mediathek philosophy on stage #3

Der phantomatische Körper der Philosophie // Performance-Text

Marcus Steinweg (CV)

Marcus Steinweg // Der phantomatische Körper der Philosophie (Transkript des Vortrages) // Philosophy On stage #3

Ich gebe zu, der Titel dieser Intervention „Der phantomatische Körper der Philosophie“ ist etwas sperrig, aber es ging um das Stichwort „Körper“, wenn ich mich recht erinnere, und mit dem Körper haben die Philosophen so ein Problem, glaube ich. Man könnte fast Philosophie definieren als dieses Problembewusstsein in Bezug auf die Korporalität dessen, was man „Denken“ nennt oder die „Seele“. Es gibt eine Art Kardinalphantasma des abendländischen Denkens, eine Art Kardinalphantasie – und wenn wir von Phantasma reden, dann sind wir bereits bei den Gespenstern und den Phantomen, und das wird ein Motiv meiner Intervention sein: Das Verhältnis von Subjektivität und Phantomatik, oder: „Inwiefern gibt es ein Subjekt nur als gespenstische Entität?“ – dies die These, über die ich heute reden möchte.

Sie wissen, dass die Kategorie des Subjekts… also, was ist Philosophie, wenn nicht die Geschichte der Selbstadressierung des Menschen, die Selbstbefragung des Menschen: „Wer bin ich?“ Das ist eine der Grundfragen der Philosophie von Anfang an, der abendländischen Philosophie insbesondere, und die Frage: „Wer bin ich?“ lässt sich natürlich nicht lösen und nicht trennen von der Frage: „Was ist Realität“?“, „Was ist Welt?“, und „Wie steht’s um die Realitätsverklammerung oder die Weltverklammerung des Menschen oder des menschlichen Subjekts?“ Es gibt da eine Art von „Subjektaußen“ oder was wir die „Welt“ nennen, unsere geteilte Welt, was wir „Realität“ nennen – auch im alltäglichen Wortgebrauch.

Das also sind Grundfragen der Philosophie: „Was ist Realität?“, „Wie konsistent ist das, was wir Realität nennen?“, denn offenbar hat der Begriff der Realität eine gewisse Funktion, so wie alle philosophischen Grundbegriffe zunächst eine Funktion haben, und ich denke, die wesentliche Funktion, die Fundamentalfunktion dieses Begriffes der Realität liegt darin, uns eine gewisse Konsistenz, eine gewisse Verlässlichkeit, eine gewisse Vertrautheit zu suggerieren oder zu versprechen. Realität ist also ein Konsistenzversprechen, und die Frage nach der Welt und nach der Realität lässt sich nicht lösen von der Frage nach der Realität des menschlichen Subjekts, also: „Wie konsistent bin denn ich?“, und „Wer ist denn, wer bin denn ich?“, „Wer ist dieses Ich, das sich selbst adressiert?“, wenn es so ist, dass Philosophie oder Denken eben eine gewisse Selbstadressierungspraxis meint. Die Frage „Wer bin ich?“ wird gewissermaßen nicht nur nach außen hin auf irgendetwas mir Fremdes gestellt, sondern in dieser Frage bin ich impliziert. Das liebe ich in der Philosophie, und ich gebe es zu: vielleicht bin ich nie von einer gewissen Sartre-Lektüre weggekommen, aber eine gewisse existenzielle Selbstimplikation gehört zur Philosophie, und deshalb, Krassimira, meine Mühe mit dem akademischen Betrieb. Denn eins ist mir aufgefallen an der Universität – ich hab‘ auch mal Philosophie studiert, aber nur kurz – mir ist sehr schnell aufgefallen – und ich glaube ich bin nicht der einzige der das beobachten kann – dass nicht nur im deutschen Universitätsbetrieb – ich habe in Freiburg studiert – oder in Paris, es eine bestimmte akademische Neutralisierung des Denkens gibt. Das ist kein Ressentiment das ich hier ausdrücke; ich habe auch viel Respekt vor der akademischen Arbeit bestimmter Philosophieprofessoren, aber suchen Sie mal einen Philosophen an der philosophischen Fakultät – das ist gar nicht so leicht. Denn die meisten machen tatsächlich Philosophiegeschichte, und Sie entschärfen gewissermaßen das Denken schon zu einer Art akademischen Praxis. Wenn Philosophie das wäre: Bücher schreiben über Leute die Bücher schreiben, dann wäre diese Philosophie zumindest nicht vollständig.

