Universität Wien

Franz Martin Wimmer

Geschichtsphilosophie: Akteure und Faktoren

Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie WS 2013

Übersicht gesamt:

1. Vorlesung: Begriffliches, Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von "stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema 1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema 2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema 3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema 4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema 5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema 6: Perspektivität und Objektivität

Dritte Vorlesung (29. 10. und 5. 11. 2013)

Übersicht der dritten Vorlesung:
Heteronomie | Autonomie
Beispiel: Hegel | Literatur

Nehmen wir an, eine geschichtsphilosophische Position will die Frage klären, wer oder was eigentlich Geschichte bewirkt. Sie stellt die Frage nach den Autoren oder Akteuren, den Urhebern oder den eigentlich Handelnden hinter dem, was wir als Geschichte wahrnehmen. Diese Frage wird in der Geschichtsphilosophie tatsächlich regelmäßig gestellt.

Wir können uns vorstellen, dass es auf diese Frage nicht unendlich verschiedene Antworten gibt, sondern nur einige wenige, die aber in Bezug auf die Art von Subjekt, das als Urheber oder als Bewirker hinter Ereignissen, Prozessen, Zuständen der Geschichte angenommen wird, in deutlicher Weise verschieden sind.

Zu der Frage, wer oder was eigentlich die Geschichte bewirkt, ist im Verlauf der Zeit immer wieder etwas gesagt worden von Autoren, deren Absicht es war, die Situation ihrer Gegenwart durch eine Untersuchung der Vergangenheit zu erklären.
Wie in den Beispielen vorhin angesprochen, können kategorial unterschiedliche Akteure oder Faktoren als hinter den tatsächlichen Ereignissen und Verläufen von Geschichte wirksam angenommen werden. Man kann darunter zwei Gruppen von Handelnden oder Bewirkenden unterscheiden und entsprechend von heteronomen oder von autonomen Modellen sprechen, je nachdem, ob angenommen wird, dass Menschen selbst Geschichte bewirken (Autonomie) oder diese letztlich von außermenschlichen Kräften bewirkt wird (Heteronomie).

Heteronome Geschichtstheorien

Dass Götter hinter den Handlungen von Menschen stehen, kommt als Idee schon in der homerischen Ilias vor. In diesem Fall finden Kämpfe auf zwei Ebenen statt - zwischen Göttern auf dem Olymp und zwischen Griechen und Trojanern vor Troja, hinter denen aber die einen oder anderen Göttinnen oder Götter stehen. Auch in anderen Kulturen finden sich vergleichbare Annahmen, zuweilen wird (wie im Manichäismus) alles Geschehen als Kampf zwischen zwei Prinzipien oder Göttern gesehen.
Theoretisch wäre anzunehmen, dass eine solche Theorie besonders unter der Annahme eines einzigen, lenkenden und allmächtigen Gottes entwickelt wird, was die Zahl der in Frage kommenden Traditionen für solche Theorien einschränkt, aber immerhin auch für den Islam (und eventuell das Judentum) zuträfe. Aber es scheint, dass dies nur eine christliche Theorietradition ist, was mit der im Christentum angenommenen "Heilsgeschichte" zusammenhängt, wonach die Menschheit nach einem für alle Menschen wirksamen "Sündenfall" im "Paradies" später (wiederum für alle kollektiv wirksam) "erlöst" wurde und nun auf ein "Endgericht" zugehe. Damit ist nicht nur eine lineare Zeitauffassung vorherrschend, sondern wesentliche Stationen (Anfang und Ende) und entscheidende Ereignisse (Fall, Erlösung, Gericht) können als bekannt vorausgesetzt werden.
Im Titel einiger Geschichtswerke des christlichen Mittelalters kommt die Idee, dass hinter dem Handeln von Menschen eigentlich eine übermenschliche Kraft anzunehmen sei, besonders deutlich zum Ausdruck. Diese Titel lauten ähnlich, sie beginnen mit den Worten "Gesta Dei per ..." (oder auch "Dei Gesta per ..."), also "Gottes Handlungen durch" und dann kommt der Name eines Volkes; das bekannteste dieser Werke, die "Gesta Dei per Francos" des Benediktiners Guibert von Nogent aus dem 11. Jahrhundert, schildet die Ereignisse und den Verlauf des "Ersten Kreuzzugs". Die dahinter erkennbare Idee, dass historische Ereignisse nicht eigentlich die Handlungen der faktisch Handelnden, sondern eines durch die Menschen handelnden Gottes seien, findet sich erstmals im 4. Jahrhundert ausgeführt bei Aurelius Augustinus, dessen Werk "De Civitate Dei" die Geschichte der Menschheit als den Kampf zwischen zwei Prinzipien nach göttlichem Plan darstellt. Vgl. dazu die Darstellung aus der VO 2004
Aus dem Hochmittelalter ist insbesondere das Werk des Abtes und Ordensgründers Joachim von Fiore (ca 1130-1202) bedeutsam, in dem eine Lehre von "Drei Zeitaltern" ("drei Reichen") in Entsprechung zur christlichen Lehre der Trinität entwickelt wird. Einflüsse seiner Ideen finden sich in der Zeit der Aufklärung (G.E. Lessing) und der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Hegel, Marx).
Im 20. Jahrhundert sind geschichtstheologische Ansätze neu entwickelt worden, z.B. von Karl Barth, Urs von Balthasar und Karl Löwith.

