Franz Martin Wimmer
Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie
WS 2013 Übersicht gesamt:
1. Vorlesung: Begriffliches,
Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von
"stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema 1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema
2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema
3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema
4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema
5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema
6: Perspektivität und Objektivität
Zweite Vorlesung (15. und 22. 10. 2013)
EUROZENTRISMUS?
Altertümlich, überholt?
S. 19: Once upon a time the historical profession was more or
less united, at least in the English-speaking world. Professional
historians shared a common exposure to the classical and Christian
traditions, a common Anglocentric perspective, and a common
interpretive theme: the progress of freedom. This, of course, was
the liberal or 'Whig' interpretation of history that traced
mankind's pilgrimage from Mesopotamia to Mount Sinai, to
Runnymede, Wittenberg, and 'two houses of Parliament and a free
press' - and assumed that backward peoples, if not weighed down by
anchors like Hinduism, would follow the Anglo-American peoples to
liberty. This vision held sway until the cataclysm of 1914-18 made
belief in progress more difficult to sustain, the Great Depression
eroded faith in liberal institutions, and decolonization forced
consideration of non-Western cultures on their own terms.
Whereupon the historical profession, lacking consensus on proper
themes, subjects, methods, and purpose, fractured to the point
where considerable rancor now exists over the question of what
history is, or ought to be, at all.
Wie Funde in Nordchina belegen, ist die menschliche Siedlungsgeschichte am Unterlauf des Huanghe (Hoangho) sehr alt. Der "Pekingmensch" lebte vor etwa 500.000 Jahren in der Gegend der heutigen Hauptstadt Chinas. Um 4000 vAZ gibt es neolithische Ackerbauern in den Lößgebieten des Nordens und Nordwestens, etwa 1000 Jahre später auch am Changjang (Yangtsekiang).
Da Geschichtsschreibung in China früh in beeindruckender Weise entwickelt wurde und bereits im Werk des Sima Qian ein Bild der frühen Staatsbildungen vorgelegt hat, dessen Einzelheiten in vieler Hinsicht von der modernen Geschichtsforschung bestätigt worden sind, möchte ich zunächst von diesem Bild ausgehen. Aber schon früher hatten bedeutende Vertreter aller einflussreichen philosophischen "Schulen" Darstellungen eines urtümlichen Gesellschaftszustandes verfasst, die jeweils auch zentrale Ideen ihrer Theorie spiegelten. Dies hat in seiner Allgemeinheit keine Entsprechung in indischer oder griechischer Philosophie und ist auch nicht ident zu setzen mit den in allen Kulturen vorfindbaren Ursprungsmythen, sondern eher mit idealtypischen Konstrukten wie demjenigen von Hobbes' "Kampf aller gegen alle" zu vergleichen.
Die auffallendsten Züge in den
Darstellungen der Frühzeit sind:
* Kulturtechniken (wie: Schrift, Reisanbau, Seidenraupenzucht
usw.) werden namentlich Heroen des eigenen Volkes zugeschrieben.
Es finden sich in der Zeit der klassischen Schulen keinerlei
Spuren einer Erinnerung an frühere Wanderungen oder an
außerchinesische Einflüsse. Es ist jedoch umstritten, ob
beispielsweise die Schrift in China unabhängig entwickelt wurde.
Wenn dies der Fall ist, so ist Schrift dreimal in der
Menschheitsgeschichte entstanden (in Ägypten bzw. im
Zwischenstromland, in China und in Mesoamerika), im anderen Fall
nur zweimal.
* Die Heroen der imaginierten Frühzeit werden zu einer Art von
Halbgöttern und spielen eine wichtige Rolle im allgemeinen
Ahnenkult. Dabei sind es unterschiedliche Typen, die für spätere
Philosophenschulen jeweils entscheidende Vorbildfuktion
bekommen: Huangdi, der "Gelbe Kaiser", für die Daoisten; "Yao
und Shun" für die Konfuzianer; Yü, der Begründer der legendären
Xia-Dynastie für die Mohisten u.a. Vgl. zu den klassischen
philosophischen Schulen: VO
zur Philosophie in China I
* Das frühe Altertum bzw. der Urzustand selbst wird idealisiert,
es wird so etwas wie ein "Goldenes Zeitalter" oder auch ein
Zustand tierähnlicher Wildheit vorgestellt.
