Dr. Bernd Bösel

Disstertation: Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis

Abstract

Das Verhältnis von Philosophie und Enthusiasmus ist seit je her ein schwieriges. Obwohl Platon den Enthusiasmus im Phaidros als ein Grundthema der Philosophie etabliert, gilt der Begriff zumeist als umstritten. Insbesondere in der Neuzeit und in der Moderne ist er aus dem philosophischen Diskurs nahezu verdrängt worden. Die vorliegende Arbeit geht den Gründen dieser Marginalisierung nach. Die Einleitung schlägt nach einer Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Gefühle in der abendländischen Philosophie eine nicht-reduktive Anerkennung des Zwischenstatus (Medialität) der Affektivität vor. Der Haupttext der Arbeit gliedert sich in zwei Teile, die je einem Gegenbegriff (Melancholie, Nüchternheit) zum Enthusiasmus gewidmet sind.
Der erste Teil, Enthusiasmus im Zeichen der Melancholie, arbeitet in drei Kapiteln mehrere Varianten dieser Unterordnung heraus. Das erste Kapitel nähert sich Martin Heidegger als einem exemplarischen Vertreter für ein Denken, das den tiefen Stimmungen einen ontologischen Vorzug vor den hohen Stimmungen zuspricht. Zwar hat Heidegger selbst die philosophische Fruchtbarkeit der letzteren zumindest programmatisch anerkannt, zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit ihnen ist er allerdings nicht durchgedrungen. Im Gegensatz zu ihm nimmt sein Zeitgenosse Karl Jaspers in der Psychologie der Weltanschauungen eine eingehende Analyse des Enthusiasmus vor. Seiner Re-Affirmation der philosophischen Begeisterung ist das zweite Kapitel gewidmet, wobei über die Grenzen der Jaspersschen Phänomenbeschreibung hinaus auch der Leiblichkeit und der Zeitlichkeit des Enthusiasmus besonderes Gewicht zukommt. Das dritte Kapitel unternimmt einen Streifzug durch die psychologische und die humoralpathologische Variante der melancholischen Unterwerfung der Begeisterung, wobei der Schwerpunkt auf einer genauen Interpretation des für die Tradition so wichtigen Textes Problem XXX, 1 von Pseudo-Aristoteles liegt. Der zweite Teil, Enthusiasmus im Zeichen der Nüchternheit, knüpft an diese Thematik an, arbeitet aber zugleich anhand der Doktrin der Nüchternheit eine Verschärfung im Widerstand gegen den Enthusiasmus heraus, die für die Aufklärung konstitutiv zu sein scheint. Ansatzpunkt des vierten Kapitels ist John Lockes Enthusiasmus-Gegnerschaft, der in für diese Zeit typischer Weise den Begriff mit Fanatismus und Schwärmerei identifiziert. Locke fordert wie schon Francis Bacon vor ihm die Nüchternheit als einzig akzeptablen Gemütszustand für den Philosophen, eine Forderung, die inhaltlich und historisch auf das stoizistische Ideal der apatheia, der Leidenschaftslosigkeit, zurückgeht. Explizit gegen Locke tritt dessen Schüler Lord Shaftesbury für eine Wiederanerkennung des philosophischen Werts der Begeisterung ein. Im fünften Kapitel wird sein Hauptwerk The Moralists als Überwindung der stoizistisch-rationalistischen Dichotomie von Begeisterung und Besonnenheit interpretiert. In Fortführung der griechischen Sophrosyne-Ethik entwirft Shaftesbury das Vorbild eines geselligen und vornehmen Enthusiasten. Die maßvolle Begeisterung wird als die wahre Gemütsverfassung des Philosophierens geradezu hymnisch gefeiert. Das sechste Kapitel rundet die Arbeit mit einer Interpretation von Platons Phaidros ab, dem Urtext des enthusiastischen Philosophierens. Besonderer Wert wird auf die bisher meist vernachlässigte strukturelle Einheit des Dialogs gelegt. Der oft beklagte innertextliche Bruch des Phaidros spiegelt die für die platonische Liebe so wichtige Komplementarität von Mäßigung und Hingabe wieder. Die Philosophie lässt sich in Fortführung des platonischen Entwurfs abschließend als Schule des Begehrens sowie als Kultivierung des Enthusiasmus interpretieren.

Kurzbiographie

Promotion „Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis“, Institut für Philosophie, Universität Wien, März 2007, Postdoc September 2011 – August 2014: APART-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaft mit dem Forschungsprojekt „Die Kunst, Emotionen herzustellen – Philosophie als kritische Psychotechnik“ (als Neuer Selbständiger), seit Wintersemester 2015/2016: Akademischer Mitarbeiter, Europäische Medienwissenschaft, Institut für Künste und Medien, Universität Potsdam, Lehrstuhl Medientheorie/Medienwissenschaften, Prof. Marie-Luise Angerer

Publikationen (Auswahl)

Monografien

Philosophie und Enthusiasmus. Studien zu einem umstrittenen Verhältnis, Wien: Passagen 2008.