Die Erklärung wesentlicher historischer Entwicklungen durch klimatische Bedingungen geht in europäischer Tradition auf antike Autoren zurück, insbesondere ist hier an die Medizinerschule von Kos zu erinnern, wovon Hippokrates einschlägige Texte hinterlassen hat. Er untersucht, welche körperlichen (besonders gesundheitlichen) und geistigen Eigenschaften von Menschen auf das vorherrschende Klima ihres Lebensraums zurückzuführen seien.


Ibn Khaldun (um 1400 AZ) nahm sechs Faktoren an, die wir heute — mit einer Ausnahme — alle als Naturgesetze auffassen würden, wobei die Umweltbedingungen, unter denen menschliche Gesellschaften leben, für ihn die entscheidende Rolle für die Erklärung von deren Verhaltensformen bildeten. Diese natürliche Umwelt — das "Klima" — wurde zeitweise, insbesondere im 18. Jahrhundert in Europa, aber auch noch später, manchmal für so gut wie alle Unterschiede verantwortlich gemacht, die zu Recht oder zu Unrecht bei Menschen unterschiedlicher Gesellschaften festgestellt wurden. 

Nennen wir eine "klimatheoretische" Antwort auf unsere Frage, wer oder was eigentlich die Geschichte bewirkt, eine solche, in der zumindest für einen entscheidenden Teil der menschlichen Vergangenheit die jeweiligen Umweltbedingungen einer menschlichen Gruppe als entscheidend angesehen werden, so begegnen wir solchen Theorien bis in unsere Zeit immer wieder. Ich nenne einige Werke, die das belegen:
Ibn Khaldun: Muqaddima. ([arab, ca 1400] dt. auszugsweise Anfang 19. Jh.) Vgl. VO 2004 über arabische Geschichtsphilosophie - Ibn Khaldun
Charles de Montesquieu: Geist der Gesetze ([frz. 1748] dt. 1753) Vgl. Skriptum Geschichtsphilosophie I
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91) vgl. dass. Skriptum
Henry Thomas Buckle: Geschichte der Zivilisation in England ([engl. 1857-61] dt. 1870) vgl. Skriptum Geschichtsphilosophie II, Anhang
Friedrich von Hellwald: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart (1875)
Watsuji, Tetsuro: Fudo. Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur ([jap. 1935] dt. 1992)
Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. ([engl. 1997] dt. 1998)

sind ebenfalls als Erklärungen für Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften entwickelt worden, also als Theorien über Geschichte. Wie Rassentheorien überhaupt, sind sie Produkte der europäischen Neuzeit seit dem späten 18. Jahrhundert, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt. Um so Geschichte zu erklären, muss "wissenschaftlich" geklärt werden, welche und wieviele "Rassen" die Menschheit in der Gegenwart aufweist oder in der Vergangenheit aufgewiesen hat; ferner, ob und welche intellektuellen, psychischen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen diesen "Rassen" bestehen, die kollektiv bestimmend sind und konstant bleiben; schließlich, welche Errungenschaften, Entwicklungen oder Katastrophen in der bekannten Menschheitsgeschichte von welchen "Rassen" verursacht worden sind. Es gibt zu jeder dieser drei Fragestellungen umfangreiche Literatur, jedenfalls in europäischen Sprachen. Dennoch ist auffallend, dass etwas wie eine Universalgeschichte der Menschheit in rassentheoretischer Sicht zwar häufig ansatzweise, für bestimmte Regionen, Zeiten oder auch Lebensbereiche, aber nicht in systematischer Durchführung unternommen worden ist. Am ehesten kommt dem wohl nahe:
Artur Graf Gobineau: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Hg.: Ludwig Schemann. Bd. I-IV. Stuttgart: Fromanns, 1898. (Erstdruck frz.: Essay sur l'inégalité des races humaines, 1853-55)

Dennoch sind Theorien über "Rassen" kein nebensächliches Geistesprodukt in kultur- und geschichtsphilosophischen Zusammenhängen. Vgl. dazu meinen Aufsatz: "Rassismus und Kulturphilosophie" (1989)

Autonome Geschichtstheorien

Unter der Annahme, dass Menschen selbst, also autonom, ihre Geschichte machen, sind wiederum mehrere Möglichkeiten zu denken, je nachdem, ob die entscheidende Rolle dabei Individuen oder Kollektiven zugeschrieben wird. Zudem kommt hier noch die Frage nach einem möglichen Plan hinter der Geschichte herein, dem gemäß diese Individuen oder Kollektive handeln und den sie vielleicht auch kennen oder sogar selbst entwerfen. Letztere Frage wird bei heteronomen Geschichtstheorien nicht vorkommen - sie schiene unter rassen- und klimatheoretischen Annahmen sinnlos und wäre in einer Geschichtstheologie wohl vergeblich wegen des kategorialen Abstands, der zwischen dem in der Geschichte Handelnden (Gott) und dem Fragenden (Mensch) angenommen würde. Bei autonomen Geschichtsbildern ist die Frage nach Plänen oder einem Plan möglich und nicht sinnlos.