* Es zeige sich aus der bisherigen Geschichte, dass immer dann
eine "Dynastie" gestürzt und von einer neuen "Dynastie" abgelöst
worden sei, wenn die Repräsentanten der ersteren Verbrechen
gegen das allgemeine Wohl begangen haben. Nach einer bestimmten
Reihe sei ein "Zyklus" vollendet und die Geschichte beginne
somit gewissermaßen immer wieder von neuem.
* Ein Schöpfungsmythos, wie er in der christlichen Tradition die
Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte lange Zeit bestimmt
hat, fehlt.
Etwa so beschreiben Historiker der Han-Zeit, beginnend mit Sima Qian (Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v. bis 85 v.), die Vorgeschichte. Die Epoche vor der Han-Zeit sei zuerst von "vier Kaisern" (die aber ihr Amt nicht vererbt, sondern jeweils den Würdigsten zur Nachfolge bestimmt hätten) und dann von "drei Dynastien" bestimmt gewesen, auf die noch eine kurze Dynastie vor der jetzigen folgte. Diese vier von Sima Qian beschriebenen "Dynastien" sind:
Diesen "Dynastien" sind jeweils bestimmte Grundtugenden der Menschen zugeordnet, sodass nunmehr mit der Han-Zeit, nach dem Untergang der Zhou und dem Desaster der kurzlebigen Qin (Ch'in) ein neuer Zyklus begonnen habe. Die Schilderung von Sima Qian ist im traditionellen Geschichtsdenken Chinas weitgehend klassisch geworden. Es ist auffallend, wie viele historische Daten aus Sima Qians Darstellung durch die moderne Archäologie überprüft werden konnten und sich als zutreffend herausgestellt haben - so wurde etwa die von ihm beschriebene Xia-Dynastie lange Zeit für legendär gehalten, scheint aber heute durch Grabungen gesichert. Jedenfalls sind die "Dynastien" der Shang und der Zhou archäologisch belegt. Auch die Periodisierung in "Dynastien" wurde in der späteren Gechichtsschreibung Chinas stets beibehalten. Das Shiji des Sima Qian (s.u.) ist zum paradigmatischen Vorbild der sogenannten "Standard-Geschichten" geworden, in denen jeweils eine neu etablierte "Dynastie" die Leistungen und Verfehlungen ihrer Vorgänger offiziös darstellen ließ.
Aufgrund der archäologischen Belege setzt die moderne Geschichtswissenschaft den Beginn einer städtisch organisierten Gesellschaft am Gelben Fluss mit dem Einsetzen der Shang-Herrschaft an, mithin weitaus später als die Stadtkulturen Ägyptens, des Zwischenstromlandes oder des Indusgebiets, jedoch viel früher als die entsprechenden Gesellschaften im Mittelmeerraum, in Amerika oder in Europa. Um diese Zeit sind im Siedlungsgebiet am Huanghe jedenfalls Bronze, Pferd und Wagen, Schrift und Stadt bekannt. Die Form der Bronzen läßt keinen Einfluß von außen erkennen, es handelt sich vielmehr um etwas, was wir bis heute als "typisch chinesische" Formen und Muster kennen: Dreifüße und Ritualgefäße mit stilisierten Tieren und Pflanzen. Aus den Funden in Anyang sind Orakelinschriften ab dem 13. vorchristlichen Jahrhundert bekannt. Die Schriftzeichen dieser Zeit ähneln bereits in vielen Fällen heutigen chinesischen Zeichen.
Pferd und Wagen der Shang, zusammen mit Bronzewaffen, sichern eine militärische Überlegenheit besonders über die weiter südlich siedelnden Völker, die von jetzt ab in jeder politisch stabilen Epoche weiter nach Süden abgedrängt oder unterworfen werden. Aus der Shang-Zeit, die etwa 500 Jahre umfasst, sind insbesondere zwei Residenzen ausgegraben worden: Zhengzhou (Cheng-chou) und Anyang (An-yang). Es handelte sich um Palast-, Wohn- und Bestattungsanlagen für den Hof und eine zahlreiche Beamtenschaft, die von Steuereinnahmen lebte. Eine beginnende Geldwirtschaft mit Kaurimuscheln ist nachgewiesen, doch waren die meisten Abgaben noch lange in Naturalien zu entrichten. Der Herrschaftsbereich der Shang-Dynastie war starken Veränderungen unterworfen, wobei das Kerngebiet in der heutigen Provinz Henan (Honan, am Unterlauf des Huanghe) lag.
