Faßt man die mikroskopischen Variablen als Koordinaten in einem hochdimensionalen Raum auf, dann ist der mikroskopische Zustand des Systems durch einen Punkt oder Vektor in diesem Raum repräsentiert. Der Raum wird als Gibbsscher Phasenraum oder Zustandsraum bezeichnet; für den Zustandsvektor verwendet man meist das Symbol .
Der Zustandsvektor eines klassischen Vielteilchensystems aus isotropen
Teilchen - also eines idealen Gases, eines Fluids aus harten Kugeln
oder LJ-Molekülen usw. - ist durch die Angabe aller Örter und
Geschwindigkeiten vollständig bestimmt:
(3.1) |
Diese Darstellung des Mikrozustandes eines ganzen Systems durch einen einzigen Punkt im -dimensionalen Gibbsschen Phasenraum ist zu unterscheiden von der in Kapitel 2 eingeführten Behandlung, die auf Boltzmann zurückgeht. Der dort definierte -Raum weist nur Dimensionen auf; jedem Teilchen eines Systems entsprach in dieser Darstellung ein Punkt, und der Mikrozustand eines Systems aus Teilchen wurde durch eine Schar von Punkten repräsentiert.
Im Fall des quantenmechanischen idealen Gases genügt die Angabe aller
Quantenzahlen zur Festlegung des Zustandes:
(3.2) |
(3.3) |
(3.4) |
(3.5) |
Eine typische Frage, die durch Anwendung statistischer Methoden auf eine
solche Gesamtheit zu beantworten ist, lautet: wie groß der Mittelwert
des Quadrats der Teilchengeschwindigkeit
über alle - a priori gleich wahrscheinlichen - Zustände
auf dieser Energiefläche?
ERGODENHYPOTHESE
Anstelle einer Gesamtheit von Systemen betrachten wir nun ein einziges
System; dieses soll sich aber nach den Gesetzen der Mechanik in
der Zeit entwickeln. In einem abgeschlossenen System bleibt die
Gesamtenergie erhalten; die Mikrozustände, die das System
im Lauf der Zeit durchläuft, liegen also durchwegs auf der
-dimensionalen Energieschale, die auch das mikrokanonische
Ensemble definiert.
Die Ergodenhypothese besagt, daß bei dieser ,,natürlichen Entwicklung`` des Systems jeder erlaubte Mikrozustand im Lauf der Zeit erreicht (bzw. beliebig nahe approximiert) wird, und zwar mit gleicher relativer Häufigkeit.
Diese Hypothese kann nicht allgemein bewiesen werden; sie gilt auch nicht in jedem Fall. Für viele relevante Systeme, wie z.B. Gase oder Flüssigkeiten unter normalen Bedingungen, ist sie aber gut erfüllt. Die Zeitspanne , die zum ausreichenden Durchstreifen der Energiefläche nötig ist, liegt dann im Bereich von Sekunden, also weit unter einer typischen experimentellen Beobachtungsdauer. Zu jenen Systemen, die ,,schlecht ergodisch`` oder nicht-ergodisch sind, gehören unterkühlte Flüssigkeiten sowie Gläser. Bei solchen Systemen bleibt der Zustandsvektor lange in einem Teilbereich der Energiefläche gefangen und findet erst nach Sekunden, Tagen oder gar Jahrhunderten den Weg zu anderen Teilen der mikrokanonischen Zustandsfläche.
Die Ergodenhypothese hat eine wichtige praktische Konsequenz: Bei der Ermittlung von Mittelwerten über die auf der Energiefläche liegenden Mikrozustände ist es gleichgültig, ob man über die Systeme des mikrokanonischen Ensembles mittelt oder den zeitlichen Mittelwert über die nacheinander auftretenden Mikrozustände eines einzigen isolierten Systems bildet. Dieses Korollar der Ergodenhypothese wird oft auf die Kurzformel
Die Ergodenhypothese erlaubt uns, im folgenden zur Unterstützung der
theoretischen Argumente auch Computersimulationen heranzuziehen.
Dabei handelt es sich bis auf weiteres um
deterministische Simulationen, also um die möglichst genaue
Berechnung der zeitlichen Entwicklung eines einzigen isolierten Systems;
man spricht in diesem Zusammenhang auch von
Molekulardynamik-Simulation.
(Eine andere Art von Simulationen, die sogenannte Monte Carlo-Rechnung,
durchstreift stattdessen den Zustandsraum in stochastischer Weise; die
verschiedenen Mikrozustände werden dabei von vornherein mit der ihnen
zukommenden relativen Häufigkeit aufgesucht.)
ENERGIESCHALE
Anstelle der strikten Bedingung werden wir im
allgemeinen die schwächere Bedingung
betrachten. Die Zustände des Systems sollen also auf
eine dünne ,,Schale`` bei
beschränkt sein.
Diese Bedingung
entspricht der realistischen Annahme, daß der Energieaustausch
zwischen einem System und seiner Umgebung zwar nicht völlig
unterdrückt, aber doch klein gehalten werden kann.
Für die Dichte im Phasenraum soll also nun gelten
(3.6) |
Eine Übersicht über die Zustandsräume und Energien
der verschiedenen Modellsysteme ist aus Tabelle 3.1
zu ersehen.
Daraus folgt aber, daß ein Makrozustand, der mehr Mikrozustände zuläßt als ein anderer, auch häufiger auftritt - und somit wahrscheinlicher ist.
Um ein konkretes Beispiel anzuführen, fragen wir nach der Wahrscheinlichkeit, mit der alle Moleküle eines idealen Gases in der linken Hälfte eines Gefässes aufzufinden sein werden, wobei sie im übrigen alle möglichen Positionen und Geschwindigkeiten annehmen mögen. Alle so definierten Mikrozustände liegen in einem Teil der gesamten ,,zugelassenen`` Phasenraum-Kugelschale ; sie bilden ein Subensemble der vollständigen mikrokanonischen Gesamtheit. Die Wahrscheinlichkeit der Situation ,,alle Teilchen in der linken Hälfte des Behälters`` ist offenbar gleich dem Größenverhältnis zwischen dem Subensemble und dem vollständigen Ensemble. Es wird daher notwendig sein, das Teilvolumen der Phasenraum-Kugelschale, das zum Subensemble gehört, mit dem Volumen der gesamten Kugelschale zu vergleichen. (Später wird sich herausstellen, daß das Verhältnis der beiden PR-Volumina gleich , also verschwindend klein ist - im Einklang mit Erfahrung und Intuition.)