Warum? Ich denke, die Frage „Wer bin ich?“ impliziert mich selbst als Fragenden, mich selbst als Objekt der Frage und mich selbst als Subjekt der Frage; es gibt also eine Art Subjekt-Objekt-Verklammerung, die sich in dieser Identitätsfrage stellt oder zeigt, und deshalb denke ich, das sind Grundfragen der Philosophie an denen wir nicht vorbeikommen, an der Universität oder anderswo:

„Wer bin ich?“,

„Wie konsistent ist das, oder: was ist das überhaupt, dieses Ich, oder dieses Subjekt das spricht?“

„Gibt es überhaupt so etwas wie ein Subjekt?“

Wir wissen, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt – wenn es eine gewisse Kohärenz gibt, sagen wir, der Philosophie ausgehend von Nietzsche (Sie wissen, dass Nietzsche 1844 geboren ist, 1900 gestorben; das ist natürlich ein kontingentes Datum, aber Nietzsche eröffnet mit seinem Tod gewissermaßen das zwanzigste Jahrhundert) – in ihrer hyperbolischen, exzessiven Unterschiedlichkeit der verschiedenen Positionen: Adorno, Heidegger, Wittgenstein, Deleuze, Badiou, Giorgio Agamben usw. – alles singuläre Positionen, ich bin nicht dafür, diese Singularität zu ignorieren… und dennoch gibt es, denke ich, etwas, was diese Philosophie des 20. Jahrhunderts insgesamt verbindet, und das ist die In-Frage-Stellung eben der Kategorie des Subjekts. Macht es weiterhin Sinn, sich selbst als Subjekt zu adressieren? In äußerster Vereinfachung: Nietzsche ist natürlich bereits einer der Philosophen, der nach Hegel, auf eine gewisse Art, und in einem hyperbolischen Gestus diese gesamte abendländische Tradition in eine Totalrevision nimmt, in eine Totalbefragung. Hegel ist ein solcher Philosoph, Nietzsche ist ein solcher Philosoph, und dann natürlich Heidegger, und Sie wissen: der zweite Teil von Sein und Zeit ist nicht erschienen, der dritte Abschnitt des ersten Teils auch nicht, es ist ein doppelt fragmentarisch gebliebenes Buch, das Hauptwerk von Martin Heidegger 1927, aber dieses Buch impliziert schon eine massive Infragestellung des Subjektcharakters des Menschen. Der Mensch wird als Dasein adressiert, es gibt eine Art ontologische Tieferlegung des Menschen in Sein und Zeit, und zwar ganz zu Recht: es muss zuerst ein Seinsverhältnis zwischen mir und der Welt oder den Objekten außerhalb meiner selbst existieren als Bedingung der Möglichkeit, als transzendentale Bedingung, wenn man so will – transzendental heißt ja immer: ermöglichend – von so etwas wie einer Subjekt-Objekt-Relation. Heidegger war nicht einverstanden… ich glaube, hier lag sein Restexistenzialismus, der existenziale oder existenzielle Impuls, auch wenn er es immer zurückgewiesen hat, als Existenzphilosoph bezeichnet zu werden… aber Philosophie ist etwas anderes als bloße Erkenntnistheorie, und so hat er auch Hegel gelesen, so hat er Kant gelesen; es gibt diese Vorlesung aus den zwanziger Jahren, die Sie sicher kennen (GA 32), wo er eine Lektüre der Phänomenologie des Geistes von Hegel macht, und ganz entschieden – ich weiß nicht mehr an welcher Stelle – darauf insistiert, dass die Hegelianische Philosophie nicht primär Erkenntnisphilosophie ist. Warum? Es gibt etwas, was vielleicht der Erkenntnis fundamental vorausgeht, und das würde Heidegger natürlich ein Seinsverhältnis oder Seinsverständnis nennen; ich würde sagen: es gibt eine Art existenzieller oder ontologischer oder ontisch-ontologischer Weltverklammerung des Subjekts.