Daran schließt die sehr lange Zeit der Zhou-Dynastie (1027 bis 256) an. Sie zerfällt grob in zwei Perioden: vom Sieg über die Shang bis 771 v. üben die Zhou als "Dynastie" tatsächlich eine Lehenshoheit über einen weiten Bereich des heutigen China nördlich des Changjang aus. Die Hauptstadt dieser Epoche der "westlichen Zhou" ist Haojing (Hao, in der heutigen Provinz Shenxi). Ab 771 zerfällt die politische Macht der Dynastie immer mehr, die Residenz wird nach Luoyang (Loyang, in der Provinz Henan) verlegt und die bisherigen Lehensfürsten der Zhou kämpfen untereinander um die Territorien; die chinesische Geschichtsschreibung spricht von der "Frühlings- und Herbstperiode" (=Chunqiu-Zeit, 722 v. bis 481 v.). Dieser Name stammt von einem Annalenwerk, das oft fälschlich dem Konfuzius zugeschrieben wurde; es schildert Begebenheiten aus dem Staate Lu, der Heimat des Konfuzius im Süden der Halbinsel Shandong. An diese Epoche schließt die "Zeit der Streitenden Reiche" (=Zhanguo-Zeit, 456 bis 221 v.) an, sozial und politisch unruhige Zeit, in der die klassischen philosophischen Traditionen Chinas weiter ausgebildet wurden, die bis heute wirksam sind. Diese Epoche endet mit dem militärisch-politischen Sieg des Staates Qin über den letzten der konkurrierenden Teilstaaten des Zhou-Reiches.
Die politische Situation Chinas in
der Periode der "Frühlings- und Herbstannalen" und der "Zeit der
Streitenden Reiche" ist wichtig für das Verständnis der Themen
und Anliegen der Philosophen: sie ist durch den Kampf um die
Vorherrschaft gekennzeichnet, der zwischen den Teilstaaten des
Zhou-Reiches ausgetragen wurde und lange Zeit unentschieden
blieb. In vielen Erzählungen und historischen Anekdoten (u.a.
bei Sima Qian) sind die Verräter wie die Heroen der wechselnden
Allianzen dieser Zeit überliefert. Dabei sind einige kleinere
Kernstaaten von den größeren, expansiven Randstaaten zu
unterscheiden. Die Kernstaaten - wie beispielsweise Lu -
verlieren immer mehr an politischer Bedeutung, sie bleiben
jedoch Zentren von Kultur und Bildung. Ihre Herrscher verbünden
sich einmal in einer sogenannten Nord-Süd-Allianz mit einem
Großstaat im Süden, dann wieder in einer Ost-West-Allianz mit
dem Großstaat Qin im Westen. Letzterer stellt schließlich
aufgrund seiner überlegenen Militärtechnik und Verwaltung das
Einheitsreich her, indem er ab dem 4. Jahrhundert alle anderen
Staaten unterwirft. Zwar ist die Qin-Dynastie die kurzlebigste
unter allen historischen "Dynastien" Chinas - von der Ausrufung
des Kaisertums durch Qin Shihuangdi (=Ch'in-Shi-Huang ti; der
Name bedeutet Kaiser Nr. 1 aus Qin) im Jahre 221 bis zum
Ende der Dynastie unter seinem Nachfolger (Qin Er-Huang)
sind ganze 15 Jahre vergangen -, aber in dieser kurzen Zeit
wurden Reformen durchgeführt, die weiter Bestand hatten und
China entscheidend prägten: Vereinheitlichungen auf dem Gebiet
der Staatsverwaltung, der Wirtschaft, des Geld- und
Verkehrswesens, der Schrift, der Gesetzgebung usw. Die alte
Feudalordnung war zerschlagen, ein Beamtenstaat an deren Stelle
getreten. Daran änderte auch die neue Dynastie der Han wenig.
