Dr. Angelika Seppi

Disstertation: Extatik des Inzwischen

Abstract

Schreiben wir. Schreiben wir, zunächst, weil die Philosophie davon lebt, dass die Erfahrung, die mit ihr gemacht wird, zum Ausdruck gebracht und mitgeteilt wird. Aber schreiben wir auch, und vor allem, weil wir einmal zur Philosophie gekommen sind, um auf einen Anruf, einen Aufruf, zu antworten. Was heißt das: „Schreiben wir“? Was heißt das: „auf einen Anruf, einen Aufruf, zu antworten“? Für uns heißt das, schreiben wir weiter, nehmen wir die Schrift wieder auf, setzen wir die Schrift fort, zunächst dort, wo sie uns zugefallen und angegangen ist, wo sie uns verführt und begeistert hat. Aber schreiben wir auch, und vor allem dort, wo das, was geschrieben steht, uns das leise Glück einverständigen Schweigens nicht vergönnt und vielleicht nach einer Umschrift verlangt, bestimmt aber nach Widerstand. Wie sind eine widerständige Schrift und ein widerständiges Denken zu praktizieren? Widerstand wogegen? Gegen die strategischen Abschließungs-, Einsperrungs- und Ausgrenzungsbewegungen der herrschenden, vor Ungerechtigkeit, Einfältigkeit und Hässlichkeit strotzenden Leit-Repräsentationen und ihrer Vollstrecker. Widerstand wofür? Für die Eröffnung, Freisetzung und Entgrenzung der unerschöpflichen Potentialität zu Gerechtigkeit, Vielfältigkeit und Schönheit, welche im Zuschreibenden, im Zudenkenden, im Zukünftigen uns erwartet. Zwischen dem, was geschrieben steht und in seinem Namen und Gesetz die Gegenwärtigen sich unterjocht und dem, was zu schreiben bleibt und in seiner Namen- und Gesetzlosigkeit die Zukünftigen entschreibt, ereignen sich die Fluchtlinien der Schrift selbst als Aus-einander-Schrift, als Aufspreizung und Ausdehnung, als Raum- und Zeit-Werden des Unvordenklichen. Den klassischen roten Faden gibt es auch, aber es gibt ihn nicht mehr als prädeterminierte und prästabilisierte Struktur, sondern im Sinne Deleuzes als Konsistenzebene, die sich entlang produzierter Intensitäten entfaltet. Mit und über einen – auf die performative, verräumlichende und verzeitlichende Dimension abhebenden – ‚Begriff’ der Schrift hinaus, sind die postmodernen Denkfiguren des Entzugs, des Ereignisses, der Differenz und der Wiederholung zu Intensitätsfeldern geworden, die den Weg der vorliegenden Auseinandersetzungen markiert haben. Dabei wurde sowohl das Schlagwort der Postmoderne problematisiert – gibt es überhaupt eine Postmoderne und wenn ja, was wäre damit gemeint? –, als auch die merkwürdige Position zwischen Kontinuum und Bruch, in der postmoderne Ansätze zur Geschichte der Metaphysik stehen – gibt es überhaupt ein Außerhalb zur metaphysischen Tradition des Denkens, der Wahrheit, der Kunst und Politik und wenn nicht, wie lassen sich ihren präsentistischen, dichotomen, hegemonialen Konstrukten das eine oder andere anarchische Element aufpfropfen? Mit Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger sind zwei Pioniere des metaphysikkritischen Denkens in einigen entscheidenden Hinsichten vorgestellt worden. Die Zersetzung des metaphysischen Bildes des Denkens geht bei beiden nicht nur mit einer spezifischen Transformation der sogenannten Inhaltsebene und einer nicht weniger spezifischen Transformation der sogenannten Ausdrucksebene einher, sondern ebenso mit einer bestimmten Haltung gegenüber dem anfänglichen Denken der frühen Griechen. Entlang ihrer jeweiligen Auslegung des Spruches des Anaximander sind die Spuren aufzulesen gesucht worden, welche die Auseinandersetzung mit den frühen Griechen in den Schriften Nietzsches und Heideggers hinterlassen haben, und zwar in Hinsicht darauf, vor welche Fragen der älteste Spruch des (abendländischen) Denkens heute noch zu stellen vermöchte. Vermögen und und wenn ja, woher und woraufhin vermögen uns die Winke und Weisungen eines vorsokratischen Denkens noch zu schicken? Sind und wenn ja, wie sind das frühgriechische Denken der physis und das postmoderne Denken des Ereignisses miteinander zu verbinden? Welche Rolle spielen die Begriffe der mimesis und des pathos in Bezug auf das Verhältnis von physis und téchne? Und zuletzt: Kann und wenn ja, unter welchen Bedingungen kann dem gegenwärtigen auf Berechenbarkeit, Beherrschbarkeit, Herstellbarkeit und Nützlichkeit ausgerichteten, technizistischen Weltentwurf überhaupt noch in irgendeiner Weise mit einem Gegenwort und einer Gegenpraxis begegnet werden?