Warum macht es aber keinen Sinn, warum sollte es keinen Sinn machen, den Menschen weiterhin als Subjekt zu adressieren? Natürlich gibt es die Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die eine Art narzisstische Blessur, narzisstische Kränkung für die Selbstadressierung, für den Menschen darstellt, für den Menschen, der, sagen wir, in der Moderne sich aufrichtet. Die Philosophie der Neuzeit, die Philosophie der Moderne, wenn wir sie mit Descartes anfangen lassen, ist die Philosophie eines gewissen Selbstaufstands, einer gewissen autoerrectio des menschlichen Subjekts. Vorher, in der mittelalterlichen Philosophie – ich vereinfache natürlich massiv – adressiert sich der Mensch als ens creatum, d. h. als Geschöpf eines Kreators, eines Schöpfers. Es gibt da ein Subjekt, das kann man Gott nennen, aber der Mensch ist zunächst das Geschöpf, und da gibt es eine gewisse Objektivität. Dann gibt es eine gewisse Emanzipationsgeschichte, die wir die Aufklärung nennen können oder die Philosophie der Neuzeit. Es ist natürlich Descartes, der versucht, der Philosophie einen festen, stabilen Boden zu geben, ein unumstößliches Fundament, ein fundamentum inconcussum. Was macht Descartes? Descartes definiert das Denken als „Ego cogito me cogitare cogitatum“, „Ich denke mich das Objekt des Denkens denkend“. D.h., wenn ich denke, wenn ich eine Tasse oder einen Gegenstand denke, dann ist das nicht eine Draufloseinstellung wie Husserl das später nennt, also die vorphilosophische Einstellung eines Subjekts zum Objekt, eines Erkenntnissubjekts zu einem Erkenntnisobjekt, sondern: indem ich das Objekt denke, reflektiere ich; reflexio, das ist die autoreflexio, die das neuzeitliche Denken insgesamt charakterisiert – ich muss diesen kurzen Umweg machen, um näher zu denken, warum es dennoch ein Subjekt gibt, das vielleicht gar nicht ein autoreflexives Subjekt primär ist – aber zunächst muss ich dann im Durchgang durch die Objektwahrnehmung, die Objekterkenntnis mich selbst adressieren als Subjekt eben dieser Objektwahrnehmung; und das ist der Clou, wenn man so will, der Cartesianischen Philosophie und der neuzeitlichen Philosophie insgesamt und des Deutschen Idealismus dann, dass das Subjekt eben sich im Durchgang durch die Objekterkenntnis als Subjekt dieses Objektbewusstseins oder Gegenstandsbewusstseins adressiert. Das ist der Sinn des „Ego cogito me cogitare cogitatum“

Was passiert da? Descartes definiert – Sie wissen das – den Menschen als res cogitans, als denkende Substanz oder denkende Entität, was immer hier Denken heißt. Natürlich müsste man jetzt ausführlich Descartes lesen, um das ein wenig seriös zu machen, aber ich will nur sehr schnell etwas anzeigen und indizieren, nämlich dass es da eine Art Selbstaufrichtungsdynamik gibt, die den neuzeitlichen oder den modernen Diskurs der Philosophie konstituiert, und da ist schon die Frage: „Wer bin ich?“, „Wer ist das Ich?“. Es gibt eine Art Adressierung des Menschen als Subjekt.