- Einzelne nach Einzelplänen
- Gruppen nach Einzelplänen
- Verschwörungstheorien, Raumschiff Erde
- Historischer Materialismus
Klassen, Gesellschaften, Staaten
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Beispiel:

Georg Wilhelm Friedrich HEGEL (1770-1831)
Geschichtsphilosophische Hauptwerke:
    Rechtsphilosophie, insbes. §§ 341-360
    Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte [Anm. 1]
    Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie

Hegel formuliert als Ausgangsfrage, die sich bei unserer Beschäftigung mit Geschichte zunächst stellt, das Dilemma, dass wir einerseits gewohnt sind, in einer chaotischen Welt zu leben, in der Denken, Gedachtes und Begriffe auseinanderfallen, zueinander "abstrakt" sich verhalten und dass wir doch in der Reflexion auf der Einheit, der Identität des Bewußtseins und Selbstbewußtseins bestehen. Die verschiedenen Stufen, die das individuelle Bewußtsein auf dem Weg von der abstrakt-sinnlichen Existenz bis zum konkreten Selbstbewußtsein durchläuft, will er in der Geschichte der Menschheit ebenso wiederfinden wie in der Geschichte des Individuums oder des Denkens. Diese Stufen bilden auch den Gang des Geistes insgesamt und damit die Geschichte der Vernunft. Wissenschaft ist insofern begriffene Geschichte, als im höchsten Wissen keine besonderen, einzelnen Gesichtspunkte als solche mehr vorkommen.
Das Resultat dieses Ganges ist also, dass der Geist, indem er sich objektiviert und dieses sein Sein denkt, einerseits die Bestimmtheit seines Seins zerstört, anderseits das Allgemeine desselben erfaßt, und dadurch seinem Prinzip eine neue Bestimmung gibt. Hiemit hat sich die substantielle Bestimmtheit dieses Volksgeistes geändert, d.i. sein Prinzip ist in ein anderes, und zwar höheres Prinzip aufgegangen. (Meiner, 72)
Geschichte sieht Hegel als Prozeß, in dem die Vernunft - als solche - zu sich selbst, zum vollen Bewußtsein ihrer Äußerungen kommt - sie muss sich äußern, nur so stößt sie auf ihre Gegenstände, die sie sich erst aneignen muß. Die Gesamtrichtung dieser Äußerungen der Vernunft in der Geschichte ist die Richtung auf eine verwirklichte Freiheit.

Die Mittel des geschichtlichen Prozesses.
Hegel fragt nach den Mitteln, mit deren Hilfe der Geschichtsprozeß sich vollzieht. Das sind zunächst Individuen, die ihre jeweils eigenen Zwecke verfolgen. Dabei verändern sie den jeweils bestehenden Zustand, aber sie schaffen ihn nicht einfach ab, sondern tun etwas, was Hegel mit dem Wort "aufheben" bezeichnet: er beobachtet, dass bei der Veränderung von Zuständen durch Menschen die früheren Zustände immer noch irgendwie erhalten bleiben - aufheben heißt im Deutschen (auch) aufbewahren. Es bleibt aber natürlich nicht einfach nur der alte Zustand erhalten, sondern etwas wird wirklich verändert, abgeschafft (wie beispielsweise eine Vorschrift “aufgehoben” wird). Und schließlich heißt “auf-heben” auch, dass etwas auf eine höhere Stufe befördert wird. Alle diese drei Elemente meint Hegel, wenn er das Wort "Aufhebung" oder "aufheben" verwendet und er behauptet, dass sie immer ineinander gingen. Die einzelnen Menschen, wenn sie nach ihren individuellen Bedürfnissen und Träumen etwas ändern, "heben" also den jeweils bestehenden Zustand dadurch in dreifachem Sinn “auf”. Gibt es in der Gesamtheit dieser Einzelhandlungen etwas, das als Muster oder Gesetz den unendlich vielen Bedürfnissen und Plänen der einzelnen Menschen zugrundeliegt, das darin vielleicht zum Ausdruck kommt oder sich durchsetzt, von dem aber alle die wirklichen Menschen in der Geschichte gar keine Vorstellung hatten? Nur wenn ein derartiger Gesamtplan in der Geschichte zu erkennen ist, kann es eine Wissenschaft von der Geschichte geben. Es geht “vernünftig” zu.

Der Staat
Vernünftig verhalten sich die handelnden Menschen, wenn ihr Wollen universalisierbar ist, wenn sie einen Staat bilden. Das Material der Geschichte und der eigentliche Gegenstand des Denkens über Geschichte ist für Hegel also der "Staat". In der Weltgeschichte kann nach ihm nur von Völkern die Rede sein, die einen "Staat" bilden.
Das ist nicht eine Geschichte des ganzen Globus, denn es gibt Völker ohne Geschichte, in Afrika und Amerika insbesondere (s.unten, Anhang) und:
Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.
Es ist auch nicht eine Geschichte aller Zeiten, in denen Menschen gelebt haben, denn
Die Zeiträume, wir mögen sie uns von Jahrhunderten oder Jahrtausenden vorstellen, welche den Völkern vor der Geschichtsschreibung verflossen sind und mit Revolutionen, mit Wanderungen, den wildesten Veränderungen mögen angefüllt gewesen sein, sind darum ohne objektive Geschichte, weil sie keine subjektive, keine Geschichtserzählung aufweisen. (Meiner, 146)
Es ist die Geschichte von Völkern, die einen Staat bilden.

