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3.1 Mikroskopische Variable

Der mikroskopische Zustand eines Modellsystems ist jeweils durch die Angabe eines vollständigen Satzes von mikroskopischen Variablen festgelegt. Die Anzahl dieser Variablen ist von der Größenordnung der Teilchenzahl. Dagegen ist der makroskopische Zustand durch einige wenige Meßgrößen, wie z.B. Stoffmenge, Energie und Volumen, bestimmt. Im allgemeinen sind sehr viele verschiedene Mikrozustände mit einem einzigen Makrozustand vereinbar; eine der Hauptaufgaben der statistischen Mechanik besteht darin, die Anzahl der möglichen Mikrozustände bei gegebenen makroskopischen Bedingungen zu ermitteln.

Faßt man die mikroskopischen Variablen als Koordinaten in einem hochdimensionalen Raum auf, dann ist der mikroskopische Zustand des Systems durch einen Punkt oder Vektor in diesem Raum repräsentiert. Der Raum wird als Gibbsscher Phasenraum oder Zustandsraum bezeichnet; für den Zustandsvektor verwendet man meist das Symbol $\vec{\Gamma}$.

Der Zustandsvektor eines klassischen Vielteilchensystems aus isotropen Teilchen - also eines idealen Gases, eines Fluids aus harten Kugeln oder LJ-Molekülen usw. - ist durch die Angabe aller Örter und Geschwindigkeiten vollständig bestimmt:

\begin{displaymath}
\vec{\Gamma} \equiv
\{ \vec{r}_{1}, \dots, \vec{r}_{N} ; \v...
... \vec{r}_{i} \epsilon V; \; v_{i,\alpha} \epsilon
(\pm\infty)
\end{displaymath} (3.1)

Die Zahl der Freiheitsgrade ist $n = 6 N$ (oder, in 2 Dimensionen, $4N$); die Anzahl der Geschwindigkeits-Freiheitsgrade beträgt $3N$ (oder $2N$). Häufig kann man, wie im vorliegenden Fall, die Unterräume $\vec{\Gamma}_{r} \equiv \{\vec{r}_{i} \}$ (Ortsraum) und $\vec{\Gamma}_{v} \equiv \{\vec{v}_{i} \}$ (Geschwindigkeitsraum) getrennt behandeln.

Diese Darstellung des Mikrozustandes eines ganzen Systems durch einen einzigen Punkt im $6N$-dimensionalen Gibbsschen Phasenraum ist zu unterscheiden von der in Kapitel 2 eingeführten Behandlung, die auf Boltzmann zurückgeht. Der dort definierte $\mu$-Raum weist nur $6$ Dimensionen $\{\vec{r},\vec{v} \}$ auf; jedem Teilchen eines Systems entsprach in dieser Darstellung ein Punkt, und der Mikrozustand eines Systems aus $N$ Teilchen wurde durch eine Schar von $N$ Punkten $\{\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i} \}$ repräsentiert.

Im Fall des quantenmechanischen idealen Gases genügt die Angabe aller Quantenzahlen zur Festlegung des Zustandes:

\begin{displaymath}
\vec{\Gamma} \equiv \{ (n_{ix}, n_{iy}, n_{iz}); \; i=1, \dots N\}
\end{displaymath} (3.2)

Abbildung 3.1: Zustandsraum des quantenmechanischen 2-D Gases
\begin{figure}\includegraphics[height=240pt]{fig/f1qme_1.ps}
\end{figure}
Bei Systemen aus $N$ Spins gilt
\begin{displaymath}
\vec{\Gamma} \equiv \{ \sigma_{i}; \; i=1, \dots N\}
\end{displaymath} (3.3)

mit $\sigma_{i} = \pm 1$.

DIE ENERGIEFLÄCHE
Wir betrachten ein Kollektiv aus $M$ Systemen, die alle die gleiche Energie $E$, die gleiche Teilchenzahl $N$ und - im Fall eines Gases oder Fluids - das gleiche Volumen $V$ aufweisen sollen. Alle Mikrozustände $\vec{\Gamma}$, die mit diesen makroskopischen Bedingungen vereinbar sind, haben dann die gleiche Wahrscheinlichkeit (bzw. die gleiche relative Häufigkeit) in der Gesamtheit. Die Größe $M$ der Gesamtheit soll gegen Unendlich streben. Die Annahme, daß allen Mikrozustände, die mit der Bedingung $E = E_{0}$ vereinbar sind, die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt, ist eine der Grundfesten der Statistischen Mechanik; sie wird als ,,Postulat der gleichen a priori-Wahrscheinlichkeit`` bezeichnet. Zur konzisen Beschreibung dieses Postulats bedienen wir uns der Dichte im Phasenraum, für die gelten soll, daß
\begin{displaymath}
\rho(\vec{r},\vec{v}) = \left\{ \begin{array}{ll} \rho_{0} \...
...r},\vec{v}) = E_{0} \\
0 \; & {\rm sonst}
\end{array} \right.
\end{displaymath} (3.4)