Von Platon einst als Grundbegriff etabliert, ist der Enthusiasmus aus der Philosophie fast verschwunden. Dieses Buch unternimmt eine Rehabilitierung des verdrängten Begriffs. Die Geschichte dieser Verdrängung wird in zwei Anläufen nachgezeichnet. Einerseits hat der antike Melancholiediskurs den Enthusiasmus als Krankheitssymptom inkorporiert – eine Unterwerfung, die über die Renaissance bis in die Moderne (Heidegger) nachwirkt. Andererseits stand der Enthusiasmus im Widerstreit zum stoischen Gebot der Leidenschaftslosigkeit (apatheia). Das Idealbild des nüchternen Denkers diente in der Neuzeit nicht nur zur Konstitution der Naturwissenschaft (Bacon), sondern ebenso zur Diffamierung Andersdenkender (Locke). Mit Platon, Shaftesbury und Jaspers kommen nun drei prominente Befürworter des Enthusiasmus zu Wort. Ist die Philosophie gar als Kultivierung eines besonnenen Enthusiasmus zu verstehen?

Herausgaben

Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politicsmit Marie-Luise Angerer und Michaela Ott, Berlin-Zürich: Diaphanes 2014.

Affect, or the process by which emotions come to be embodied, is a burgeoning area of interest in both the humanities and the sciences. For „Timing of Affect“, Marie-Luise Angerer, Bernd Bösel, and Michaela Ott have assembled leading scholars to explore the temporal aspects of affect through the perspectives of philosophy, music, film, media, and art, as well as technology and neurology. The contributions address possibilities for affect as a capacity of the body; as an anthropological inscription and a primary, ontological conjunctive and disjunctive process as an interruption of chains of stimulus and response; and as an arena within cultural history for political, media, and psychopharmacological interventions. Showing how these and other temporal aspects of affect are articulated both throughout history and in contemporary society, the editors then explore the implications for the current knowledge structures surrounding affect today.

Die Stile Martin Heideggersmit Patrick Baur und Dieter Mersch, Freiburg i. B.: Alber 2013.

Heideggers Ringen um das „Wie des Sagens“ weist einen eigenwilligen Duktus und einen oftmals sehr freien, zuweilen auch gewaltsamen Umgang mit der deutschen Sprache auf – Eigenschaften, die auf ebenso viel Faszination wie Ablehnung gestoßen sind. Selten aber hat man sich bisher mit der Frage auseinandergesetzt, wie sehr Heideggers Schreibstile mit der Art seines Denkens korrelieren, wie sehr Denken, Lesen und Schreiben bei ihm also unauflösbar verflochten sind. In den zwölf Beiträgen des Bandes wird u.a. der performative Charakter von Heideggers Stilen deutlich: Nicht als Ornament, sondern als Argument verstehen sie sich – als Schritte auf dem Weg zu einer Neukonstitution von Phänomenologie im Frühwerk wie auch zum späteren Grundanliegen einer Überwindung der Metaphysik.

Denken im Affekt. Praterstern Protokolle Band 1, mit Eva Pudill und Elisabeth Schäfer, Wien: Passagen 2010.

Welche Beziehung unterhalten Denken und Affekt? Kann man Denken und Affekt überhaupt trennen? Oder denken wir nicht immer im Affekt? Über Stimmungen, Emotionen, Affekte wird seit einigen Jahren viel nachgedacht. Scheinbar hat man damit die metaphysische Trennung von Sinnlichkeit und Verstand überwunden. Dieses Denken über die Affekte fragt aber nicht, ob das Denken überhaupt außerhalb der Affekte stattfinden kann. Ist das Denken nicht immer im Affekt? Und wurzelt der Wille zum affektfreien Sprechen nicht zuletzt in einem geschickt verschleierten Pathos der Nüchternheit? Mit diesen Fragen soll einem anderen, „redlicheren“ Denken der Affektivität das Feld bereitet werden. Dieses Buch eröffnet die „Praterstern Protokolle“ – eine neue philosophische Reihe des Passagen Verlages mit jungen Wiener PhilosophInnen, deren Arbeitsprinzip es ist, Texte miteinander wachsen zu lassen und die Möglichkeiten essayistischen Schreibens auszuloten.