Ein "Staat" nun ist
-ein Allgemeines (wie es Allgemeines auch in den Gesetzen der Physik gibt), in dem
-das Individuell-Besondere (die "besonderen Zwecke") aufgehoben sind im - allgemeinen - Interesse.

... der subjektive Wille ist betrachtet worden, wie er einen Zweck hat, welcher die Wahrheit einer Wirklichkeit ist, und zwar insofern er eine große welthistorische Leidenschaft ist. Als subjektiver Wille in beschränkten Leidenschaften ist er abhängig, und seine besonderen Zwecke findet er nur innerhalb dieser Abhängigkeit zu befriedigen. Aber der subjektive Wille hat auch ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in der er sich im wesentlichen bewegt und das Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseins hat. Dieses Wesentliche ist selbst die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens: es ist das sittliche Ganze - der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist...
(G W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Hg. Th. Litt, Stuttgart: Reclam 1961, S. 85)
Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt... (ebd.,86f.)
Indem der Staat, das Vaterland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Notwendig ist das Vernünftige als das Substantielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unsres eignen Wesens folgen... (ebd.,87)

Die besonderen Staaten und ihre Aufhebung
Die "besonderen Staaten" unterscheiden sich nach dem in ihnen herrschenden Prinzip.
So gibt es den Staat, in dem es Herren und Leibeigene gibt. Deren Verhältnisse zu- und untereinander sind durch Eigentumsgesetze geregelt, und beide haben Eigentum. Was es aber heißt, Eigentum, Besitz zu haben, darf in diesem Staat nicht auf einen allgemeinen Begriff gebracht werden, das würde zum Widerspruch mit der Realität führen und der Staat bräche auseinander. Die Herrschaft dieses besonderen Prinzips erzeugt eine erste Stufe von Notwendigkeit, in der alle Institutionen und Denkweisen in einem Staat miteinander verknüpft sind.
Wenn nun das geistige Prinzip, auf dem ein solcher Staat beruht, sich geäußert hat, wenn es Kultur, Religion, Wissenschaft usf. geworden ist, so ist seine innere Notwendigkeit erfüllt, es gibt Neues, Aufhebung nur noch in der Überwindung dieses besonderen Staats. Das ist der Fall gewesen beim Feudalstaat ebenso wie bei demjenigen Athens, jedesmal tötet der Geist seine besondere Gestalt, indem er sich verwirklicht.

Der besondere Volksgeist ist der Vergänglichkeit unterworfen, geht unter, verliert seine Bedeutung für die Weltgeschichte, hört auf, der Träger des höchsten Begriffs zu sein, den der Geist von sich gefaßt hat. Denn jedesmal das Volk ist an der Zeit und das regierende, das den höchsten Begriff des Geistes gefaßt hat. Es kann sein, dass Völker von nicht so hohen Begriffen bleiben; aber sie sind in der Weltgeschichte auf die Seite gesetzt. Weil aber das Volk ein Allgemeines, Gattung ist, so tritt eine weitere Bestimmung ein. Der Volksgeist ist als Gattung für sich existierend; hierin liegt die Möglichkeit, dass in diesem Existierenden das Allgemeine, das in ihm ist, als das Entgegengesetzte erscheint. Das Negative seiner kommt in ihm zur Erscheinung; das Denken erhebt sich über das unmittelbare Wirken. Und so erscheint sein natürlicher Tod auch als Tötung seiner selbst. Wir beobachten so einesteils den Untergang, den sich der Volksgeist selbst bereitet. ... Das Weitere aber nach dem Momente der Vergänglichkeit ist, dass allerdings nachher auf den Tod Leben folgt.(Meiner, Bd. I, 69f.)
Die bestimmte Gestalt des Geistes geht nicht bloß in der Zeit vorüber, sondern wird in der selbstwirkenden, selbstbewußten Tätigkeit des Selbstbewußtseins aufgehoben. Weil dies Aufheben Tätigkeit des Gedankens ist, ist es zugleich Erhalten und Verklären. (Meiner, Bd. I, 70 f.)

Mit dem Sachverhalt, dass das jeweils alte, zur Gewohnheit gewordene Prinzip sich selbst umbringt - als Geist zu existieren heißt tätigsein - stellt Hegel somit eine zweite Form von Notwendigkeit vor: die des zwangsläufigen Übergangs: jede Gestalt vernichtet sich, hebt sich auf.

