Documentation Philosophy On Stage #4

Nietzsche et cetera. Kant in Analyse // Performance Text

Performance by Arno Böhler [CV] , Susanne Valerie Granzer [CV]

Susanne Valerie Granzer: Vorrede. Die Chronologie der Zeit ist außer Kraft. Immanuel Kant, geboren 1724 – gestorben 1804, hat Friedrich Nietzsche, geboren 1844 – gestorben 1900, gelesen. Die Lektüre Nietzsches trifft Kant unerwartet hart. Seitdem kreist sein Denken fast, könnte man sagen – traumatisiert – um Nietzsches These in Jenseits von Gut und Böse: „[D]ass man den größten Teil des bewussten Denkens unter die Instinkttätigkeiten rechnen müsse, selbst das Denken der Philosophen.“ Für Kant ist das ein Skandal. Das Denken als Instinkttätigkeit zu degradieren, indem man es unbewussten Trieben unterwirft, die es insgeheim lenken, regieren und kontrollieren. Auch Nietzsches Bild des Denkens, das er auf Seite 29 in Band 5 der Kritischen Studienausgabe entwirft, verfolgt ihn. Da steht: „Es gibt immer noch harmlose Selbstbeobachter, welche glauben, dass es unmittelbare Gewissheiten gäbe, zum Beispiel ‚Ich denke‘. Was immer voraussetzt, dass das Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird.“ Kant konnte diese Stellen auswendig hersagen. Und jedes Mal erregten sie ihn erneut. Jedes Mal verzog er dabei unwillkürlich das Gesicht, ohne dass es ihm bewusst war. Und er schüttelte den Kopf.

Was Kant darüber hinaus widerwillig stimmte, war Nietzsches Sprache. Wenn er nur daran dachte, meldete sich in seinem Magen Unbehagen und zugleich eine latente Eifersucht, die er nicht wahrhaben wollte. Ja, ja, er, Kant, er wisse um die Schwäche seiner eigenen sperrigen Sprachform. Als Philosoph sei er distanziert genug, um den Sprachstil seiner drei Kritiken selbst kritisch beurteilen zu können. Aber ein Philosoph, der dichtet?! Einer, der zur Artikulation seiner Gedanken Aphorismen – und sogar Dionysos Dithryamben – schreibt! Ist es nicht vielmehr die streng wissenschaftlich rationale Form, an die sich alle Philosophie halten muss? Um nicht hinter das in der Philosophie schon Erreichte zurückzufallen?! Muss sich nicht jede künftige Metaphysik, die als Wissenschaft auftreten kann, diesem Anspruch unterwerfen?!

Nietzsches Denken lässt Kant keine Ruhe. Schließlich sucht er die mit ihm bekannte Anna Freud auf, Tochter des berühmten Doktor Sigmund Freud aus Wien. Anna Freud rät ihm sich doch an ihre Freundin, Lou Andreas-Salomé zu wenden, geboren 1861 – gestorben 1937. Sie habe Nietzsche nicht nur persönlich sehr gut gekannt, sondern – laut Nietzsches eigener Aussage – seien ihrer beider Intelligenzen und Geschmäcker im Tiefsten verwandt gewesen. Und außerdem habe Lou ihrer, Anna Freuds Überzeugung nach, in ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken die Psychoanalyse vorweggenommen. Er sei also bestens bei ihr aufgehoben, falls er sich einer so gearteten Aufklärung unterwerfen wollte.

Kant stutzt. Folgt aber schließlich ihrem Rat und sucht Lou Andreas-Salomé in ihrer psychoanalytischen Praxis in Göttingen tatsächlich auf.

[S schnippt mit den Fingern – das Setting wechselt in die psychoanalytische Praxis]

Es ist nicht die erste Sitzung. Die Analyse befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Zu Weilen gerät sie mehr zu einem philosophischen Diskurs. Aber: Wie jede klassische analytische Sitzung beginnt auch diese mit dem ersten Einfall des Analysanden.

