dissertant_innen arno böhler (abgeschlossen)

Mag. Dr. Markus Mittmansgruber

Hantologie und Nekrographie. Das „Gespenst“ und seine Apokalypse oder Von Jacques Derridas Körper (Abschlussjahr: 2009)

Abstract


Wissenschaftliche Diskurse tendieren oftmals dazu, ein Ende auszurufen, den Tod zu diagnostizieren, die Apokalypse festzustellen: Das Ende der Geschichte, der Philosophie, der Religion, der Untergang der Lyrik, des Buches, der Tod des Menschen, des Subjekts, der Wiederholung, der Untergang des Anderen und des Eigenen, das Ende der Ethik, der Differenz, der Metaphysik, der Welt, etc. Zu Gunsten eines deklamierten Fortschritts der Menschheit und ihres Wissens muss „das Alte“, „das Antiquierte“ absterben, verschwinden und Platz machen, damit „das Neue“, die „neue Zeit“ anbrechen kann. Die vorliegende Arbeit stellt sich der Aufgabe, einige jener diskursiven Strategien ausfindig zu machen, welche der Unabschließbarkeit, dem Ende ohne Ende und letztlich dem unkontrollierbaren „Ereignis“ Herr werden wollen. Sie nähert sich dabei kritisch jenem Willen an, den Jean-Luc Nancy den „Willen zur Wiederkehr und zur Bedeutung“ nennt, und versucht, in der Re-lektüre von Jacques Derridas „Hantologie“ (Gespensterlehre), diesem an manchen Stellen zu widerstehen. Mithilfe der Figur des „Gastes“, der Analyse der „Gastfreundschaft“ und ihren Gesetzen gemäß Derrida arbeitet der erste Abschnitt in vier Kapiteln einen Körper-Begriff heraus, der die ek-sistierende Berührbarkeit, Offenheit und Empfänglichkeit der Körper für das Ankommen anderer Kräfte aufwertet. Als fruchtbar erweist sich hier vor allem die Körper-Interpretation, welche Deleuze mit Spinoza und Nietzsche gibt. Durch die Betonung des engen Zusammenhangs von „Gastlichkeit“ und „Hantologie“ wird die klassisch-dichotomische Unterscheidungen zwischen präsenten und absenten, gegenwärtigen und vergangenen, lebendigen und toten Körpern verunsichert. Auf diese Weise erhält, im Sinne Derridas, die Wirksamkeit der Kraft der un-heimlichen Spektralität, die sich in der anwesenden Abwesenheit des „Gespenstes“ zeigt, eine besondere und wichtige Bedeutung. In Anlehnung an Nancys Existenzial des „Mit-ein-ander-sein“ kommt in weiterer Folge ein Verhältnis zum Anderen zum Ausdruck, das sich, im Modus der Freundschaft, als „Mit-ein-ander-sein zum Tode“ erweist: „Mit-ein-ander-sein“ als grundlegende Beziehung der Über-lebenden zu ihren Toten – und zu ihrer möglichen Wiederkehr in Zukunft. Dass diese Beziehung jedoch keineswegs harmonisch-stabil ist, dafür sorgt die Unmöglichkeit der Lebenden, über den „Eigen-sinn“ der Toten, der „Gespenster“ verfügen zu können. Dieser Aspekt wird mit drei unterschiedlichen Konzeptionen des Simulakrums konfrontiert: Die spukhaften Simulakren im „punctum“ der Fotografie bei Barthes, die eigenständige Kraft der Simulakren in der Umstülpung des Platonismus bei Deleuze und die Simulakren der Simulation bei Baudrillard. Am Ende des ersten Abschnitts deutet sich die Arbeit des zweiten Teils an: Die Argumentation für eine über-lebende Zukünftigkeit dessen, was man gemeinhin „Derridas Dekonstruktion“, kurz: sein Vermächtnis nennt. Während der erste Abschnitt vor allem darum bemüht ist, die theoretischen Implikationen und Divergenzen zu formulieren, welche entstehen, wenn man das „Gespenst“ als „Gast“ und als „Gastgeber“ auffasst, nähert sich der zweite Abschnitt in drei Kapiteln diesem Thema mit praktischen Text-Analysen: Es wird konkret nach dem potentiellen Über-leben des „Gespensts“ namens Derrida gefragt, nach den Problemen bei der Aufgabe einer selektiven Übernahme seines Erbes und dem wieder-holenden, zukünftigen Umgang mit diesem. Das Hauptaugenmerk des zweiten Abschnitts gilt der strukturellen Untersuchung jener „Nekrographien“, die medial auf Jacques Derridas Tod veröffentlicht wurden. Hier kommen unterschiedliche Versuche zum Vorschein, das „Gespenst“ aus den über-lebenden Körpern zu drängen, es endgültig zu verabschieden, das „Ereignis“ davon abzubringen, sich (wieder) zu ereignen. Demgegenüber argumentiert die Arbeit für ein gelassenes Wieder-kommen- und Gehen-lassen der gespenstischen Kräfte und für eine ursprüngliche, re-signierende Affirmation dessen, was als das Unantizipierbare noch kommen bzw. wiederkommen wird. Diese Geste wird implizit dann auch in Derridas Nachrufen, die er anlässlich des Todes von Freunden zu Lebzeiten geschrieben hat, aufgespürt.

Kurzbiographie


Markus Mittmansgruber, geboren 1981 in Linz, studierte Philosophie an der Universität Wien. 2009 promovierte er mit einer Arbeit zu Jacques Derrida. Seit 2011 mehrere Veröffentlichungen von kurzen Geschichten in Literaturzeitschriften (u.a. in Kolik, Die Rampe, Podium, klischeeanstalt) und von essayistischen Texten und Rezensionen. 2015 nahm er an der Autorenwerkstatt am Literarischen Colloquium Berlin teil. 2016 erschien sein erster Roman beim Luftschacht Verlag. Publikumspreis Wortspiele 2016 im Porgy & Bess Wien. Stipendium des BKA 2016 für einen Aufenthalt am Schloss Wiepersdorf.

Publikationen (Auswahl, Stand November 2018)


– „Austreibungen“, in Arbeit, geplanter Erscheinungstermin: Frühjahr 2019

– „Verwüstung der Zellen“, Luftschacht Verlag: Wien 2016 (Debütroman)

– „Das „Gespenst“ und seine Apokalypse. Von Jacques Derridas Körper“, Wien: Passagen Verlag 2012

Vorträge (Auswahl, Stand November 2018)


– Lesung aus „Verwüstung der Zellen“ in der Alten Schmiede, Textvorstellungen – Motto: Debüts, Schönlaterngasse 9, 1010 Wien, 27. September 2016

– Lesung aus „Verwüstung der Zellen“ im Rahmen der kolik-Autoren.Lounge im Schauspielhaus Wien, Porzellangasse 19, 1090 Wien, 14. Juni 2016

– Lesung aus „Verwüstung der Zellen“ im Rahmen der „Wortspiele. Internationales Festival Junger Literatur 2016“, Porgy & Bess, Riemergasse 11, 1010 Wien, 31. März 2016

– Lesung mit Moderation aus „Verwüstung der Zellen“ bei der Leipziger Buchmesse im Österreich Café, 19. März 2016

– Vortrag mit dem Titel „Der Unheimliche“ im Rahmen des Internationalen Kolloquiums „Die Zukunft gehört den Phantomen. Kunst und Politik (in) der Dekonstruktion“, Kunstuniversität Linz, Kollegiumgasse 2, 4020 Linz, 28. bis 30. September 2014

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