Außerdem wurden unter Qin Shihuangdi die bereits bestehenden
einzelnen Grenzbefestigungen gegen die "nördlichen Barbaren" zur
ersten "Großen Mauer" zusammengefasst, Vorläuferin jener Mauer
aus dem 15. Jahrhundert, die heute noch steht. Unter Qin Shihuangdi findet die erste einer
Reihe von Bücherverbrennungen (vgl. Darstellung)
statt, deren Details umstritten sind, aber in ideologischen
Auseinandersetzungen bis heute fortwirken.
In der Han-Zeit bildete sich in China eine standardisierte Literatursprache heraus ("wén-yán"), welche die Kommunikation zwischen den Sprechern von sehr unterschiedlichen Dialekten im Reich ermöglichen sollte. Sie wurde in der Folge trotz der starken Veränderungen der gesprochenen Sprache beibehalten, sodass sie schließlich für die Masse der Nichtgebildeten beinahe unverständlich wurde.
Es entstanden in dieser Zeit auch die ersten Lexika und Enzyklopädien Chinas, eine Literaturform, die "als typisch für das traditionelle China bezeichnet werden muß". Das Shuowen jiezi (meist: Shuowen, Shuo-wen, "Erläuterung von Schriften und Erklärung von Zeichen") des Xu Shen (1.-2. Jh.) interpretiert 9353 gebräuchliche und darüber hinaus 1163 veraltete Schriftzeichen hinsichtlich ihrer Bedeutung. Es löste das Verzeichnis von Schriftzeichen ab, das Li Si, der Kanzler von Qin unter Shihuangdi, verfasst hatte. Im Shuowen wird zum erstenmal ein Ordnungsprinzip eingeführt, nämlich die Anordnung der Zeichen nach sogenannten (540) "Radikalen", das zwar später vereinfacht und (auf 214) gekürzt wurde, im Prinzip aber bis heute in Gebrauch ist. Das Werk stellt die Grundlage für alle späteren chinesischen Wörterbücher dar und ist eine wichtige Quelle für Paläographie, Sprachgeschichte und Philologie.
Im Jahr 125 v. wurde das Yuefu (Yüeh
Fu), das "Amt für Musik" wieder aktiviert, das schon etwa
hundert Jahre früher begründet worden und dessen Aufgabe es war,
Liedertexte und Melodien zu sammeln. Neben Tempelgesängen und
höfischen Kompositionen wurden auch volkstümliche Lieder und
Balladen dokumentiert. Einige der Texte von Dichtern dieser Zeit
sind bis in jüngste Vergangenheit Bildungsgut geblieben, so z.B.
der Essay "Über die Fehler der Qin-Dynastie" des Chia I
(201-169 v.).
Von Sima Qian, dem ersten großen
Historiker der chinesischen Tradition, war schon im Zusammenhang
mit dem Geschichtsbild einleitend die Rede. An dieser Stelle ist
die Anlage seines Werkes vorzustellen, das als Meisterwerk der
chinesischen Prosa der Han-Zeit gilt. Der Buchtitel besteht aus
zwei Zeichen, wovon das zweite zur Benennung klassischer Texte
üblich ist.
Das erste Zeichen (史) bedeutet
Geschichte (Chronik) und wird etymologisch
interpretiert als Kombination einer Hand (
又 ), die ein Schreibrohr ( | ) hält um
das, was aus einem Mund ( 口 ) kommt, festzuhalten. Das Zeichen
ist seit der Bronzezeit vielfach belegt, die Bestandteile sind
in Belegen vor der Schriftreform (ca 220 vAZ) deutlich
erkennbar, z.B. so:
Die Grundstruktur der chinesischen
Standardgeschichten zeigt sich zum ersten Mal in dem in der
Folgezeit klassisch gewordenen Werk der Han-Zeit, das von Sima
Qian (Szuma Chien, auch: Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v.-90 v.)