Immanuel Kant: Ich habe gestern einen Film vom Otto Preminger gesehen: Frau im Abgrund. Auf Englisch, glaube ich, heißt er Whirlpool. Strudel nackter Gefühle, oder so was. Es ist ein ziemlich trivialer Film Noir. Eine Frau begeht unter Hypnose einen Diebstahl für den Hypnotiseur. Quasi schlafwandelnd. Ich nehme an, dass mir dieser Gedanke jetzt gerade hier kommt, weil er mich an eine berühmte Stelle von Nietzsche erinnert in Jenseits von Gut und Böse. Über den Aberglauben der Logiker. Aberglauben der Logiker. Also, ich zähle mich ja selbst zu dieser Gattung Mensch. Von ihnen behauptet Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse, dass sie eine simple Tatsache übersehen hätten, nämlich die simple Tatsache, dass nicht „ich“ denke, sondern dass ein Gedanke kommt, wann er will und nicht wenn ich will. Für mich scheint das eine gefährliche Überlegung zu sein von einem Bild des Denkens, denn Nietzsche scheint hier das Denken mit Prozessen gleichzusetzen wie „es blitzt“ oder „die Sonne scheint“. Und immer wieder betont er, dass es rein eine grammatikalische Fiktion sei, wenn wir sagen: „Der Blitz blitzt“ oder „Die Sonne scheint“, weil es natürlich völlig dumm ist, zu behaupten, dass der Blitz was tut, wenn er blitzt oder die Sonne was tut, wenn sie scheint. Und trotzdem scheint es mir gefährlich zu sein, wenn wir eben solche Naturprozesse gleichsetzen mit Prozessen des Denkens oder des Handelns. Verstehen Sie?! Ich habe immer daran festgehalten, dass „ich“ es bin, der denkt, wenn ich denke und nicht „es denkt“. Wer soll dieses „es“ denn sein? Ja, führt Nietzsche da nicht wieder so eine Hinterwelt ein, so irgendetwas, was er versucht abzuschaffen, aber am Ende ist es dann doch so eine Art Triebgeflecht, das in uns denkt?! Verstehen Sie, diese Frau von Otto Preminger, Frau im Abgrund – die begeht ihren Diebstahl quasi – es fällt mir hier Spinoza ein mit seiner Ethik – mehr oder weniger schlafwandelnd. Ja, und das heißt für mich gerade, dass sie nicht denkt, weil sie eben schlafwandelnd ihre Tätigkeiten vollzieht. Denn zu denken, heißt eben, dass ich mir des Akts, den ich vollziehe, selbst bewusst bin während ich ihn ausführe. Ich habe jetzt Spinoza genannt und seine Ethik, ja, das ist ja ein großer Unterschied! Spinoza versucht wenigstens solche Gedanken von schlafwandelnden Körpern philosophisch abzuleiten und zu begründen. Während dieser Herr Nietzsche glaubt über jeder Notwendigkeit zu sein, seine eigenen Thesen begründen zu müssen und seine Sprache – über die will ich gleich gar nicht sprechen …

Lou Andreas-Salomé: Das Thema des Denkens des Unbewussten scheint Sie nach wie vor emotional zu erregen.

Immanuel Kant: Weil es widersinnig ist, was dieser Mann von sich gibt. Schauen Sie, ich habe eine kleine Schrift geschrieben mit dem Titel Was ist Aufklärung. Ja. Und da habe ich eben gesagt, dass Aufklärung bedeutet, dass wir uns in gewisser Weise von unserer eigenen Unmündigkeit befreien, dass wir in gewisser Weise selbst denken und nicht unter Anleitung eines anderen, schon gar nicht unter Anleitung eines Hypnotiseurs. Sapere audere! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! Und daher würde ich immer gegen solche Leute – wie diesen Herrn Nietzsche – sagen: Nicht es denkt, sondern ich bin es, der denkt, zumindest dann, wenn ich denke!