Was heißt das – Subjekt? Ein Subjekt ist etwas anderes als bloß ein Objekt; es hat zumindest eine Denkfähigkeit – was immer Denken hier heißt – oder dann, als res cogitans, denkende Substanz. Und später, über Kant und über die Philosophie des Deutschen Idealismus entwickelt sich gewissermaßen dieses neue Selbstbewusstsein des Menschen auch als eine Art Autozentrierungs-, Selbstzentrierungsgeschichte in der der Mensch sich plötzlich selbst in den Mittelpunkt rückt und, ganz im Sinne der klassischen philosophischen Dynamik – nicht nur im Sinne von Descartes, sondern auch der Griechen – fragt nach dem Grund, versucht, sich einen Boden zu geben. Das war Philosophie von Anfang an: man hat nach archai, nach Urprinzipien, nach ersten Anfangsgründen gefragt. Ein bisschen Verlässlichkeit, ein bisschen Vertrautheit in der Welt, in der wir leben, ein bisschen Konsistenz des Bodens, auf dem wir gehen – das erwarten wir von uns, und die Philosophie hat tatsächlich versucht, dem Denken und d.h. dem menschlichen Subjekt einen solchen Boden einzuziehen, ein fundamentum inconcussum, oder eben einen Ursprung, einen verlässlichen Ursprung zu geben, und nicht nur einen Ursprung, sondern auch ein télos, also eine Art programmatischer Zieleingabe. Télos bedeutet ja etwas schon Definiertes, woraufhin ich mich orientiere, woraufhin meine Lebensdynamik geht, auch mit der ganzen religiösen Prägung des Eschatologischen. Diese Teleologie ist natürlich auch nicht unschuldig, so wie das ganze abendländische Denken überhaupt nicht unschuldig ist; deshalb liebe ich Heiner Müller so sehr; Heiner Müller ist vielleicht kein Philosoph, aber der Grundimpuls seines Denkens zeigt, dass er etwas begriffen hat von der Notwendigkeit, von der viele Philosophen nichts verstanden haben, dass es in der Philosophie letztlich darum geht, sich eben von dem Purismus- oder dem Unschuldigkeitsphantasma  zu befreien; in der Philosophie heißt das Idealismus – das ist der Idealismus der schönen Seelen, also derer, die glauben, sie könnten tatsächlich denken ohne einen Körper zu haben, der durch sie hindurchdenkt. Am Ende ist es doch eine Art Körper der mich denkt während ich denke, und das ist die narzisstische Kränkung, die natürlich zweifellos auch die Psychoanalyse darstellt, die Freud’sche Psychoanalyse als eine der narzisstischen Kränkungen, die ich nannte; dann natürlich die Theorie der Entfremdung von Karl Marx; Charles Darwin, die Rückordnung des Menschen in den Horizont der Evolutionsbiologie. Das Subjekt erfährt eine Art narzisstischer Kränkung, d.h. es erfährt eine Art Destabilisierung, es verliert gewissermaßen an Konsistenz – und was heißt da nun fortan Subjekt, wenn nicht die Selbstvermittlung eines inkonsistenten Subjekts mit dieser Inkonsistenz?

Das ist mein Vorschlag, das wäre meine Definition von Philosophie, und das ist ja Philosophie, und das ist ja auch Kunst – ich arbeite viel im Zwischenbereich von Philosophie und Kunst, aber ich tu’s als Philosoph; aber ich glaube an die Freundschaft von Philosophie und Kunst, und was Kunst und Philosophie letztlich verbindet ist das, dass es darum geht, sich in dieser Orientierungslosigkeit zu orientieren, die unsere Lebenssituation letztlich bleibt. Wir überschauen die Situation nicht in der wir sind, und dieses Phantasma eines absolut selbsttransparenten „Ego cogito“, eines Selbstbewusstseins – das war im Deutschen Idealismus die Adressierung des Menschen. Der Mensch ist Selbstbewusstsein – das ist das, was ich vorhin erklärt habe – er hat nicht nur ein Bewusstsein um Gegenstände, sondern er hat auch ein Bewusstsein um sich selbst als Gegenstandsbewusstsein – das ist die Struktur. So beginnt bei Hegel die Phänomenologie des Geistes, vom Bewusstseinskapitel zum Selbstbewusstseinskapitel, und dann zum Vernunftkapitel, aber letztendlich geht’s darum, zu begreifen: der Mensch hat in sich selbst eine gewisse Subjektstabilität als denkende Substanz oder als Vernunft oder als Geistwesen usw.