fertiggestellt worden ist. Sima Qian war als Amtsnachfolger
seines Vaters kaiserlicher Historiograph (es gibt keine wirklich
damit vergleichbare Institution in der europäischen Geschichte)
unter dem vierten Kaiser der Han-Dynastie, Wudi (regiert 140
v.-86 v.). Kaiser Wudi erweiterte das Reichsgebiet
Richtung Süden weit über den Jangtsekiang hinaus fast bis zur
heutigen Landesgrenze und errichtete Kolonien in Annam. Die
südliche Mandschurei und Nordkorea wurden unterworfen. Die Truppen
drangen weit nach Zentralasien bis zum Fluss Jaxartes (Syrdarja in
Kasachstan) vor. China erfuhr in dieser Zeit seine bis dahin
weiteste Ausdehnung. Aus den Kriegen gegen die Xiongnu ging Wudi
schließlich als Sieger hervor. Das frühe Han-Reich zerfiel dann im
Verlauf des 1. Jahrhundert vAZ. Einflussreiche und wohlhabende
Familien aus den Provinzen sicherten sich Steuerfreiheit, wodurch
die Einnahmen des Staates beträchtlich geschmälert wurden. Die
Hauptsteuerlast wurde immer mehr auf die Schultern der zunehmend
unwilligen Bauern und Arbeiter verlagert. Schließlich riss Wang
Mang den Kaiserthron an sich und leitete so die Dynastie der
"Erneuerung" (9-23 AZ) ein. Wang verstaatlichte steuerfreie
Besitztümer und teilte sie unter den Bauern auf. Er weitete die
staatlichen Monopole aus und schaffte die Sklaverei ab. Nach
Überschwemmungen und einer landwirtschaftlichen Krise, die zur
Verschuldung der Bauern führte, fand seine Herrschaft ein jähes
Ende. Verarmte und heimatlose Bauern und Landarbeiter beteiligten
sich gemeinsam an einem Aufstand ("Rote Augenbrauen"), stürmten
die Stadt Chang’an und töteten Wang Mang. Danach wurde die
Han-Dynastie wieder etabliert, die folgende "späte (östliche)
Han-Dynastie" endet 220 AZ.
Sima Qian lebt und schreibt also in der expansiven Phase der
ersten Han-Zeit. 99v. wird er vom Kaiser im Gefolge eines
verlorenen Feldzugs gegen die Xiongnu aufgrund seiner
Stellungnahme für den geschlagenen Feldherrn zuerst zum Tod, dann
zur Kastration verurteilt. Standesgemäß wäre daraufhin seine
Selbsttötung erwartbar gewesen, jedoch Sima Qian zieht dem nach
eigenem Bericht ein Leben als Eunuch vor, um sein Werk
fertigzustellen, da dieses höheren Wert für die Menschen habe im
Vergleich zu irgend etwas, das ihm selbst widerfahren könnte.
Sima Qians Bericht über die Geschichte Chinas von den Anfängen bis in seine Gegenwart entwickelt in prägender Weise die Kategorien, Begriffe und Methoden, die auch später noch, und in einzelnen historischen Unternehmungen bis in unsere Zeit, die chinesische Historiographie bestimmt haben. Der Einheitsgesichtspunkt, der dem Ganzen zugrundeliegt, ist ein universalistischer und integrativer Begriff unter dem Namen einer Dynastie. Die Einheit der Dynastie, ihre jeweilige Charakteristik, ihre Vorzüge und ihre Mängel bestimmen sowohl die Auswahl der Ereignisse, Personen, Institutionen, als auch den Aufbau der Darstellung und die Bewertung der einzelnen Faktoren im historischen Werk. Ich will daher zunächst auf diesen Begriff der Dynastie und die mit ihm verbundene Geschichtsauffassung kurz eingehen, um dann die eher formalen Strukturelemente zu skizzieren, wie sie vor allem den Standardgeschichten zugrundeliegen.
Das Auffallendste an den traditionellen chinesischen Geschichtswerken scheint darin zu liegen, dass sie von der (gelegentlich fiktiven) Idee ausgehen, dass immer wieder eine einzige Dynastie über China herrsche, welche das geistig-kulturelle ebenso wie das wirtschaftlich-politische Leben gänzlich bestimme. Die von Konfuzius (in den sogenannten Frühlings- und Herbstannalen) idealisierte Dynastie der Zhou liefert eines der ersten Muster dafür. Gerade hierbei fällt auf, dass dieser Dynastie eine übermäßig lange Verfallszeit attestiert wird, da sie nach ca. 800 v. faktisch keine Macht mehr ausübt (und von den meisten tatsächlichen Machthabern und deren Ideologen wohl auch nicht mehr als die herrschende Dynastie betrachtet wurde, - Konfuzius denkt hier anders, also restaurativ, wo er nur Faktisches in den Annalen zu konstatieren vorgibt. Trotz der in Wirklichkeit großen Veränderungen und Machtverschiebungen wird die ganze Epoche bis zu jener kurzen Phase des Qin-Reiches, als der Erste Kaiser von China, als eine Einheit, eben als die Zeit der Zhou-Dynastie, betrachtet. Schon bei Sima Qian findet sich hierfür eine entsprechende kosmologisch-metaphysische Hintergrundtheorie, die eine solche Geschichtsauffassung stützen soll.
