnen die Möglichkeit zu erschließen, ihre persönliche auch indirekte Betroffenheit zu erfahren und mit denen sie sich refelexiv auseinandersetzen können. Dabei lernen sie auch die Grenzen ihres Wissens im Zusammenhang mit der Klärung von Fragen kennen und sie erleben eine Schlüsselerfahrung: Man braucht neues Wissen, um Antworten auf neue Fragen zu finden und es ist notwendig und wichtig im Diskurs getroffene Aussagen auf die vorgegebene gesellschaftliche und politische Realität zurückzubeziehen, weil nur so kann herausgefunden werden, welche möglichen Konsequenzen aus vorgeschlagenen Alternativen erwachsen können und es kann gezeigt werden,  daß vordergründig klare Problemlösungen sehr oft unbeabsichtigte Folgen zeitigen können. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist eben so einfach nicht und auch im Rahmen fachdidaktischer Bemühungen ist es hoch an der Zeit, jene Lebensbewältigungsideologie aufzugeben, die den Nährboden für Didaktiken abgibt, die dazu anhalten, SchülerInnen zu lehren, daß mittels simpler Rationalstrategien nachhaltige Verbesserungen in komplexen Fragen  erreichbar sind. Diese Einsicht ist im Rahmen unseres Faches vor allem an der Problemlösungsdidaktik früherer Jahre spurlos vorbeigegangen und die findet sich auch heute noch bei all jenen  Lehrenden, die bestrebt sind, singuläre Wahrheiten zu vermitteln.

 Vor dem Einstieg in diese Phase reflektierender Bewußtseinserweiterung ist allerdings die didaktische Professionalität der Lehrperson gefragt, die aufzuzeigen hat, wie der begrenzte Horizont einer bereits abgeschlossenen Problemstellung einer kritisch-konstruktiven Erweiterung zugeführt werden kann, mit dem Ziel nicht nach einer perfekten utopischen Lösung zu suchen, sondern nach einer mit der Betroffene leben können. Es wäre auch durchaus ratsam sich nach Jahren in welchen das Unmögliche zur didaktischen Norm erhoben wurde (z. B. Raumverhaltenskompetenz, Problemlösungskompetenz etc.) in einer neuen Bescheidenheit zu üben, was Bildungsziele betrifft: Ist es nicht schon eine bedeutende Leistung, wenn junge Menschen  imstande sind, festzustellen, daß es so, wie es ist, für viele nicht gut ist. Wäre es nicht wunderbar, könnte unser Fach einen Beitrag leisten, mittels reflexiver Horizonterweiterung der schleichenden Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft zu begegnen?

Allerdings den SchülerInnen die Verpflichtung aufzuhalsen, gleichsam als Einlösung eines Lernziels nunmehr im Alleingang das „gute“, weil kritisch angeleitete Leben zu führen, ist als Bildungsanspruch schlicht unseriös.  Besser, weil  subjektbezogener, ist und bleibt die Aufforderung zur Selbstreflexion als ständige Begleiterin lebensrelevanter Entscheidungen und Handlungen. Gestärkt durch im Unterricht möglich gemachte Erfahrungen, daß auch im persönlichen, lebensweltlichen Umfeld Chancen bestehen, aufzuhalten, umzukehren und einer Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen, mittels der  selbst einer derzeit bereits sichtbaren Überforderung durch rsikante Hochtechnologien (Genmanipulationen, Atommeiler, schnelle Brüter, Hochleistungstrassierungen etc.) und Globalisierungs-strategien begegnet werden kann, wäre das eine konstruktive Variante im unterrichtlichen Umgang mit Naturbeherrschungs-, Unterdrückungs-, Konflikt-, Problem- und sonstigen-szenarien.  

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 5) Die Projektion einer Idee in den schulgeographischen Alltag

 Lassen sie mich in diesem Abschnitt  einen Lernprozess entwerfen, dessen Phasen sich durch Unterschiede hinsichtlich des vermittlungsleitenden Interesses auszeichnen. Wie bereits im Kapitel 4 deutlich gemacht wurde, läßt sich in Bezug auf die jeweiligen Fragestellungen eine starke Abhängigkeit des Komplexitätsgrades vom vermittlungsleitenden Interesse feststellen. Um eine Lernorganisation aufzubauen, die vom Einfachen zum Komplexen verläuft, wird im Rahmen der Problemannäherung eine Sequenz vorgeschlagen, die durch die unterschiedlichen vermittlungsleitenden Interessensdimensionen gekennzeichnet ist. Die einzelnen Schritte verlaufen vom unreflektiertem Vermittlungsinteresse über das technische und praktische hin zum kritisch emanzipatorischen, wobei letzteres zum Impulsgeber eines weiterführenden zirkulären Lernprozesses werden kann. Es gibt im Verlauf dieser Lernsequenz keine fertigen Lösungen und die Dauer des Lernprozesses wird von den TrägerInnen bestimmt.

