next up previous


2.2 Die Maxwell-Boltzmann-Verteilung

Um statistische Verfahren anwenden zu können, teilen wir den $\mu$-Raum in ($6$-dimensionale) ,,Zellen`` der Größe $(\Delta x)^{3} (\Delta v)^{3} $ ein, die wir von $1$ bis $m$ durchnumerieren. Jeder Zelle $j$ ($=1, \dots, m$) entspricht gemäß $E_{j} \equiv E(\vec{r}_{j},\vec{v}_{j})$ eine bestimmte Energie. (Beim idealen Gas zum Beispiel ist $E_{j}=mv_{j}^{2}/2$, wo $\vec{v}_{j}$ die zur Zelle $j$ gehörige Geschwindigkeit ist.)

Nun teilen wir jeweils $n_{j}$ der insgesamt $N$ Teilchen der $j$-ten Zelle zu. Es soll gelten, daß $N » m » 1$. Jedes $m$-tupel von Besetzungszahlen, $\vec{n} \equiv \{ n_{j};   j=1,\dots , m \}$, nennen wir eine Aufteilung; jede Aufteilung kann auf viele verschiedene Arten durchgeführt werden, weil die Nummern der einzelnen Teilchen bei gleichbleibender Aufteilung permutiert werden können. Zu einer einzigen Aufteilung $\vec{n}$ gehören also viele mögliche Zuordnungen. In einem abgeschlossenen System mit der Gesamtenergie $E$ müssen die Besetzungszahlen $n_{j}$ aber jedenfalls die Bedingung $\sum_{j} n_{j}E_{j}=E$ erfüllen.

Die Anzahl der möglichen Zuordnungen von $N$ Teilchen auf $m$ Zellen mit den Besetzungszahlen $\vec{n} \equiv \{ n_{j};   j=1,\dots , m \}$ ist

\begin{displaymath}
P(\vec{n})= \frac{N!}{n_{1}! n_{2}! \dots n_{m}!}
\end{displaymath} (2.11)

(In der Kombinatorik nennt man diese Anordnungen Permutationen von $m$ Elementen - also Zellnummern - mit Wiederholung).

Da jeder möglichen Zuordnung die gleiche a priori-Wahrscheinlichkeit zukommt, ist jene Aufteilung am wahrscheinlichsten, die die meisten verschiedenen Zuordnungen zuläßt. Im allgemeinen ist die Wahrscheinlichkeit dieser optimalen Zuordnung wesentlich größer als die aller übrigen, sodaß wir uns auf die Untersuchung dieser einen Zuordnung beschränken können (siehe die obige Diskussion der Multinomialverteilung).

Wir werden daher jene spezielle Aufteilung $\vec{n}^{*}$ bestimmen, die den Ausdruck 2.11 unter den zusätzlichen Bedingungen

\begin{displaymath}
\sum_{j=1}^{m} n_{j} - N = 0 \;\;\;{\rm und} \;\;\;
\sum_{j=1}^{m} n_{j}E_{j} - E =0
\end{displaymath} (2.12)

zu einem Maximum macht.

Da der Logarithmus eine monoton steigende Funktion ist, kann man anstelle von $P$ auch $\ln P$ maximieren - was mathematisch einfacher ist. Das probate Verfahren zur Maximierung einer Funktion vieler Variabler, unter Einhaltung zusätzlicher Bedingungen, ist die Variationsmethode mit Lagrangemultiplikatoren (siehe Übungsbeispiel 2.1). Die Variationsgleichung

\begin{displaymath}
\delta \ln P -\delta \left( \alpha \sum_{j} n_{j} +
\beta \sum_{j} E_{j} n_{j}\right) = 0
\end{displaymath} (2.13)

mit den unbestimmten Multiplikatoren $\alpha$ und $\beta$ führt, unter Verwendung der Stirling-Näherung für $\ln P$, auf
\begin{displaymath}
- \ln n_{j}^{*} - \alpha - \beta E_{j} = 0
\end{displaymath} (2.14)

Die optimale Aufteilung $n_{j}^{*}$ ist also gegeben durch
\begin{displaymath}
n_{j}^{*} = e^{ - \alpha - \beta E_{j}} \; {\rm ;} \; \; j=1,\dots m
\end{displaymath} (2.15)

Daher ist
\begin{displaymath}
f(\vec{r}_{j},\vec{v}_{j}) \propto n_{j}^{*}
= A \exp\{-\beta E(\vec{r}_{j},\vec{v}_{j})\}
\end{displaymath} (2.16)

Speziell für ein verdünntes Gas, das bei Abwesenheit einer äußeren Kraft auch noch homogen bezüglich des Ortsvektors $\vec{r}$ ist, gilt
\begin{displaymath}
f(\vec{v}_{j})= B \exp \{ -\beta (m v_{j}^{2}/2) \}
\end{displaymath} (2.17)