Sima Qian nimmt an, dass jede der großen Dynastien eine Teilform oder besondere Anwendung des Tao als ihr jeweiliges Staatsprinzip durchsetzt. Jedoch muß, eben weil es sich jeweils um bloß verabsolutierte Teile, nie um das Ganze des Tao handelt - und handeln kann - jeder dieser Staaten, jede dieser Dynastien wieder zerfallen: das Gegenprinzip des jeweiligen Teilprinzips wird sich durchsetzen. Eine Dynastie stellt also ein zeitweiliges Übergewicht einer bestimmten Ordnungsvorstellung her - und dauerhaft sind jene Dynastien, deren Staatsprinzip die richtige Heilung für die von der vorausgegangenen Dynastie verursachten Mißstände bringt.
Es gibt aber nur eine kleine Zahl von solchen Teil-Taos oder Staatsprinzipien, sodass der Gesamtprozeß durch sich wiederholende Zyklen gekennzeichnet ist. Dies leuchtet ein, wenn man voraussetzt, dass Staatsprinzipien, deren Kairós nicht gegeben ist, oder die überhaupt nicht dem Tao entsprechen, ohnedies sehr schnell wieder samt ihren Verfechtern (da diese nicht das Mandat des Himmels haben) verschwinden - was bei der Interpretation der Geschichte durchaus zur Rechtfertigung des langdauernd Erfolgreichen verwendet wird, bei der Interpretation der Gegenwart aber sowohl revolutionären wie auch reaktionären Ideologen dienen kann.
Sima Qian führt in seiner
Darstellung des Gründers derjenigen Dynastie, unter der er lebt,
gewichtige Gründe dafür an, warum in der Revolte, in der diese
Dynastie sich schließlich etablieren konnte, das rechte Prinzip
getroffen worden und eine dauerhafte Regierung zu erwarten sei.
Zu diesem Zweck greift er auf die alten, nur teilweise noch
historisch nachweisbaren Dynastien zurück, soweit sie ebenfalls
in der rechten Reihenfolge das jeweils anstehende Teilprinzip
des Tao mit ihrem Staatswesen verwirklicht hätten. Sima Qian
argumentiert also für die "Richtigkeit" der Han-Dynastie,
indem er die Reihenfolge der vorangegangenen Dynastien und
deren "Prinzipien" mit deren jeweiliger Verfallsform
feststellt: die (legendäre) Xia-Dynastie sei durch "guten
Glauben" ("good faith") zur Macht gelangt, dessen Kehrseite
die "Derbheit" ("rusticity") war. Die anschließende
Shang-Dynastie habe diesen Verfallszustand durch ihr Prinzip
der "Verehrung" ("piety") geheilt, welche zum "Aberglauben"
("superstition") entartete und von den Zhou mit deren Prinzip
der "Verfeinerung" ("refinement") abgelöst worden sei. Dieses
sei aber zur "hohlen Schau" ("hollow show") geworden und
nunmehr hätte die Reihe von neuem beginnen müssen. Die Qin
(Ch'in)-Dynastie (221-206 v.) habe dies jedoch verkannt und
sei deshalb so schnell gestürzt worden. Mit dieser These von
einem Dreischritt von "Staatsprinzipien", der sich zyklisch
wiederhole, kritisiert Sima Qian die Selbstdarstellung der
Qin-Zeit, die von einer Fünferreihe entsprechend der "Fünf
Elemente" ausging und die eigene Etablierung als die
Vollendung dieser Fünferreihe propagierte. Es wäre
geboten gewesen, zum guten Glauben zurückzukehren, aber die
Qin-Dynastie, schlug nicht diesen Weg ein, sondern führte, von
den legalistischen Philosophen schlecht beraten, zur Erhaltung
von Recht und Staat "harte Strafen und Gesetze" ein - was in
Sima Qians Augen erklärt, dass diese Dynastie schon bald nach
dem Tod ihres Begründers Qin Shih Huangdi scheitern mußte.