Und dieser Geist, dieses Geistphantasma – ich rede ja heute über Gespenster – ist durchlöchert worden im Denken des 20. Jahrhunderts. Das Denken des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte der Selbstdurchlöcherung des Menschen – woraufhin? Auf eine fundamentale Inkonsistenz,  die die Inkonsistenz seiner selbst ist. Das klassische Subjekt ist ein Subjekt, weil es mehr sein soll als ein Objekt, weil es eben Denkbegabung, Denkfähigkeit hat, weil es Selbstbewusstsein, Subjekt ist, und weil es dadurch eine gewisse Konsistenz hat oder auch Autorität, eine gewisse Sinnstiftungsinstanz darstellt. Es gibt einen gewissen Imperialismus der Vernunft – ich glaube Hannah Arendt hat von der Diktatur der Vernunft oder der Tyrannei der Vernunft gesprochen – und wir wissen, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts, z. B. die Dialektik der Aufklärung von Adorno, Horkheimer, aber auch Heidegger usw. natürlich genau diese Aufklärung über sich selbst aufzuklären versucht. Das war die Programmatik.

In der Aufklärung als dieser Selbstzentrierungsgeschichte, in enlightenment, lumière steckt natürlich: Licht. Und dieses Evidenzphantasma, diese Lichtmetaphysik, die sich eben schon im Begriff der Aufklärung indiziert ist natürlich auch ein Problem – warum? Weil es da doch etwas gibt, das wir nicht ganz durchleuchten – z.B. uns selbst. Wir sind nicht ganz autotransparent, und die Realität in der wir sind behält eine gewisse Opazität, eine gewisse Undurchsichtigkeit. Das ist kein Obskurantismus, Philosophie ist eine gezielt antiobskurantische Praxis – ich gehe nicht in irgendeine Mystik.

Aber mein Vorschlag ist – und das nur in äußerster Eile, da dies ja nur eine Intervention ist und kein Vortrag – darauf zu insistieren, dass es zwei Obskurantismen gibt: den Obskurantismus des Lichts und den Obskurantismus der Dunkelheit. Der Obskurantismus des Lichts ist der Tatsachenobskurantismus der die ideologische Realität unserer Zeit ausmacht; wir sind Tatsachengläubige geworden; es gibt eine schöne Formulierung von Nietzsche: „le faitalisme…“, nein, wie sagt er? „Le petit fait…“ Nein. Er bringt auf jeden Fall die Idee der Schicksalhaftigkeit mit den Tatsachen in Zusammenhang. Ich habe aus diesem Begriff, wenn ich das ein wenig verstanden habe, die Vorstellung abgeleitet, die vielleicht gar nicht so originell ist, aber für mich dennoch wichtig,  dass es letztendlich darum geht, sich hier auch einen kühlen Kopf zu bewahren in Bezug auf diesen Tatsachenobskurantismus, die Tatsachenreligiosität, die der Mystizismus, die Esoterik unserer Zeit ist.

Klassisch gibt es natürlich eine Pseudoalternative, die die Philosophie seit Platon und Aristoteles strukturiert, wenn man so will: Idealismus und Realismus. Der eine verliert sich im Himmel der Ideen und der andere verflüchtigt sich in der konkreten Wahrnehmung, und man sieht natürlich, dass das eine Pseudoalternative ist, aber wir wissen, dass diese Pseudoalternative auf eine problematische Weise das abendländische Denken strukturiert hat, und ich würde vorschlagen, beide als Obskurantismen, den Idealismus, den idealistischen Idealismus und den realistischen Idealismus gleichermaßen zurückzuweisen um dann die Frage des Subjekts zurückzuholen in den Horizont der Dekonstruktion des Subjekts die eben die Philosophie des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Schritten leistet.