Aus der Normierungsbedingung $\int f(\vec{v}) d\vec{v}=1$ oder
\begin{displaymath}
B \int 4 \pi v^{2} e^{-\beta m v^{2}/2} dv = 1
\end{displaymath} (2.18)

folgt $ B = \left( \beta m / 2 \pi \right)^{3/2} $ und somit
\begin{displaymath}
f(\vec{v}) =
  \left[ \frac{\beta m}{2 \pi } \right]^{3/2}
e^{-\beta mv^{2}/2 }
\end{displaymath} (2.19)

Nun soll auch noch die Größe $\beta$, die zunächst nur aus Gründen mathematischer Zweckmäßigkeit eingeführt wurde, näher untersucht werden. Die mittlere kinetische Energie eines Moleküls ist gegeben durch
\begin{displaymath}
\langle E \rangle \equiv
\int d\vec{v} (mv^{2}/2)f(\vec{v})
= \frac{3}{2 \beta}
\end{displaymath} (2.20)

In Abschnitt 2.3 werden wir uns davon überzeugen, daß die mittlere kinetische Energie eines Moleküls mit der makroskopischen Meßgröße $T$ (Temperatur) gemäß $\langle E \rangle = 3 kT/2$ zusammenhängt; somit ist $\beta \equiv 1/kT$. Unter Vorgriff auf dieses Ergebnis schreiben wir die Verteilungsdichte der Geschwindigkeit in der allgemein üblichen Form, nämlich
\begin{displaymath}
f(\vec{v}) =
  \left[ \frac{m}{2 \pi kT} \right]^{3/2}
e^{-mv^{2}/2 kT}
\end{displaymath} (2.21)

Diese Verteilungsdichte im Geschwindigkeitsraum wird als Maxwell-Boltzmann-Verteilung bezeichnet. Derselbe Name wird aber oft auch für die Verteilungsdichte des absoluten Wertes der Teilchengeschwindigkeit verwendet, die durch
\begin{displaymath}
f_{0}(\vert \vec{v} \vert) = 4 \pi v^{2} f_{0}(\vec{v})
= 4 \pi \left[ \frac{m}{2 \pi k T} \right]^{3/2}
v^{2}e^{-mv^{2}/2kT}
\end{displaymath} (2.22)

gegeben ist (siehe Gl. 1.56).

Die Besetzungszahlen $n_{j}^{*}$ der Zellen im $\mu$-Raum wurde durch Maximierung der Anzahl der möglichen Zuordnungen bestimmt. Man kann zeigen, daß die so gefundene Aufteilung nicht nur die wahrscheinlichste, sondern die bei weitem wahrscheinlichste ist; mit anderen Worten, jede Abweichung von dieser Aufteilung ist extrem unwahrscheinlich (siehe oben: Multinomialverteilung). Diese Tatsache begründet den praktischen Wert dieser Verteilung: Die MB-Verteilung ist eben die Verteilung der Geschwindigkeiten in einem Vielteilchensystem, mit der wir immer rechnen können.

Abbildung 2.1: Maxwell-Boltzmann-Verteilung
\begin{figure}\includegraphics[width=300pt]{fig/f2mbv.ps}
\end{figure}

Wie die Abbildung zeigt, ist $f_{0}(\vert\vec{v}\vert)$ eine schiefe Verteilung; ihr Maximalwert liegt bei

\begin{displaymath}
\tilde{v} = \sqrt{\frac{2kT}{m}}
\end{displaymath} (2.23)

Diese wahrscheinlichste Geschwindigkeit ist nicht identisch mit der mittleren Geschwindigkeit,
\begin{displaymath}
\langle v \rangle \equiv \int_{0}^{\infty} dv   v f_{0}(\vert\vec{v}\vert)
= \sqrt{\frac{8}{\pi}} \sqrt{\frac{kT}{m}}
\end{displaymath} (2.24)

oder mit der Wurzel aus dem mittleren Geschwindigkeitsquadrat (engl. root mean squared velocity oder r.m.s. velocity),
\begin{displaymath}
\overline{v}_{rms} \equiv \sqrt{\langle v^{2}\rangle} = \sqrt{\frac{3kT}{m}}
\end{displaymath} (2.25)



BEISPIEL: Die Masse des $H_{2}$-Moleküls beträgt $m=3.346 \cdot 10^{-27} kg$; bei Raumtemperatur (ca. $300  K $) ist $kT = 1.380 \cdot 10^{-23} . 300 = 4.141 \cdot 10^{-21}J$; somit ist die wahrscheinlichste Geschwindigkeit eines solchen Moleküls unter Gleichgewichtsbedingungen $\tilde{v}= 1.573 \cdot 10^{3}m/s$.

next up previous
F. J. Vesely / StatPhys Tutorial, Deutsch, 2001-2003