Lou Andreas-Salomé: Nietzsche geht davon aus, dass jedes Denken, das jedem Denken ein Begehren zugrunde liegt. Dass es keine affektfreie Zone ist … Er spricht …

Immanuel Kant: Schauen Sie! Schauen Sie! Er spricht immer wieder von dem umgekehrten Platonismus in seiner Philosophie. Aber was heißt denn das? Was heißt das: umgekehrter Platonismus?! Das heißt ja für ihn, dass die ganze Sphäre des Ideellen, die ganze Sphäre des klaren, reinen Denkens, dass diese ganze Sphäre nun eine Art Sublimation wäre! Ja?! So eine Art Triebsublimation. Ganz genau so wie Ihr Doktor Freud das auch denkt. Sozusagen das Bewusstsein als Epiphänomen. Das ist es, was dieser Herr Nietzsche permanent macht. Umgekehrter Platonismus. Was soll das bedeuten? Ab und zu habe ich fast den Eindruck, als ob er überhaupt keinen Unterschied macht zwischen Begehren und Denken! Ja, so als ob Begehren und Denken nahezu dasselbe für ihn wären. Er zitiert sogar Spinoza an einigen Stellen und meint, dass das Denken selbst nur eine ganz bestimmte Form von Affekt-, von Triebregung wäre. Verstehen Sie? Und dass erregt mich schon! Erregt mich, weil ich eben gerade gesagt habe, im Denken kommt der Mensch zu sich selbst! Im Denken kommen wir erst in unsere eigene Mündigkeit! Das ist es, was ich ihm entgegenhalten würde, ja!

Lou Andreas-Salomé: Nietzsche würde jetzt antworten, dass alles Begehrensvermögen unter Kontrolle zu bringen, ob das nicht die Erfindung eines neuen Tyrannen ist.

Immanuel Kant: Ahhh. Einmal tief durchatmen, wenn ich solche Sätze höre. Schauen Sie, das ist derselbe Irrtum, den schon dieser Professor Schiller gemacht hat. Der hat ja auch behauptet, dass ich gesagt hätte, was ich nie gesagt habe. Nämlich, dass man zunächst, das Folgen der eigenen Maxime verachten müsste, dass man in gewisser Weise zunächst die eigenen Neigungen verneinen und verachten müsste, um dann aus reiner Pflicht das zu tun, was uns die Maximen gebieten. Aber wenn Sie … ich bin kein Katholik! Ich bin auch kein Mönch! Ich habe nie einen solchen stupiden Tugendbegriff in die Welt gesetzt. Sie können das gerne in meinen Werken nachlesen! Da werden Sie nirgends eine solche Stelle finden, die behauptet, dass wir nicht mehr begehren sollen. Ich habe nur gesagt, wir brauchen die Vernunft – die Vernunft! – als ein bestimmtes Vermögen, das unser Eigendünkel einschränkt. Verstehen Sie! Wir brauchen die Vernunft, weil es unvernünftig ist, dass jeder der Willkür irgendeiner subjektiven Maxime oder Neigung folgt. Ja?!  Und daher habe ich nie gesagt, man soll nicht begehren. Sondern ich habe immer nur gesagt, man soll vernünftig begehren! Ja, noch mehr: Ich habe gesagt, jemand, der vernünftig begehrt, ja, das ist nahezu ein Zeichen der Heiligkeit. Für mich – ich gebe zu, ich bin nicht frei von Eigendünkel – für mich in gewisser Weise hat eben die Maxime meinen vernünftigen Maximen zu folgen daher auch noch den Charakter eines Imperativs. Wäre ich allerdings heilig, dann würde ich freiwillig diesen vernünftigen Maximen folgen – und zwar genüsslich.

Lou Andreas-Salomé: Um einmal nicht mit Nietzsche zu kommen, sondern mit Michel Foucault oder Gilles Deleuze. Die beiden bezeichnen Ihr Gebot der rigorosen Unterwerfung vor dem moralischen Sittengesetz als eine Art sadomasochistische Praxis. Zügelung dieser Affekte, unserer Affekte, als eine Art preußische Disziplinierung.