Der notwendige Gesamtverlauf
Was bisher gesagt wurde - die innere Stimmigkeit oder Notwendigkeit menschlicher "Staaten", ihr zwangsläufiges Untergehen und Aufgehen in einem anderen "Staat" - ließe noch den Gedanken zu, dass es sich eben um ein Drama verschiedenster Prinzipien, Staatsformen, Lebensäußerungen handelt, die nebeneinander, hintereinander existieren können, ohne dass hinter dem Ganzen noch ein Gesetz oder ein Sinn stünde.
Hegel sieht hier jedoch eine dritte, die allgemeinste Stufe der Notwendigkeit gegeben. Da es sich in jedem Fall in der Geschichte um die Verwirklichung von Zwecken eines "Geistes" handelt, sind die Bedeutungen dieses Wortes kurz zu verdeutlichen.
In welcher Form werde ich mir dessen bewußt, dass es etwas Geistiges gibt? Zunächst erlebe ich mein eigenes Wahrnehmen der Welt, meine eigenen Urteile über Dinge, meine eigene Geistestätigkeit, als individuellen oder, wie Hegel sagt, "subjektiven" Geist.Sodann aber bemerke ich, dass dieser mein subjektiver Geist in allen seinen Tätigkeitsformen auf Voraussetzungen beruht, die er nicht selbst schafft. Wenn ich das hier schreibe, so verwende ich nicht nur ein Gerät, das ich nicht erfunden habe und auch nicht machen könnte, ich verwende ein Zeichensystem von geringem Umfang, das Alphabet, und eine Sprache, die mir mit vielen anderen Menschen gemeinsam zur Verfügung steht. Ich befinde mich also in einem "objektiven" geistigen Zustand; was sich da äußert, nennt Hegel auch den "Volksgeist" oder den "objektiven Geist". Diese Volksgeister sind verschieden in den verschiedenen Zeiten und Regionen der Menschheitsgeschichte, und bis zu diesem Punkt sind wir vorhin gelangt.

Es gehen die Veränderungen des objektiven Geistes aber nicht ins Endlose fort:
Der Tod eines Volksgeistes ist Übergang ins Leben, und zwar nicht so, wie in der Natur, wo der Tod des einen ein anderes Gleiches ins Dasein ruft. Sondern der Weltgeist schreitet aus niedern Bestimmungen zu höheren Prinzipien, Begriffen seiner selbst, zu entwickelteren Darstellungen seiner Idee vor. Es wäre hier also um den Endzweck zu tun, den die Menschheit hat, den der Geist in der Welt sich vorsetzt zu erreichen, den er unendlich, mit absoluter Gewalt getrieben ist, sich zu verwirklichen. (Meiner, Bd. I, S. 73

Vielmehr gibt es eine dritte Stufe der Notwendigkeit in den geschichtlichen Veränderungen: wenn ein bestimmter "Volksgeist" abstirbt, dann geht, in einigen exemplarischen Fällen, die Weltgeschichte oder der "Weltgeist" über in einen ganz neuen "Staat", in dem die alten Widersprüche aufgehoben sind - und dieser Prozeß hat ein Ziel, einen Endzweck. Um diesen Endzweck zu erkennen, was Hegel ja beansprucht, muß der Prozeß im wesentlichen bereits vollständig abgelaufen sein. Unterwegs zu diesem Ziel wußte niemand, kein Mensch und kein Gott, worauf alles hinauslaufen würde; aber im wesentlichen handelten die entscheidenden Individuen richtig. Wenn in der Geschichte insgesamt der "Weltgeist" sich verwirklicht, so geschieht doch alles, was geschieht, durch Individuen. Sie sind die "Mittel der Verwirklichung" des Zwecks der Geschichte.

Die (welthistorischen) Individuen
Individuen aber verfolgen ihre individuellen Ziele. Wie kommt es, dass sie am Ende eine gesetzmäßige, sinnvolle Weltgeschichte herausbringen sollen?
Hegel antwortet auf diese Frage mit seiner These von der "List der Vernunft", die bewirke, dass die "welthistorischen Individuen" und die "welthistorischen Völker" richtig im Sinne des Weltgeistes handeln. Eines dieser "welthistorischen Individuen" ist Julius Cäsar: unter besten Voraussetzungen, genial, ehrgeizig, machtbewußt tritt er an, seine Vorteile auszunutzen - und verändert den römischen Staat von Grund auf. Nachdem er das erreicht hat, ist er für die Zwecke der Weltgeschichte nutzlos geworden, wird beseitigt. Die "welthistorischen Individuen" erreichen nicht ihre eigenen individuellen Ziele - zumindest ist es nicht wichtig, ob sie das tun, wie Hegel ja überhaupt die Weltgeschichte "nicht ein Ort des Glücks" nennt -, sie befördern fremde Ziele, die aber doch auch ihre eigenen sind.
Das Besondere hat sein eigenes Interesse in der Weltgeschichte; es ist etwas Endliches und muß als solches untergehen. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Aber eben im Kampf, im Untergange des Besonderen resultiert das Allgemeine. Diese wird nicht gestört. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund und schickt das Besondere der Leidenschaft in den Kampf, sich abzureiben. Man kann es die List der Vernunft nennen, dass sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. (Meiner, Bd. I, S. 105)
Andere Beispiele für solche weltgeschichtliche Individuen sind (nach Hegel) Sokrates und Napoleon. (vlg. Meiner, 78)
Sie alle sind "Geschäftsführer des Weltgeistes", der sie in wesentlichen Belangen überlistet und dadurch sich selbst verwirklicht. Hegel verwahrt sich in diesem Zusammenhang dagegen, er verstoße mit seiner Geschichtstheorie gegen das ethische Prinzip, das Kant damit formuliert hatte, ein Mensch könne niemals als bloßes Mittel zu einem Zweck gebraucht werden.
Die Rechtfertigung Hegels in diesem Punkt ist von Interesse, weil sie in politischen - und auch kolonialpolitischen - Debatten in dieser oder ähnlicher Form immer wieder aufgetaucht ist. Er habe zwar davon gesprochen, dass Menschen "Mittel" seien, aber sie seien Mittel des "Geistes" und nicht etwa anderer Menschen. Die tätige Selbstverwirklichung des Geistes ist jedoch der höchste Wert schlechthin. Daher und insofern ist er damit einverstanden, "Individuen unter der Kategorie der Mittel zu betrachten."
... in Gestalt des Naturwesen, des Naturwillens auftretend, ist das, was die subjektive Seite genannt worden, das Bedürfnis, der Trieb, die Leidenschaft, das partikuläre Interesse, wie die Meinung und subjektive Vorstellung sogleich für sich selbst vorhanden. Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen ... Daß aber jene Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, zugleich die Mittel und die Werkzeuge eines Höhern, Weitern sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen, dies ist es, was zur Frage gemacht werden könnte, auch gemacht worden, und was ebenso vielfältig geleugnet worden, als Träumerei, als Philosophie verschrieen und verachtet worden ist. Darüber aber habe ich gleich von Anfang erklärt und unsre Voraussetzung oder Glaube ... ausgesprochen, dass die Vernunft die Welt regiert und so auch die Weltgeschichte regiert hat und regiert. (Meiner, Bd. I, S. 87)