Die Bedingung $E=const$ definiert eine $(n-1)$-dimensionale ,,Oberfläche`` in dem $n$-dimensionalen Phasenraum des jeweiligen Systems. Die Menge aller Punkte auf dieser ,,Energiefläche`` wird als mikrokanonische Gesamtheit bezeichnet. So beschreibt beispielsweise im $3N$-dimensionalen Geschwindigkeitsraum des klassischen idealen Gases die Gleichung
\begin{displaymath}
E_{kin} \equiv \frac{m}{2} \sum_{i}v_{i}^{2} = const =E_{0}
\end{displaymath} (3.5)

die $(3N-1)$-dimensionale Oberfläche einer $3N$-Kugel mit dem Radius $r = \sqrt{2E_{0}/m}$.

Eine typische Frage, die durch Anwendung statistischer Methoden auf eine solche Gesamtheit zu beantworten ist, lautet: wie groß der Mittelwert des Quadrats der Teilchengeschwindigkeit $\langle v_{i}^{2} \rangle$ über alle - a priori gleich wahrscheinlichen - Zustände auf dieser Energiefläche?

ERGODENHYPOTHESE
Anstelle einer Gesamtheit von Systemen betrachten wir nun ein einziges System; dieses soll sich aber nach den Gesetzen der Mechanik in der Zeit entwickeln. In einem abgeschlossenen System bleibt die Gesamtenergie $E$ erhalten; die Mikrozustände, die das System im Lauf der Zeit durchläuft, liegen also durchwegs auf der $(N-1)$-dimensionalen Energieschale, die auch das mikrokanonische Ensemble definiert.

Die Ergodenhypothese besagt, daß bei dieser ,,natürlichen Entwicklung`` des Systems jeder erlaubte Mikrozustand im Lauf der Zeit erreicht (bzw. beliebig nahe approximiert) wird, und zwar mit gleicher relativer Häufigkeit.

Diese Hypothese kann nicht allgemein bewiesen werden; sie gilt auch nicht in jedem Fall. Für viele relevante Systeme, wie z.B. Gase oder Flüssigkeiten unter normalen Bedingungen, ist sie aber gut erfüllt. Die Zeitspanne $t_{0}$, die zum ausreichenden Durchstreifen der Energiefläche nötig ist, liegt dann im Bereich von $10^{-9}-10^{-6}$ Sekunden, also weit unter einer typischen experimentellen Beobachtungsdauer. Zu jenen Systemen, die ,,schlecht ergodisch`` oder nicht-ergodisch sind, gehören unterkühlte Flüssigkeiten sowie Gläser. Bei solchen Systemen bleibt der Zustandsvektor $\Gamma$ lange in einem Teilbereich der Energiefläche gefangen und findet erst nach Sekunden, Tagen oder gar Jahrhunderten den Weg zu anderen Teilen der mikrokanonischen Zustandsfläche.

Die Ergodenhypothese hat eine wichtige praktische Konsequenz: Bei der Ermittlung von Mittelwerten über die auf der Energiefläche liegenden Mikrozustände ist es gleichgültig, ob man über die $M$ Systeme des mikrokanonischen Ensembles mittelt oder den zeitlichen Mittelwert über die nacheinander auftretenden Mikrozustände eines einzigen isolierten Systems bildet. Dieses Korollar der Ergodenhypothese wird oft auf die Kurzformel

Ensemblemittel = Zeitmittel
gebracht. (Übrigens: ein altes Wort für Gesamtheit, Ensemble oder Kollektiv ist ,,Schar``, und so liest man zuweilen auch noch ,,Scharmittel = Zeitmittel``.)

Die Ergodenhypothese erlaubt uns, im folgenden zur Unterstützung der theoretischen Argumente auch Computersimulationen heranzuziehen. Dabei handelt es sich bis auf weiteres um deterministische Simulationen, also um die möglichst genaue Berechnung der zeitlichen Entwicklung eines einzigen isolierten Systems; man spricht in diesem Zusammenhang auch von Molekulardynamik-Simulation. (Eine andere Art von Simulationen, die sogenannte Monte Carlo-Rechnung, durchstreift stattdessen den Zustandsraum in stochastischer Weise; die verschiedenen Mikrozustände werden dabei von vornherein mit der ihnen zukommenden relativen Häufigkeit aufgesucht.)

ENERGIESCHALE
Anstelle der strikten Bedingung $E = E_{0}$ werden wir im allgemeinen die schwächere Bedingung $E_{0}-\Delta E$ $\leq E$ $\leq E_{0}$ betrachten. Die Zustände des Systems sollen also auf eine dünne ,,Schale`` bei $E \approx E_{0}$ beschränkt sein. Diese Bedingung entspricht der realistischen Annahme, daß der Energieaustausch zwischen einem System und seiner Umgebung zwar nicht völlig unterdrückt, aber doch klein gehalten werden kann.