Immanuel Kant: Ja, wissen Sie. Ich habe durchgestöbert, drüber geblättert über diese Franzosen. Es hat mir gereicht. Vor allem, wenn ich diesen – wie heißt er doch? – dieser Deleuze, oder wie er heißt … Da draußen steht sogar schon sein Name, das war auch schon ein Zeichen … Dieser Deleuze hat ein Buch über mich sogar geschrieben. Da steht drinnen, er will mir ein Kind machen und mich von hinten nehmen. Schauen Sie, ich finde solche Sätze einfach nur infantil. Aber schauen Sie. Um ernster auf Ihre Frage einzugehen – das heißt: gehen wir zurück auf meine Bücher! – in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht habe ich sehr wohl gesagt, dass es so etwas gäbe – Sie können es nachlesen, es lautet sogar ein Titel so Von Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer selbst bewusst zu sein. Aber – und genau in diesem „aber“ liegt der große Unterschied – in diesen Vorstellungen, zum Beispiel diese Frau im Abgrund unter Hypnose, darin liegt doch nicht die Würde des menschlichen Wesens. Ich bin doch nicht Mensch dadurch, dass ich schlafwandele! Und dass ist eben der gefährliche Punkt, meiner Meinung nach, an diesem Bild des Denkens, das hier kreiiert wird. Mensch bin ich dort, wo ich beginne, selbst zu denken, selbst zu handeln, selbst da zu sein. Darum habe ich eben immer verteidigt – nicht, auch wieder diese Franzosen – ich meine, es gibt sogar auch noch einen Deutschen, der das auch noch behauptet hat, nämlich, dass die Sprache spricht. Ich habe immer gesagt, nein, nein, nicht die Sprache spricht – ich spreche. Oder würden Sie jetzt sagen, dass die Sprache durch mich spricht. Ich habe das immer wieder verteidigt, diesen Gedanken der Subjektivität. Und Sie sehen selbst hier in meiner anders gearteten Aufklärung, die ich hier vollziehe, ist es so, dass ich immer noch dabei bleibe diesen Gedanken zu verteidigen.

Lou Andreas-Salomé: Und warum sind Sie dann immer noch hier?

Immanuel Kant: Können Sie etwas anderes fragen?

Lou Andreas-Salomé: Ich könnte Sie fragen, ob all das, wovon Sie sprechen, dass man das Begehren kontrollieren muss, dass man es quasi selbst in der Hand zu haben hat, dass man vernünftig begehren soll –

Immanuel Kant: Ah, warten Sie. Da fällt mir noch was ein. Das fällt mir noch etwas ein – nochmal zu diesen Dekonstruktivisten und diesen Franzosen. Ich möchte Ihnen nämlich sagen, lesen Sie nach in meiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Sie müssen da nicht Derrida lesen. Sie müssen dort nachlesen! Da steht nämlich drinnen, dass der Tod von mir selbst niemals selbst erfahren werden kann. Das hat schon der von mir so hochgeschätzte Epikur gesagt. Denn, wenn der Tod ist, bin ich nicht und wenn ich bin, ist der Tod nicht. Aber verstehen Sie, der Unterschied zu diesen Franzosen ist, dass ich diese Thesen argumentativ unterstützt und rational abgeleitet habe. Solange ich bin, ist der Satz „ich bin nicht“ unsinnig. Denn diesen Satz „ich bin nicht“ kann ich nur vollziehen, wenn ich bin und nicht, wenn ich nicht bin. Verstehen Sie?! Das ist der Unterschied zwischen mir und Nietzsche – und zwischen mir und Derrida.

Lou Andreas-Salomé: Ich würde vorschlagen, bleiben wir doch bitte noch bei dem Thema, dass das Denken nicht von einem Begehren getragen ist. Bei diesem unbequemen Thema.