Kurzbiographie

Angelika Seppi studierte Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien und der Universidad de Chile. Sie wurde 2012 am Institut für Philosophie der Universität Wien promoviert. Die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation ist 2018 unter dem Titel „Schrift und Gerechtigkeit. Kritisches zur Metaphysik“ im Passagen Verlag erschienen. Seit ihrer Promotion arbeitete sie am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, am Institut für Kunstgeschichte und Kunsttheorie der Kunstuniversität Linz, am Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor und am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. In Forschung und Lehre geht sie grundlegenden Fragen der kontinentalen Philosophie in Verbindung zur Kunst- und Wissenschaftsgeschichte nach. Gegenwärtig gilt ihr besonderes Forschungsinteresse Fragen der Formalisierung, der Geschichte und Theorie des Milieu-Konzepts, den damit verbundenen techno-ästhetischen und sozio-politischen Implikationen, der Bildtheorie sowie der Geschichte und Theorie des Films.

Publikationen

Monographien und Herausgeberschaften 2019

gemeinsam mit Michael Friedman: Grenzen der Formalisierung. Mathematisch-philosophische Bemerkungen, Leipzig: Spector Books, 2019 [upcoming].

gemeinsam mit Rebekka Ladewig (Hg.): Techno-ästhetische Perspektivierungen des Milieus. Ein Reader, Leipzig: Spector Books, 2019 [upcoming].

gemeinsam mit Anne von der Heiden; Sarah Kolb (Hg.): Logik des Imaginären. Diagonale Wissenschaft nach Roger Callois, Band 2: Spiel/Raum/Kunst/Theorie, Berlin: August Verlag, 2019 [upcoming, editorische Mitarbeit].

2018

gemeinsam mit Anne von der Heiden; Sarah Kolb (Hg.): Logik des Imaginären. Diagonale Wissenschaft nach Roger Callois, Band 1: Versuchungen durch Natur, Kultur und Imagination, Berlin: August Verlag, 2018 [editorische Mitarbeit].

Schrift und Gerechtigkeit. Kritisches zur Metaphysik, Wien: Passagen, 2018 [überarbeitete Fassung der Dissertation].

2017

gemeinsam mit Michael Friedman (Hg.): Martin Heidegger: Die Falte der Sprache, Wien: Turia & Kant, 2017.

Wissenschaftliche Artikel 2017

A line is not a line is not a line. From the Capital Line of Metaphysics to a Future Ontology of the Fold, in: Sebastian Dorsch; Jutta Vincent (Hg.): Spatio Temporalities on the Line. Representations – Practices – Dynamics, Oldenburg: De Gruyter, 2017, S. 23–43.

Lärmender Unsinn und Oberflächeneffekte. Der Körper und das unkörperliche Ereignis im Denken von Gilles Deleuze, in: Katharina D. Martin, Ann-Cathrin Drews (Hg.): Inside. Outside. Other. Körper bei Gilles Deleuze und Michel Foucault, Bielefeld: Transcript, 2017, S. 345–361.

„Wenn einer immerfort dasselbe sagt […]“. Heidegger, die Tautologie und ein gewisser Idiot, in: Michael Friedman; Angelika Seppi (Hg.): Martin Heidegger: Die Falte der Sprache, Wien: Turia + Kant, 2017, S. 39–53.

mit Michael Friedman: Die Falte(n) der Sprache(n). Zur Einführung, in: Michael Friedman, Angelika Seppi (Hg.), Martin Heidegger: Die Falte der Sprache, Wien: Turia + Kant, 2017, S. 7-35.

2016

Simply complicated: Thinking in Folds, in: Michael Friedman, Wolfgang Schäffner (Hg.): On Folding. Towards a New Field of Transdisciplinary Studies, Bielefeld: Transcript 2016, 49–76.
Geheimnisse und Trivialitäten der Oberfläche, in: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik, Wien-Basel, Nr. 11/2016, S. 51–60.

2013

Hocus-Pocus in Your Eyes. Mathias Poledna auf der Biennale in Venedig 2013, in: all-over. Magazin für Kunst und Ästhetik, Wien-Basel, Nr. 4/2013, S. 40–47.

2012

„murmle, folgend, windmonat“, in: sublinesblog.wordpress.com, Nr. 1/2012, S. 33–35.

Übersetzungen 2017

gemeinsam mit Nicola Denis: André Scala: Anmerkungen zur Genese der Zwiefalt bei Heidegger, in: Michael Friedman/Angelika Seppi (Hg.): Martin Heidegger: Die Falte der Sprache, Wien: Turia + Kant, 2017, S. 39-53.

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