 Dieses vorgestellte Kontinuum, dessen Qualität von einem mehrperspektivischen vermittlungsleitenden Interesse bestimmt wird, birgt einen entscheidenden Vorteil: Schüler begreifen im Rahmen selbsttätigen Lernens rasch die Begrenztheit ihres Wissens und stoßen vor in eine Dimension, in der kein x-beliebiges Wissen gefragt ist, sondern zielgerichtetes Wissen, um anstehende Fragen, die im Lernprozeß auftreten, beantworten zu können. Neben der Frage, was dieses neue Wissen für den einzelnen bedeutet, geht es auch um praktische Einsichten: Wie kann ich mir Wissen beschaffen und welche Interessengruppen stellen welches Wissen zur Verfügung

Dabei sollen Schüler entdecken, daß und wie sie in relevanten Fragen des Lebens involviert sind, um in einer zunehmend unübersichtlichen Welt selbstbewußt aber auch selbstbestimmend und begründet Position beziehen zu können. Unser Fach Geographie gibt uns dazu die Möglichkeit, wenn der Unterricht didaktisch so organisiert wird, daß er durch eine Mischung aus Ordnung und Chaos strukturiert wird. Ein Unterricht, in dem es keine Überraschungen gibt, gerät rasch in Gefahr zu erstarren und damit in Bezug auf seine zukunftsorientierte Bildungsaufgabe dysfunktional zu werden.

 An einem Beispiel (Abb. 4) soll gezeigt werden, wie ein möglicher Lernprozeß verlaufen könnte, in dem ganz bewußt die ausdifferenzierten vermittlungsleitenden Kategorien die einzelnen Etappen des Unterrichts strukturieren.  Das Phänomen Freizeitwohnen hat sich in unserer Gesellschaft als vielfach problematisch erwiesen. Als Schlüsselwörter der Problemhaftigkeit gelten: Flächenverbrauch, Kolonisation, Segregation, Suburbanisierung, u.v.a.m. - jedenfalls Grund genug, um im Rahmen eines gegenwartsorientierten Unterrichts dem Phänomen Freizeitwohnen auf den Grund zu gehen. Ausgangspunkt der thematischen Erschließung könnte  der traditionelle Lehrerzugriff sein: Die SchülerInnen werden, wie man so schön sagt, mit der Materie vertraut gemacht. Was ist Freizeitwohnen? Was sind Freizeitwohnsitze? Welche Typen von Wohnsitzen gibt es? Wie sieht es mit der Verteilung aus? Welche Standortpräferenzen sind erkennbar? Welche Distanzen werden zurückgelegt etc. etc. Der Einstieg des/der Lehrenden kann durchaus im Rahmen der üblichen Mischung aus verfügbarem Stoffwissen,  zugänglichem Datenmaterial und persönlichen Erfahrungen sein, wobei nach der Phase der unterrichtlichen Selbstinszenierung übergeleitet werden kann zu Aufgabenstellungen, die aufzeigen sollen, welchen zweckrationalen Abhängigkeiten Freizeitwohnen vordergründig unterliegt: z. B. Wenn ein Freizeitwohnsitzwunsch realisiert wird, dann herrscht die Erwartung, daß ein spezifischer Standortnutzen auftritt. Ein Freizeitwohnsitz ist gebunden an die Verfügbarkeit über ein Individualverkehrsmittel. Ein Freizeitwohnsitz wird erst erworben, wenn die Ansprüche an den Hauptwohnsitz realisiert wurden. Wenn die Freizeitwohnsitzbevölkerung über ein bestimmtes Maß hinaus zuinimmt, dann mehren sich die Konflikte mit der ortsansässigen Bevölkerung. Wenn die Nachfrage nach Freizeitwohnsitzen steigt, dann steigen auch die Grundstückspreise.