Immanuel Kant: Ja, ich gebe ja zu, ich komme aus dem Norden, ich komme aus Deutschland, ich bin nicht sehr weit gereist in meinem Leben. Und ich gebe zu dass natürlich in meinem Prinzip der praktischen Vernunft, eben dem Kategorischen Imperativ, so etwas wie Selbstzwang und Selbstnötigung liegt. Aber ich habe schon gesagt, die Frage, die mich in Wirklichkeit beschäftigt in diesem ganzen Zusammenhang der Einschränkung unserer Freiheit ist eben die Frage wie die größtmögliche Freiheit unter uns möglich ist. Ist sie möglich, wenn jeder seiner eigenen Willkür folgt? Ist sie möglich, wenn wir Tyrannen haben, die das, was sie tun, nicht begründen müssen? Wie ist denn freies, ja das größtmögliche freie Miteinander-Sein von Menschen auf dieser Erde, auf diesem Planeten möglich? Nicht, indem jeder seiner Willkür folgt – ich tue, was ich will; und du – sondern indem jeder der Selbstgesetzgebung des Menschen und dass ist das, was ich unter praktischer Vernunft verstehe, wenn jeder einzelne der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft – und dass ist eben der Mechanismus des Kategorischen Imperativs – folgt. Nämlich die freiwillige Einschränkung meiner Willkür auf das, von dem ich erwarten kann, dass vernünftige Andere in diesem Raum dasselbe wollen können. Ja. Das ist die ganze Disziplinierung, die ich fordere. Und die fordere ich weiter, weil sie meiner Meinung nach vernünftig ist.

Lou Andreas-Salomé: Nietzsche würde jetzt antworten, dass Ihr Kategorischer Imperativ nach Grausamkeit riecht.

Immanuel Kant: Wenn er will.

Lou Andreas-Salomé: Ich frage Sie noch einmal: Warum sind Sie dann hier?

Immanuel Kant: Ich würde lieber noch über den Tod als über mich sprechen. Es gibt doch Sigmund Freud, nicht, der irgendetwas über das Unbewusste und den Tod sagt.

Lou Andreas-Salomé: Ja, Freud geht davon aus, dass das Unbewusste sich unendlich „fühle“, ewig „fühle“, dass es den Tod nicht kenne.

Immanuel Kant: Und Nietzsche sagt der nicht irgendetwas in diese Richtung? – Wie mir so wie so auffällt, dass dieser Friedrich Nietzsche oft dasselbe, was Ihr Doktor Freud sagt. – Was spricht die tiefe Mitternacht

Lou Andreas-Salomé: Ich schlief, ich schlief. Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh – Lust, Lust! Tiefer noch als Herzeleid. Weh – spricht vergeh! – Sie kennen die nächsten Zeilen? Wie es weitergeht?

Immanuel Kant: Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe tiefe Ewigkeit. Sie sehen, ich habe ihn wirklich gelesen. Aber schauen Sie, dass ist wieder eines dieser guten Beispiele, wo wir uns unterscheiden. Kann denn die Mitternacht reden? Hat sie Stimmbänder? Hat sie einen Mund? Schauen Sie, im künstlerisch-ästhetischen Kontext können sie solche Sätze vielleicht sagen, also hier in dieser seltsamen Veranstaltung, da kann man vielleicht solche Sätze vielleicht gebrauchen. Aber verstehen Sie, nicht im Kontext einer Philosophie, die sich selbst als strenge Wissenschaft versteht. Und hier ist der große Unterschied zwischen Nietzsche und mir. Ich glaube, dass die Zukunft der Philosophie in der Strenge der Wissenschaft, der vernünftigen, rationalen Ableitung, der vernünftigen, rationalen Argumentation liegt. Aber dieser, dieser Friedrich – Fritzchen wurde er ja immer genannt – dieses „Fritzchen“, das hat doch von einem Vorspiel einer Philosophie der Zukunft gesprochen, in der er so was halluziniert wie „Künstlerphilosophen“! Als ob die Zukunft der Philosophie in dieser Form des Künstlerphilosophen oder in einer solchen arts-based-philosophy liegen würde. Verstehen Sie? Wenn ich mich in meinem Leben irgendetwas untergeordnet habe, dann nicht Künstlerphilosophen sondern der Vernunft.