Stadien der Weltgeschichte
In welchen Stadien verläuft die "Weltgeschichte", entwickelt sich der "Weltgeist"? Zu dieser Frage sind zwei Bemerkungen notwendig:
Erstens will Hegel zunächst die physisch-geographischen Voraussetzungen für geschichtliche Entwicklungen überhaupt klären und unterscheidet drei geographische Grundtypen:
a) das unbildsame Hochland ohne Staat (wie seiner Meinung nach Innerafrika gestaltet ist, wo es nicht zur Entwicklung eines "Staats" kommen kann);
b) Talebenen, in denen sich die ersten Staaten der Ackerbauern gebildet haben: in China, Indien, Babylon, Ägypten
c) Küsten: sie treiben hinaus, befördern Kommunikation. Ein ideales Forum für den Weltgeist geben die Küsten und gegliederten Hinterländer um das Mittelmeer ab.

Verwirklichung der Freiheit
Die zweite Bemerkung bezieht sich darauf, dass es für Hegel exemplarische Staatsformen gibt, die dann auch die wesentlichen Entwicklungsstadien der Menschheitsgeschichte kennzeichnen:
a) Die Despotie ist patriarchalisch, ein Individuum darin ist frei;
b) in der Demokratie (der Antike) sind einige, aber nicht alle frei;
c) ebenso in der Aristokratie mit dem Unterschied, dass sie sich einem Gesetz unterwerfen, worüber sie nicht bestimmen; und
d) die Monarchie, in der alle Staatsbürger frei am allgemeinen Willen mitwirken. Das ist die höchste, zuletzt erreichte und nicht mehr überbietbare Staatsform.
Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. Für die Weltgeschichte ist ein Osten kat exochen vorhanden, da der Osten für sich etwas ganz Relatives ist; denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum, sondern sie hat vielmehr einen bestimmten Osten, und das ist Asien. Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt aber hier die innere Sonne des Selbstbewußtseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet. Die Weltgeschichte ist die Zucht von der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und zur subjektiven Freiheit.Der Orient wußte und weiß nur, dass einer frei ist, die griechische und römische Welt, dass einige frei seien, die germanische Welt weiß, dass alle frei sind. Die erste Form, die wir daher in der Weltgeschichte sehen, ist der Despotismus, die zweite ist die Demokratie und Aristokratie, und die dritte die Monarchie. (G W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Hg. Th. Litt, Stuttgart: Reclam 1961, S. 168-169)

Die vier Grundtypen von Staatsformen charakterisieren zugleich die vier Hauptstufen des Geistes in der Geschichte:

a) der "orientalische" Staat repräsentiert den Staat als "harten Zweck", der dem Individuum unvermittelt gegenübersteht. Er ist jedoch bereits "Staat", es gibt darin bereits eine institutionalisierte Form des Selbstbewußtseins, den Despoten. Es ist im orientalischen Staat möglich, was in den afrikanischen Gesellschaften nicht möglich ist, dass das Prinzip des Staates bewußt und damit aufgehoben wird.
Dieser Welt liegt das unmittelbare Bewußtsein, die substantielle Geistigkeit zugrunde, zu welcher sich der subjektive Wille zunächst als Glaube, Zutrauen, Gehorsam verhält. (ebd.,S.170)
Hegel bespricht hier insbesondere China, Indien, Persien.