Für die Dichte im Phasenraum soll also nun gelten

\begin{displaymath}
\rho(\vec{r},\vec{v}) = \left\{ \begin{array}{ll} \rho_{0} \...
...}, \Delta E \right] \\
0 \; & {\rm sonst}
\end{array} \right.
\end{displaymath} (3.6)

Beim klassischen idealen Gas lautet diese Bedingung3.1
\begin{displaymath}
E_{0}-\Delta E \leq E_{kin} \equiv (m/2) \sum_{i}v_{i}^{2} \leq E_{0}
\end{displaymath} (3.7)

Für das quantenmechanische ideale Gas soll gelten
\begin{displaymath}
E_{0}-\Delta E \leq E_{N,\vec{n}} \equiv
\frac{h^{2}}{8mL^{2}} \sum_{i}\vec{n}_{i}^{2} \leq E_{0}
\end{displaymath} (3.8)

Bei einem System aus $N$ Spins ohne Wechselwirkung ist die Energieschale durch die Beziehung $- H \sum_{i} \sigma_{i}$ $\epsilon   [E_{0}, \Delta E] $ festgelegt.

Eine Übersicht über die Zustandsräume und Energien der verschiedenen Modellsysteme ist aus Tabelle 3.1 zu ersehen.

Tabelle: Zustandsräume der wichtigsten Modellsysteme
Modell Mikrovariablen
($i=1,\dots ,N$)
Dimension des Phasenraums
Energie

Klassisches ideales Gas
$\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i}$ $6N$ $E_{kin} \equiv \frac{m}{2}\sum v_{i}^{2} $
Harte Kugeln in Box
$\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i}$ $6N$ $E_{kin} \equiv \frac{m}{2}\sum v_{i}^{2} $
Harte Scheiben in Box
$\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i}$ $4N$ $E_{kin} \equiv \frac{m}{2}\sum v_{i}^{2} $
LJ-Teilchen, periodische Randb.
$\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i}$ $6N$
(bzw. $6N-3$)
$E_{kin} + E_{pot} \equiv $
$\; \frac{m}{2}\sum v_{i}^{2} + \sum_{i,j>i} U_{LJ}(r_{ij})$
Lineare bzw. nichtlineare Moleküle
$\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i},\vec{e}_{i}, \vec{\omega}_{i}$ $ 10N $ bzw. $12N$ $E_{kin} + E_{pot} \equiv \newline \frac{m}{2}\sum v_{i}^{2}+ \frac{I}{2} \sum \omega_{i}^{2}+ E_{pot} $
Harmonischer Kristall
$\vec{q}_{i}, \dot{\vec{q}}_{i}$ $6N$ $E_{kin} + E_{pot} \equiv \newline \frac{m}{2}\sum \dot{\vec{q}}_{i}^{2}
+ \frac{f}{2}\sum \left\vert\vec{q}_{i}-\vec{q}_{i-1} \right\vert^{2}$
Quantenmech. id. Gas
$\vec{n}_{i}$ $3N$ $ \frac{h^{2}}{8mL^{2}}\sum_{i}\left\vert \vec{n}_{i}\right\vert^{2}$
Spinsystem ohne Wechselwirkung
$\sigma_{i}$ $N$ $- H \sum_{i} \sigma_{i}$




PHASENRAUMVOLUMEN UND THERMODYNAMISCHE WAHRSCHEINLICHKEIT
Wir gehen von der grundlegenden Annahme aus, daß alle zu einer Energie gehörigen Mikrozustände gleich wahrscheinlich sind. Sie entsprechen also den in Abschnitt 1.3 erwähnten Elementarereignissen gleicher a priori-Wahrscheinlichkeit.

Daraus folgt aber, daß ein Makrozustand, der mehr Mikrozustände zuläßt als ein anderer, auch häufiger auftritt - und somit wahrscheinlicher ist.

Um ein konkretes Beispiel anzuführen, fragen wir nach der Wahrscheinlichkeit, mit der alle Moleküle eines idealen Gases in der linken Hälfte eines Gefässes aufzufinden sein werden, wobei sie im übrigen alle möglichen Positionen und Geschwindigkeiten annehmen mögen. Alle so definierten Mikrozustände liegen in einem Teil der gesamten ,,zugelassenen`` Phasenraum-Kugelschale $[E, \Delta E]$; sie bilden ein Subensemble der vollständigen mikrokanonischen Gesamtheit. Die Wahrscheinlichkeit der Situation ,,alle Teilchen in der linken Hälfte des Behälters`` ist offenbar gleich dem Größenverhältnis zwischen dem Subensemble und dem vollständigen Ensemble. Es wird daher notwendig sein, das Teilvolumen der Phasenraum-Kugelschale, das zum Subensemble gehört, mit dem Volumen der gesamten Kugelschale zu vergleichen. (Später wird sich herausstellen, daß das Verhältnis der beiden PR-Volumina gleich $(1/2^{N})$, also verschwindend klein ist - im Einklang mit Erfahrung und Intuition.)


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F. J. Vesely / StatPhys Tutorial, Deutsch, 2001-2003