Lou Andreas-Salomé: Und Sie meinen, dass das sogenannte wirkliche Leben sich tatsächlich in „A“ und „B“ einteilen lässt, um das etwas polemisch zu formulieren?

Immanuel Kant: Es wäre schön, wenn es so wäre.

Lou Andreas-Salomé: Gehen wir doch noch einmal zurück zum Begehren. Ist es nicht so, dass uns tatsächlich das Begehren überkommt. Dass hier ein Eigensinn am Werk ist, zum Beispiel die Sprache. Wird sie uns nicht überliefert. Bin es ich, die spreche? Kann ich nicht vielmehr nur sprechen, weil mir die Sprache überliefert wurde, weil sie mir gegeben wurde, weil sie schon vor mir da war? Überkommt mich die Mitternacht nicht? Überkommt mich der Tod nicht?

Immanuel Kant: Ja, aber schauen Sie: Da gibt es eine tiefe Abwehr in mir gegen so eine Form des Denkens. Ja! Dieser Jacques Derrida hat ja sogar versucht, das Wort „Heimsuchung“, das für mich nur mittelalterliche Assoziationen weckt, er hat versucht – ja, er hat sogar von einer „Hauntologie“ gesprochen … Als ob wir von der Sprache, vom Leben heimgesucht würden … Ich sehe im Gebrauch einer solchen Sprache nichts anderes als Regression. Ich habe mich gerade gewehrt gegen dieses Mittelalter – und jetzt soll es wieder salonfähig gemacht werden?!

Lou Andreas-Salomé: Es ergibt sich eine wichtige Frage, was die Vernunft betrifft. Hat die Vernunft keine Genealogie? Fällt sie uns aus einem platonischen Himmel in den Schoß?

Immanuel Kant: Ich gebe zu, ich bin ja auch sachlich, an dieser Stelle gibt es einen wunden Punkt in meiner Philosophie. Woher kommt die Vernunft? Ist sie uns vom Himmel zugefallen, sozusagen ewig, unveränderlich, undynamisch. Ich gebe zu, ich habe das ja selbst am Ende meiner Kritik der reinen Vernunft auch thematisiert, diese Frage, ob wir überhaupt fragen können, woher die Vernunft kommt, – und es gibt EIN vernünftiges oder zumindest halbwegs vernünftiges Werk auch von diesem Fritzchen, nämlich „Zur Genealogie der Moral“. Und wenn Sie so wollen, da stellt er mehr oder weniger diese Frage, woher denn die Vernunft kommt. Und ich muss sagen, das ist auch das einzige Werk, das einen halbwegs wissenschaftlich systematischen Anspruch hat und damit natürlich das Werk ist, das ich auch lesen kann. Und das meiner Meinung nach Wert hat. Und da versucht Nietzsche in der Tat – natürlich ganz anders als ich; ich habe versucht aus der Idee der Freiheit den Gedanken der Vernunft zu entwickeln, von uns als Freiheitswesen habe ich versucht so etwas zu deduzieren, was das heißt, Freiheit in ihrem positiven Gebrauch ist eben nichts anderes als das, was ich praktische Vernunft nenne – er hat viel menschlich allzumenschlichere Voraussetzungen woher die Vernunft kommt. Denn das erinnert mich gerade an das, was ich vorher gesehen habe, nämlich, er spricht davon, dass die Vernunft sehr viel empirischere Gründe hätte, aus denen sie gewachsen ist, nämlich, es sind die Käfige der Menschen, es sind die Orte, in denen die Menschen gefoltert werden, aus denen heraus die Notwendigkeit des Verlangens nach Vernunft wächst. Ich habe gesagt, das ist keine ideelle Deduktion, aber zumindest eine aus empirischen Machtverhältnissen heraus – er nennt das Aufstand der Sklavenmoral, ein Wort, das ich so nie gebrauchen würde, aber zumindest meint er damit, dass die Vernunft nicht aus einem platonischen Himmel gefallen ist, sondern mehr oder weniger der Ruf der Unterdrückten nach dem Einhalt der Willkür der Tyrannen wäre. Und an diesem Punkt gebe ich zu – nicht in der Weise der Deduktion aber im Ergebnis – dass wir eine bestimmte Nähe haben. Denn auch ich habe mich gefragt, wenn ein freies Miteinandersein der Menschen auf diesem Planeten möglich sein kann, dann nur dann, wenn wir durch Vernunftgründe der Willkür der Einzelnen, vor allem der Willkür der Tyrannen, Einhalt gebieten. Und daher kann man sowohl sagen, wenn der Endzweck der Natur, wie ich das in der Idee einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gesagt habe, wenn – wie die Marxisten und diese Linken das sagen würden – wenn endlich die Utopie des Menschen am Ende der Naturgeschichte realisiert worden sein wird – Sie sehen schon, ich spreche im Modus des Versprechens – dann nur, und dass ist meine These, wenn sich davor die Menschen im einzelnen aber auch die Kulturen im Ganzen begonnen haben zu kultivieren. Und unter Kultivieren verstehe ich Selbstgesetzgebung der Praktischen Vernunft.