Aufsätze in peer-reviewed Journals

„Total Affect Control, or: Who’s Afraid of a Pleasing Little Sister?“, with Marie-Luise Angerer, in: Digital Culture & Society 2: Quantified Selves / Statistic Bodies, ed. by Pablo Abend and Mathias Fuchs (accepted)

„Capture All, or: Who’s Afraid of a Pleasing Little Sister?“, mit Marie-Luise Angerer, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 13: Überwachung und Kontrolle, hg. von Dietmar Kammerer und Thomas Waitz, S. 48-56.

„Die philosophische Relevanz der Psychotechniken – Argumente für die Indienstnahme eines ambivalenten Begriffs“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, herausgegeben von Tilman Borsche, Ausgabe 38.2 / 2013, S. 123-142.

Aufsätze in editor-reviewed Journals

„Die therapeutische Kraft des Lachens. Michail Bachtins fröhliche Sprachphilosophie – integrativtherapeutische Konnektivierungen“, in: Integrative TherapieVol. 38/3-4 (2012), S. 241-268.

„Nietzsche als Psychologe, Teil 1 – Die Integration der Triebe und Affekte“, in: Integrative TherapieVol. 35/4 (2009), S. 395-416.

Aufsätze in Sammelbänden

„Immunisierung der Psyche, Maschinisierung der Affekte. Neue Paradigmen der Affektkodierung im 19. Jahrhundert“, in: Susanne Schlünder, Andrea Stahl (Hg.): Affektökonomien im 18. und 19. Jahrhundert, München: Fink 2016 (in Vorbereitung)

„‚Woher kommt der Enthusiasmus, wenn Gott tot ist?’ Von Genien, Genies und generösen Melancholikern“, in: Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.): Wahnsinn und Methode. Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie, Bielefeld: Transcript 2016 (im Erscheinen).

„Philosophy as an ‚Introduction into a General Science of Revolutions?‘ About Peter Sloterdijk’s Narrative-Evocative Philosophy“, in: Christoph Leitgeb et al. (Hg.): Narrated Realities – Narrated Communities, Rodopi 2015.

„Affective Synchronization, Rhythmanalysis, and the Polyphonic Qualities of the Present Moment“, in: Marie-Luise Angerer, Bernd Bösel und Michaela Ott (ed.): Timing of Affect, Diaphanes 2014.

„Einübung ins Entrücktsein. Heideggers eigen-willige Ekstatik“, in: Patrick Baur, Bernd Bösel, Dieter Mersch (Hg.): Die Stile Martin Heideggers, Freiburg i. B.: Alber 2013.

„Ökonomie im Ereignis – Zeit der Verzweiflung?“, gemeinsam mit Manuel Wäckerle, in: Hanno Pahl, Jan Sparsam (Hg.): Wirtschaftswissenschaft als Oikodizee? Diskussionen im Anschluss an Josephs Vogls Gespenst des Kapitals, Wiesbaden: Springer VS 2013.

„Warum Denken Spaß macht – Theorie als Hochgefühlstechnik“, in: Michael Heinlein, Katharina Seßler (Hg.), Die vergnügte Gesellschaft? Ernsthafte Perspektiven auf modernes Amüsement, Bielefeld: Transcript 2012.

„Nietzsche als Psychologe, II – Unterwegs zu einer Kultur der Hochgefühle“, in: Hilarion G. Petzold, Ilse Orth, Johanna Sieper (Hg.).: Gewissensarbeit, Weisheitstherapie, Geistiges Leben. Werte und Themen moderner Psychotherapie, Wien: Krammer 2011.

„Nietzsche als Psychologe, I – Die Integration der Triebe und Affekte“, in: Hilarion G. Petzold, Ilse Orth, Johanna Sieper (Hg.).: Gewissensarbeit, Weisheitstherapie, Geistiges Leben. Werte und Themen moderner Psychotherapie, Wien: Krammer 2011, S. 69-88 (Wiederabdruck).

„Call for Papers – Anrufe und Abwesenheit, Rückruf kann verfolgt werden, Nachrufe aufs Rufwesen kommen immer verfrüht“, gemeinsam mit Sandra Manhartseder, in: Esther Hutfless, Roman Widholm (Hg.): Identifizierungen. Verhältnisse I, Wien: Turia und Kant 2011.

„Denken im Affekt“, gemeinsam mit Elisabeth Schäfer, in: GLOBArt (Hg.): WendezeitBausteine für einen anderen Fortschritt, Wien, New York: Springer 2011.

„Heidegger und die Begeisterung“, in: Matthias Flatscher et al. (Hg.): Neue Stimmen der Phänomenologie – Erster Band: Die Tradition / Das Selbst, Nordhausen: Bautz, 2011.

„Begeistern wollen“, in: Bernd Bösel, Eva Pudill und Elisabeth Schäfer (Hg.): Denken im Affekt. Praterstern Protokolle Band 1, Wien: Passagen 2010.

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