b) Die zweite Stufe der Staatsformen stellt die griechische Demokratie dar, in der das Selbstbewußtsein insofern wesentlich weiterentwickelt ist, als hier viele, jedoch nicht alle frei und selbstbestimmt sind. Aber dieses Prinzip der Selbstbestimmung darf nicht als allgemein gedacht werden, ohne den Staat aufzulösen; dies zeigt der Prozeß gegen Sokrates, wie Hegel ihn interpretiert. Allerdings zeigt sich hierin auch, dass im hegelschen Geschichtssystem keine überhistorischen Prinzipien gelten können: der athenische Gerichtshof verurteilt den Sokrates zu Recht zum Tode, aus dem Recht der Selbsterhaltung. Sokrates wiederum hat recht gegenüber dem athenischen Staat, sofern er das kommende Prinzip der allgemeinmenschlichen Freiheit repräsentiert.
Dem Jünglingsalter ist dann die griechische Welt zu vergleichen, denn hier sind es Individualitäten, die sich bilden. ... Das Sittliche ist wie in Asien Prinzip, aber es ist die Sittlichkeit, welche der Individualität eingeprägt ist und somit das freie Wollen der Individuen bedeutet. (ebd.,S.172)

c) Der römische Staat stellt die dritte Stufe dar: auch hier sind, wie im griechischen, viele frei, aber nicht alle; doch stehen die Freien in diesem Staat unter dem Gesetz.
... die saure Arbeit des Mannesalters der Geschichte. Denn das Mannesalter bewegt sich weder in der Willkür des Herrn, noch in der eignen schönen Willkür, sondern dient dem allgemeinen Zweck, worin das Individuum untergeht und seinen eignen Zweck nur in dem allgemeinen erreicht. ... Das Römische Reich ist nicht mehr das Reich der Individuen, wie es die Stadt Athen war. Hier ist keine Froheit und Freudigkeit mehr, sondern harte und saure Arbeit. (ebd.,S.173)

d) Erst der christlich-germanische Staat bringt das Bewußtsein von der Selbstbestimmung als Mensch im Lauf der Zeit - endgültig erst mit der französischen Revolution von 1789 - zur Geltung. Dieses Prinzip äußert sich zuerst rein geistig (der Mensch hat in seinem Verhältnis zu Gott am Absoluten grundsätzlich teil). Der Mensch als solcher, nicht aufgrund einer besonderen Qualifikation - als Stammesangehöriger, Staatsbürger etc. - ist frei, mit allen gleichberechtigt, ist Abbild Gottes. Verwirklicht als Staat wird dieses Prinzip aber erst, wenn die entsprechenden Institutionen geschaffen werden, was allerdings zwangsläufig (in Europa) der Fall war. Es bleibt, nachdem der Weltgeist einmal diese endgültige Stufe erreicht und seine Entwicklung grundsätzlich abgeschlossen hat, die Aufgabe, das auch durchgehend zu verwirklichen - und zuletzt, den Prozeß zu erkennen.
... tritt dann das Germanische Reich, das vierte Moment der Weltgeschichte ein; dieses entspräche nun ... dem Greisenalter. Das natürliche Greisenalter ist Schwäche, das Greisenalter des Geistes aber ist seine vollkommene Reife, in welcher er zurückgeht zur Einheit, aber als Geist. (ebd.,S.174f.)

Die Erkenntnis des Wesentlichen am Geschichtsprozeß ist erst am Ende - mit Hegel - möglich, sie führt nicht nochmals zu einer neuen Stufe, ist bloß Nachvollzug der Wirklichkeit im Denken. Damit ist die Entwicklung der Menschheit in allen ihren Äußerungsformen - in Staat, Religion, Kunst - grundsätzlich abgeschlossen und das Ende der (unbewußten oder nur teilweise bewußten) Vorgeschichte erreicht. Auf diesem Stadium erst ist es möglich, die endgültige Geschichte der Staaten, wie der Philosophie oder der Religion zu schreiben und allen vorangegangenen Formen ihren Rang und Ort zuzuweisen. Dann aber zeigen sich die vergangenen Gestalten in ihrer Teilwahrheit, in ihrer Einseitigkeit und doch auch so, dass sie immer schon den Zweck des Ganzen befördert haben, ohne das zu wissen.


Anhang: Völker oder Regionen ohne Geschichte

Keineswegs alle Völker der Erde sind in Hegels Verständnis am Prozess der Weltgeschichte beteiligt. Am deutlichsten fällt sein ausschließendes Urteil in den Fällen von Afrika und Amerika aus.

Der Ausschluß Afrikas
In seinen Aussagen über die "Neger" und über "Afrika" ist Hegel noch deutlicher, als Kant es war. [Anm. 3] Er kann sich auf eine Reihe von Berichten über Afrika stützen, wenn er ausführt:
Der Neger stellt... den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will; es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.
(...) Gott donnert und wird nicht erkannt: für den Geist des Menschen muß Gott mehr als ein Donnerer sein, bei den Negern aber ist dies nicht der Fall.
(...) Die Neger werden von den Europäern in die Sklaverei geführt und nach Amerika hin verkauft.
Trotzdem ist ihr Los im eignen Lande fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sklaverei vorhanden ist; denn es ist die Grundlage der Sklaverei überhaupt, dass der Mensch das Bewußtsein seiner Freiheit noch nicht hat und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt. Bei den Negern sind aber die sittlichen Empfindungen vollkommen schwach, oder besser gesagt, gar nicht vorhanden.
Diese grundlegende Unentwickeltheit des "Negers" sei aber nicht bloß auf einen Kulturabstand zurückzuführen, sondern:
Dieser Zustand ist keiner Enwicklung und Bildung fahig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen. Der einzige wesentliche Zusammenhang, den die Neger mit den Europäern gehabt haben und noch haben, ist der der Sklaverei. (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Hg. Th. Litt, S. 162)