Lou Andreas-Salomé: Wir landen immer wieder auf demselben Punkt. Überspringen Sie dabei nicht die Triebnatur des Menschen? Das „Es“, das Nietzsche ins Zentrum stellt? Und ich frage, überfordern Sie nicht auch das menschliche Subjekt? Schauen Sie sich die politische Situation jetzt an. Der Mensch in der Mitte, alles unter Kontrolle bringend?

Immanuel Kant: Ach. Ja, dann heißt es gleich: Eurozentrismus. Oder: Weiße Mythologie. Oder: Preußischer Disziplinierungsapparat. Verstehen Sie, ich kann dieses kulturphilosophische Geschwätz nicht mehr hören! Wer anders als die Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft soll auf diesem Planeten herrschen? Ein Gott? Stellt sich gleich die Frage: welcher? Die Willkür eines Tyrannen, die Willkür des Einzelnen? Praktische Vernunft nannte ich die Fähigkeit des Menschen sich selbst vernünftige Gesetze zu geben.

Lou Andreas-Salomé: Ist es wirklich vernünftig dieses Anspruch auf alle zu übertragen? Nietzsche würde hier wahrscheinlich argumentieren, dass es sich hier um eine neue Versklavung des Menschen handelt, wenn wir nur den Teil von uns legitim anerkennen oder nur dieser Teil legitim anerkannt wird, der mit den anderen rational konform geht. – Mir fällt dazu eine Briefstelle ein, was Nietzsche mir einmal geschrieben hat, da steht: „Erst hat man Not sich von seinen Ketten zu emanzipieren. Und dann muss man sich auch noch von seiner Emanzipation emanzipieren.“ – – – Ich glaube, unsere Zeit ist vorbei. Wir sehen uns nächsten Donnerstag. Um die gleiche Zeit?!


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Led by Arno Böhler, the PEEK-Projekt „Artist Philosophers. Philosophy AS Arts-Based-Research“ [AR275-G21] is funded by the Austrian Science Fund (FWF) as part of the programme for artistic development and investigation (PEEK). Research location: University of Applied Arts Vienna. Brought about in national and international cooperation with: Jens Badura (HdK Zürich), Laura Cull (University of Surrey), Susanne Valerie Granzer (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/Max Reinhardt Seminar), Walter Heun (Tanzquartier Wien), Alice Lagaay (Zeppelin Universität Friedrichshafen). Postdoc: Elisabeth Schäfer (University of Applied Arts Vienna). The lecture series was produced in collaboration with: Institut für Philosophie Universität Wien, University of Applied Arts Vienna [Arno Böhler] and Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien [Krassimira Kruschkova].

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