Was vom Subjekt hat seinen eigenen Tod überlebt? Das ist eine Fragestellung der Philosophie heute, denke ich, und ich würde sagen, das Subjekt heute ist natürlich nicht das klassische Subjekt, das ein jeder von uns in seiner Singularität ist, da er ontisch, empirisch, singulär partizipiert – das ist fast die platonische méthexis an einer Idee oder an einer universalen Wir-Subjektivität, an einer transzendentalen Subjektivität, wie es bei Husserl dann auch heißen wird. Mein Vorschlag ist – und Husserl hat tatsächlich letzten idealistischen Impulsen nachgegeben… ich glaube, dass wir jetzt in der Philosophie die Frage stellen müssen nach einem Subjekt ohne Subjektivität. Ein Subjekt ohne Subjektivität ist natürlich ein Subjekt ohne Boden, ohne stabiles Fundament, ein Subjekt, das eben einer letzten Verankerung in einem transzendentalen Prinzip, einem Ermöglichunsgprinzip, d.h. einer letzten autoritären oder autoritativen ontologischen Konsistenz entbehrt.

Zwei Begriffe die mich interessieren, nicht nur in Hinblick auf das, was wir heute gerade, seit ein paar Jahren, die Finanzkrise nennen. Ich mache eine Ausgabe über „Money“ in Inaesthetics, dieser Zeitschrift, die ich herausgebe. Und was interessiert mich an Geld oder Ökonomie? Erstens natürlich, dass Philosophie und alle philosophischen Begriffe ökonomische Begriffe sind – das ist natürlich klar – oíkos, das Haus, nómos, die Gesetze des Hauses, darauf verweist der Begriff der Ökonomie, und wir können alles in Energiewerte, in ökonomische Energiewerte zurückrechnen, in Transaktionsgeschehnisse, in Übersetzungsgeschehnisse, die gesamte abendländische Philosophiegeschichte als eine Übersetzungsgeschichte, als eine Selbstadressierung, als Selbstübersetzungsgeschichte des Menschen denken. Der Mensch versucht sich eine stabilere Repräsentation zu finden außerhalb seiner selbst für das, was er ist oder was er glaubt zu sein oder sein zu müssen, und ist deshalb nicht unschuldig, denn wir denken natürlich nicht im luftleeren Raum, wir denken in der objektiven Tatsachenrealität. Wir sind durchzogen oder durschossen von Determinanten, wir sind biologisch… diese ganze Realitätstextur oder Tatsachentextur, das Tatsachenuniversum, unsere geteilte Welt, die Realität, diese eine Welt ohne Ausgang, wenn wir Ernst machen mit dem Atheismus – was nicht heißt, dass wir nicht wissen, dass wir dennoch glauben auf eine gewisse Art, aber dennoch müssen wir ernst machen mit dem Atheismus um zu begreifen: es gibt nur diese eine Welt, es gibt keine zweite Welt, es gibt keine zweite positiv gegebene Welt. Aber wir können dieses Transzendenzphantasma nicht durch ein Immanenzphantasma substituieren, wie ein naiver Deleuzianismus das gemacht hat; das ist das Problem – nicht das von Deleuze, sondern das Problem des Deleuzianismus – dass man sagte, man kann den Idealismus durch einen – ich vereinfache – Realismus substituieren. Nein, das geht nicht. Ich denke, Immanenz und Transzendenz sind eben Pseudoalternativen, aber die Frage heute ist die Frage nach der impliziten oder immanenten Transzendenz in diesem Tatsachengefüge, und das ist das, was der Tatsachenmystiker oder Tatsachenesoteriker eben nicht sieht, indem er auf eine stabile Immanenzzone vertraut. Die Immanenzzone wäre natürlich das Vertrautheitsuniversum Welt, dieses Konsistenzgewebe, das wir „Realität“ nennen. Aber Realität – und das zeigt nicht nur die Finanzkrise, das zeigt auch Lacan –  beruht doch auf einem Fundamentalphantasma, d. h. wir brauchen ein Gespenst, das uns hilft, Realität als konsistent zu erfahren, und diese Dynamik von Konsistenz und Inkonsistenz… innerhalb dieser zwei Pole bewegt sich, was ich ein Subjekt ohne Subjektivität nenne. Das Subjekt, das seinen eigenen Tod überlebt hat, ist ein phantomatisches Subjekt, ein gespenstisches Subjekt, eine phantomatisch-phantasmatisch-gespenstische Entität. Die Selbstadressierung muss jetzt übersetzt werden in die Selbstadressierung eines im Horizont des objektiven Tatsachenbewusstseins, im Horizont, sagen wir, auch eines naiven Realismus…