Die SchülerInnen könnten einen ganzen Katalog möglicher Abhängigkeiten erstellen, ausgehend von den Informationen des Lehrers/der Lehrerin, aber auch auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen und Vorstellungen und könnten sich so in Reflexionen von Ursache-Wirkungszusammenhängen üben. Der Schritt in jene Lernphase, in der das praktische Vermittlungsinteresse zum Tragen kommt ist ein aufbauender und konsequenter. Aus dem Katalog der „Wenn- Dann“ Kausalitäten könnten jene ausgewiesen werden, die auch im Rahmen lebensweltlicher Erfahrungen von SchülerInnen als zutreffend erkannt werden, bzw. es könnten auch die nicht zutreffenden diskutiert und einer subjektiven Erklärung zugeführt werden. Konkret in die nächste Etappe wird dann eingestiegen, wenn persönliche Befindlichkeiten und Betroffenheiten zum Gegenstand der Auseindersetzung gemacht werden. Dabei sollten die Beteiligten die Gelegenheit erhalten intensiv und grundsätzlich  Fragestellungen zu thematisieren, die ihnen bedeutsam erscheinen. Welchen sozialen Stellenwert habe ich persönlich in einer Umgebung in der ich mich nur fallweise aufhalte? Wie geht es mir im Gespräch mit lokalen Jugendlichen? Welche Defizite verspüren sie, welche Vor- bzw Nachteile kann ich konstatieren. Wo verspüre ich Überlegenheit, wo Unterlegenheit. Ist der Freizeitwohnraum auch mir „Heimatraum“ und wenn, wodurch wird mir das vermittelt. Fühle ich mich sozial integriert und wenn ja, wodurch zeigt sich das? Was machen eigentlich jene KlassenkameradInnen, die über keinen Freizeitwohnsitz verfügen? Wie organisieren sie ihre Freizeit. Will ich überhaupt die Wochende, die Ferien außerhalb der Stadt verbringen und wenn ich es nicht möchte, wieso sehen das meine Eltern als Erfüllung ihres Lebenstraumes?

 Nicht alle diese Fragen sollen auf einmal und unstrukturiert behandelt werden. Es geht vielmehr darum, von einer bestimmten Problemstellung auszugehen und ein wichtiges Segment persönlicher Betroffenheit diskutierbar zu machen, das im Verlauf eines normalen Unterrichts höchstens die Funktion einer Wortspende im Rahmen der üblichen Mitarbeitsleistung zuerkannt erhalten hätte. Das aufklärerische Moment erfährt dasLernkontinuum, wenn es von der Reflexion der subjektiven Betroffenheiten (z.B. Ich muß mit meinen Eltern immer in unser Zweithaus mitfahren, obwohl ich viel lieber in der Stadt bleiben würde) den Hintergründen gesellschaftlich produzierter Widersprüche auf die Spur kommt (Wieso redet jeder von Landflucht, wenn wir doch jedes Wochende Stadtflucht betreiben?) Möglicherweise wird das dialektische Spannungsfeld Arbeit-Freizeit erkennbar und der Diskurs in der Klasse zeigt auf, daß der Freizeitwohnsitz möglicherweise nicht nur Attraktion ist, sondern Fluchtburg; daß die räumliche Parzellierung unserer Gesellschaft die Antwort auf die Zwänge und Deprivationen des Alltags ist (Mein Vater sagt, er braucht das, sonst würde er noch völlig verrückt werden!).

In diesem emanzipatorischen Abschnitt“ des Kontinuums, in dem auch hinter die Kulissen gesellschaftlicher Entwicklungen und daraus resultierender Konsequenzen geschaut werden soll, ist damit zu rechnen, daß die SchülerInnen sehr rasch an das Ende ihres Wissens gelangen. Diese Einsicht kann den Lernprozeß aber neuerlich konstruktiv aktivieren und zwar dann, wenn die SchülerInnen dazu übergehen, bewußt Wissen aufzuspüren, daß ihnen bei der Beantwortung ihrer Fragen behilflich ist. Der Lehrer hat in dieser Phase keineswegs die Funktion des Allwissenden auszuspielen, sehr wohl kann er aber Hinweise geben, wo das notwendige Wissen abgeholt“ werden kann. Dadurch kann eine Lernprozeßrotation ausgelöst werden, die solange  andauern kann, solange die Beteiligten diesen Unterricht mit seinen unterschiedlichen Interessenbezügen in den einzelnen Phasen als positiv ansehen und eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Problemfeld gegeben erscheint.