So geht Hegel weiter auf die Geschichte Afrikas nicht ein, sie gehört für ihn nicht zur Weltgeschichte. Er schildert die Geographie Afrikas in großen Zügen und stellt dann fest:
Wir verlassen hiemit Afrika, um späterhin seiner keine Erwähnung mehr zu tun. Denn es ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen, und was etwa in ihm, das heißt, in seinem Norden geschehen ist, gehört der asiatischen und europäischen Welt zu (ebd., S. 163) [Anm. 4]
Es bestand zu Hegels Zeit und lange danach keine Gefahr, dass dem ein "Neger" widersprechen könnte. Daraus ist eine wirklich bemerkenswerte Fähigkeit der meisten europäischen Hegel-Leser geworden, diese Auslassungen vornehm zu übergehen. Afrikanische Philosophen wie Dieng und Towa nennen Hegel dafür den größten Ideologen des Kolonialimperialismus weil es ihm so trefflich gelungen sei, die Objekte der Kolonialpolitik als jeder höheren Wissenschaft unfähig darzustellen. Der hohe Grad, in dem das gegenwärtige philosophische Leben in den ehemaligen Kolonien Afrikas (und Asiens) bis heute auch den Fachgelehrten in den Industrieländern verborgen geblieben ist, spricht dafür, dass Hegels Sichtweise äußerst erfolgreich war. [Anm. 5]

Zu Aussagen Hegels über Amerika, insbesondere Südamerika:
vgl. Das Lateinamerikabild deutscher Philosophen



Anm. 1: "Die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte sind die einzige Arbeit Hegels, die es zu einer Art von Popularität gebracht hat." (G. Lasson, Vorwort zur ersten Auflage der "Philosophie der Weltgeschichte", 1917, zit. in Vorwort zur 2.Auflage 1920, abgedr. in 3. Aufl. 1930, unveränd. Nachdruck 1944, sämtliche: Leipzig, Meiner)
Anm. 2: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner, Bd. I, S. 72; im folgenden zitiert als Meiner, Bd. I)
Anm. 3: Tatsächlich hat die deutschsprachige Literatur über Afrika in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stark zugenommen. Wenn wir die Beschreibungen von Nordafrika und den Inseln, sowie die geographischen Karten und verschiedenen Auflagen desselben Werkes ausklammern, so verzeichnet Johann Samuel Ersch, Literatur der Geschichte und deren Hülfswissenschaften seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit (Leipzig: Brockhaus, 1827, Sp.158f., 999-1002, 1039-1055) für den Zeitraum von 1750 bis 1790 (in etwa Kants Lesezeit) 26 Werke im deutschen Buchhandel. Bis 1827 hingegen kamen noch 55 Werke dazu, die teilweise sehr spezifisch waren. #G W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Hg. Th. Litt, Stuttgart: Reclam 1961, S. 155-58
Anm. 4: Kurt Breysig, der Hegels Geschichtsdeutung ansonsten sehr kritisch gegenübersteht, unterscheidet in seinem dreibändigen Werk Vom geschichtlichen Werden die "Urzeitvölker, Altertumsvölker, Völker der Mittelalterstrecke, alt- und neueuropäische Völker" und weist die "unreifste Form des Altertumszustandes und also den hintersten Platz in der Heersäule der Altertumsvölker... den Negern der Bantu- und der Sudangruppe zu", während es auch schwarzafrikanische Völker gebe, die "bis an die Altertumsstaaten von höchstem Geschichtsrang, insbesondere an das wie sie afrikanische Ägypten heranreichen". (Kurt Breysig: Vom geschichtlichen Werden. Bd.3: Der Weg der Menschheit. Stuttgart: Cotta, 1928, S.260)
Anm. 5: Amady Ali Dieng, Hegel, Marx, Engels et les Problèmes de l'Afrique Noire, Sankoré o.J., S.47: "Hégel affirme qu'il n'y a ni liberté, ni pensée chez les peuples non européens. La philosophie, la pure pensée et la liberté, ne se retrouve qu'en Occident, seul continent historique. C'est au nom de ce principe que Hégel justifie la domination de I'Europe sur les autres parties du monde. En ce sens, il est le plus grand idéologue de I'impérialisme colonial." Und Dieng führt hier auch Marcien Towa an, der über Hegels "véritable idéologie de 'impérialisme occidental" schreibt: "Le refus de la philosophie aux peuples coloniaux en demeure l'expression la plus élaborée et la plus constante." (Marcien Towa, Essai sur le problèmatique philosphique dans l'Afrique actuelle, Yaoundé: Clé, 1971, S.22)


Literaturhinweise:

PRÜFUNGSRELEVANT zu Hegel:
Hegels "Einleitung" zu seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (in einer der Ausgaben, z.B.:)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992. S. 11-105.

Sekundär:
Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München: C.H. Beck, 2005.
Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine Universalgeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. (Erstdruck: 2009 engl. Pittsburgh UP )
Haskell Fain: Between Philosophy and History. The Resurrection of Speculative Philosophy of History Within the Analytic Tradition. Princeton: Princeton Univ. Press, 1970.
Thomas Göller und Achim Mittag: Geschichtsdenken in Europa und China. Sankt Augustin: Academia Verlag, 2008.
Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde. München: Francke, 1980.
Herbert Schnaedelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg i.Br.: Alber, 1974.


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Erstellt: September 2013 mit Ergänzungen während des Semesters der Lehrveranstaltung