Alexander Kluge spricht mal von Papiertigerrealität, das finde ich ganz schön, denn das ist die Stoßrichtung des Gesamtwerks von Kluge, wenn ich das ein bisschen verstanden habe, und er kommt ja aus der Frankfurter Schule, von Adorno her. Aber auch Adorno wusste das: Man kann die Ästhetische Theorie lesen dann in Hinblick auf Kunst: Man sieht immer diese Dopplung, dass es einen strategischen Restidealismus gibt, einen nichtidealistischen Idealismus der eine präzise Funktion hat, nämlich das Denken vor dem Realitätsobskurantismus zu bewahren und da irgendeine Kluft zu öffnen und zu zeigen: Das sind Pseudoalternativen – Idealismus, Realismus, Konsistenz, Inkonsistenz.

Dass wir nicht ganz konsistent sind, was heißt das eigentlich? Dass das Subjekt ein Subjekt ohne Subjektivität ist, heißt, es ist ein Subjekt ohne stabilen Boden, wie ich sagte, d.h. ohne transzendentale Begründung in einer stabilen Entität. Es gibt diesen festen, stabilen Boden nicht, es gibt eine Art Orientierungslosigkeit, es gibt vielleicht sogar das, was Maurice Blanchot die wesentliche Einsamkeit genannt hat – in Bezug auf Kunst, natürlich, aber dann auch in Bezug auf das Subjekt. Das Subjekt ohne Subjektivität ist gewissermaßen ein transzendental kopfloses Subjekt, das nach oben hin geöffnet ist, weil es nicht von einer teleologischen Zieleingabe eines absoluten Architekten – nennen wir ihn „Gott“ – profitiert. Solange es einen Gott gibt, der den Plan in Händen hält, und der weiß um den Sinn dieses ganzen Seinstheaters und um den Sinn des Menschen innerhalb dieses Seinstheaters – solange finden wir uns einigermaßen beruhigt. Aber ich glaube, ein Versprechen gibt es ja nur dann… wenn ich sage, Realität ist ein Realitätsversprechen, dann eben deshalb, da ein Versprechen ja nicht da ist, um gehalten zu werden. Gehaltene Versprechen löschen gewissermaßen die Notwendigkeit des Versprechens Letztendlich geht es darum, Kunst, Philosophie, Denken und sich selbst als Subjekt zu begreifen, als etwas, das mit dieser, sagen wir: Inkonsistenz, mit der universalen oder transzendentalen Inkonsistenz umgehen muss, für die die Philosophie des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Namen gefunden hat. Deshalb sagte ich, auch bei dieser etwas gewaltsamen Zusammenfassung, dass…