Was hier am Beispiel des Freizeitwohnens angedeutet wurde ist für jede Fragestellung anwendbar. Die Steuerung des Unterrichts durch das vermittlungsleitende  Interesse sichert jedenfalls a priori ein merhperspektivisches Vorgehen und verhindert durch die immanenten subjektiven Partizipationsmöglichkeiten die Vernachlässigung des Prinzops der SchülerInnenorientierung.

Eine interessante Variante des kritisch-emanzipatorischen Ansatzes, bei der die Differenzierung des Lernprozesses durch die Änderung des Blickwinkels auf unterschiedliche funktionale Wirkungsebenen erzielt wird, hat Borstorf entwickelt. Allerdings ist darauf zu verweisen, daß sein Vorschlag (Abb. 5) gleichsam normativ vorgibt, was als gut oder schlecht im Rahmen einer bestimmten Einflußnahme des Fremdenverkehrs  zu werten ist und gerade die emanzipatorische Vorgangsweise davon ausgeht, diese Urteilsfindung den Lernenden zu überlassen. Es wäre nämlich als Ergebnis des gezeigten Beispiels durchaus vorstellbar, daß unterschiedliche Einschätzungen zu ein und demselben Problem nebeneinander existieren. Z.B.: Tourismus zerstört die Umwelt - Tourismus verändert die Umwelt und wertet sie auf und daher a priori vorgegebene Wertungen als unzulässige Vorwegnahme eines Arbeitsergebnisses angesehen werden könnten.

 6) Ausblick

 Sich über seine persönlichen Interessen klar zu werden, sollte eine lebensbegleitende Philosophie jedes einzelnen sein. Was den Schulunterricht betrifft, so ist die Klarlegung der spezifischen Interessen, die im Rahmen der Vermittlung von Unterrichtsinhalten verfolgt werden, auch eine Frage der political correctness“.  Schulgeographische Inhalte, die exklusiv über den singulären Wahrheitsanspruch eines Lehrenden gekämmt werden und gleichsam als unveränderliche Norm weitergegeben werden, erfüllen nicht einmal den Mindeststandard jenes Anspruches an Politischer Bildung, der bereits vor zwanzig Jahren im gleichnamigen Erlaß verlautbart wurde. In einer Zeit in der Auflösungserscheinungen von tradierten Werten zur Alltagswahrnehmung zählt, scheint es umso wichtiger, die SchülerInnen zu qualifizieren, die gesellschaftlichen Konsequenzen erfolgter Wertesubstitutionen abschätzen zu können, um zumindest in Schlüsselfragen künftiger Entwicklung auf der Grundlage selbstreflexiven Vorgehens Position zu beziehen. Vermittlung und Interesse bleiben jedenfalls auch in einer sich beschleunigenden Zeit didaktische Kategorien der Bildung und Ausbildung, die gesellschaftlich bedeutsam bleiben werden.

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 Literatur

Borstorf, A. (!996): Fremdenverkehr und Raumentwicklung. Beispiel eines kritisch emanzipatorischen Ansatzes. In: GW-Unterricht  64, S.

Götz, K. (1995): Wirtschaftskunde - Bereich oder Bereicherung der Schulgeographie. Wien. (=Schriftenreihe der Wirtschaftskammer 78)

Habermas, J. (1970): Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main.

Habermas, J. (1985): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main.

Hierdeis, H. und Hug, T., Hrsg. (1996): Taschenbuch der Pädagogik, 4 Bände, Baltmannsweiler.

Meyer, H. (1989): Unterrichtsmethoden, 2 Bde., Frankfurt am Main.

Salzberger-Wittenberg, I., Henry-Williams, G. und Osborne, E.(1997): Die Pädagogik der Gefühle. Wien.

Schmidt-Wulffen, W. (1998): Schüler- und Alltagsweltorientierung im Erdkundeunterricht. Zugänge - Perspektiven für die Praxis-Beispiele aus dem Unterricht. unveröffentl. Manuskript. Hannover.

Schütz, A. und Luckmann, Th. (1979): Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt am Main.

Weichert, P. (1992):Vom „Räumeln“ in der Geographie und anderen Disziplinen. In: Mayer, J., (Hrsg): Die aufgeräumte Welt - Raumbilder und Raumkonzepte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft (=Loccumer Protokolle 74)

Werlen, B. (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Stuttgart.

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