Was nennt denn Deleuze „Werden“? Und warum sagt Deleuze, das Werden ist transhistorisch? Warum macht Deleuze eine Differenz zwischen Historie, Geschichte und Werden, devenir? (Qu’est-ce que la philosophie? Was ist die Philosophie? 1991) Was macht er? Survol, Überflug. Das ist die Dynamik des Denkens, der Wissenschaft sogar, der Kunst: einen gewissen Abstand zu markieren zum überflogenen Territorium. Aber der Überflug ist natürlich nicht der ikareische Flug in die Sonne, nicht einfach das Sich-in-die-Sonne-Schmeißen und dort Verglühen – das wäre der Sprung in das, was Deleuze das Chaos nennen würde. Deleuze sagt, wir müssen beides, wir müssen einen doppelten Schutz aufbauen, einerseits gegen die Vulgarität, d.h. die Dummheit der dóxa… So hat Philosophie sich selbst inauguriert bei Platon usw.: Philosophie will wirkliches Wissen sein und was anderes als dóxa, epistéme oder so, und das geht tatsächlich bis zu einem so platonkritischen Philosophen wie Deleuze, der tatsächlich auch manche konservative Impulse hat, indem er z.B. nie den Begriff der Philosophie zurückgewiesen hat, während alle zu seiner Zeit keine Philosophen sein wollten, Derrida eingeschlossen. Es gibt einen Restaristokratismus des Denkens bei Deleuze, den ich sehr stark finde, weil er letztendlich progressiv ist und nicht konservativ, und das ist festzuhalten am philosophischen Projekt unter den verschärften Bedingungen einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung.

Und ich glaube das ist das, wo wir heute in der Philosophie mehr oder weniger sind – in der Perspektive die ich vorschlage. Und der Überflug, der survol, bedeutet gewissermaßen den Kontakt zur Realität zu verschärfen, indem man den Abstand zu ihr aufrechterhält, und das um tatsächlich auch dem Realitätsobskurantismus ein wenig Widerstand zu leisten.

Es gibt zwei Kategorien die mich interessieren für die Definition was Kunst ist, für die Definition was Philosophie ist: Affirmation und Resistenz. Resistenz bedeutet Widerständigkeit, also einen gewissen Widerstand aufzubauen gegenüber den Gespenstern der idealistischen Phantasmagorien, also Geisterseherei, wie schon der frühe Kant das zurückweist, um Philosophie kritisch zu machen, dogmatische Philosophie zurückzuweisen. Die dogmatische Metaphysik verkehrt mit Gott so als wäre sie in permanentem Kontakt zu dem, was da Gott heißt. Das geht nicht, sagt Kant, und die Welt als Seinstotalität ist nicht das, was wir überblicken und begreifen. Es gibt da eine Art Schwierigkeit, ein Problem. Der Begriff des Problematischen ist eine Grundkategorie der Kritik der reinen Vernunft, dieses Buchs von Kant, 1781 in erster Auflage, was dann weitergeht bis zu Différence et Repetition bei Deleuze, der das Sein als Problematisches oder das Sein als Problem definiert, und „Problem“, wenn ich das nicht total missverstehe, heißt bei Deleuze das, was „Unentscheidbarkeit“ bei Derrida heißt. Es geht da um eine konstitutive Unentscheidbarkeit oder Unschärfe, die eben gerade jene Orientierungslosigkeit indiziert, von der ich sprach. Die Orientierungslosigkeit, nicht als Fatum, als Schicksal in dem Sinne, aber als ontologische Realität des Subjekts ohne Subjektivität.

Wie hält sich das Subjekt in seiner Welt? Es muss akzeptieren, dass es diese letzte programmatische, diese letzte Teleologie, diese letzte Zieleingabe nicht gibt. Aber es gibt da eine Art Löchrigkeit, eine ontologische Perforation, die man letztlich auch interpretieren kann als die Wüste der Freiheit. Ich bin nicht total durchdeterminiert. Was ist die Tatsachentextur, wenn nicht das ideologisch, politisch, kulturell, ökonomisch usw. kodifizierte Realitätsuniversum? Und die Frage nach der Subjektverklammerung des Menschen – „Wie stehe ich in der Realität?“, das war die Anfangsfrage – hat natürlich damit zu tun, dass ich begreifen muss, dass dieses Determinantengewebe, oder dieses Gefüge, diese etablierten Strukturen, diese anonyme Textur, die der Strukturalismus auf seine Art freigelegt hat, nicht alles ist, d.h. aber nicht, dass es etwas anderes, eine positive andere Welt gibt. Es gibt nur das Universum der objektiven Unfreiheit, aber im Universum der objektiven Unfreiheit sich als Subjekt einer, sagen wir, transzendentalen Kopflosigkeit zu behaupten: das nenne ich Philosophie.

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