Erst die Han-Dynastie, also
der Ahn des Kaisers Wu-di, habe wieder den alten Völkerglauben
etabliert, sie wurde damit zu den "Xia" von Sima Qians
Gegenwart, sie habe den Zyklus in rechter Weise von neuem
begonnen.
Das Werk Sima Qians, als Modell noch
lange Zeit vorbildlich, soll dazu als Anhaltspunkt dienen. Es
ist in 130 Kapitel gegliedert, die die gesamte bisherige
Geschichte der Chinesen und der dem Autor bekannten
Nicht-Chinesen zum Gegenstand haben und sich wiederum in 5
Sektionen unterteilen lassen:
a) Annalen: 12 Kapitel über die frühesten Dynastien und das
Leben einzelner Kaiser der regierenden (Han-)Dynastie
b) Chronologische Tafeln: 10 Kapitel in graphischer Form, die
wichtigsten Ereignisse mit ihren Daten betreffend.
c) Abhandlungen: 8 Kapitel über Riten, Musik, Astronomie,
Religion und Wirtschaft
d) Adelsfamilien: 30 Kapitel über die Geschichte der
verschiedenen Feudalstaaten vor der Reichseinigung durch die
Ch'in-Dynastie
e) Biographien: 70 Kapitel über einzelne berühmte Chinesen und
Nicht-Chinesen.
Innerhalb jeder Sektion ist die
Anordnung des Materials chronologisch vorgenommen. Es handelt
sich insgesamt um eine Synthese von Berichten über
unterschiedliche Bereiche: politische und dynastische Ereignisse
werden ebenso wie Entwicklungen auf dem Gebiet des Wissens, der
Kunst oder der Weltanschauung und Philosophie dargestellt. Dies
wird in den folgenden Dynastiegeschichten weitergeführt, sodass
z.B. eine separate Literaturform wie die europäische
"Philosophiegeschichte" vor dem 20. Jahrhundert in chinesischer
Literatur nicht existiert (was natürlich nicht heißt, dass die
Darstellung von Geschichte des philosophischen Denkens fehlen
würde, diese ist jeweils in die Gesamtdarstellung einbezogen).
Das zweite große historische Werk der Han-Zeit ist:
Wie Sima Qian war auch Ban Gu
(32-92), der Bruder des berühmten Feldherrn Ban Chao (durch
dessen militärische Erfolge im Westen das Reich der Östlichen
Han-Dynastie zeitweilig seine größte Ausdehnung erlangte)
kaiserlicher Historiograph. Er führte das von seinem Vater Ban
Biao begonnene Hanshu, die Geschichte der Westlichen Han-Zeit
fort und verfasste auch andere literarische Arbeiten. Das Hanshu
wurde von Ban Zhao (s.u.) zu Ende geführt. Der Werktitel enthält
hier zuerst den Namen der beschriebenen Dynastie (Han), das
zweite Zeichen bedeutet Geschriebenes, also Buch, und ist
Titelwort in vielen der späteren sogenannten
Dynastiegeschichten.
Ban Gu übertrug die Fertigstellung des Hanshu seiner Schwester Ban Zhao (=Pan Chao, 45-115), als er sich einem Feldzug gegen die Xiongnu anschloss. Dieser Feldzug war zwar siegreich (Ban Gu verfasste eine Felsinschrift darüber), führte aber zur Entmachtung des Feldherrn und in deren Folge auch zur Einkerkerung Ban Gus. Er starb im Kerker. Ban Zhao stellte das Hanshu fertig und wurde offiziell damit beauftragt, andere Gelehrte über dessen Inhalt zu unterrichten. Ban Zhao war Hofdame der Kaiserin und verfasste außerdem Gedichte und das Werk Nü-Jie (Nu chien, "Gebote für Frauen"), einen im Geist des Konfuzianismus geschriebenen Moralkodex für Frauen. Darin entwirft Ban Zhao eine Lehre weiblicher, aus dem "Yin" hergeleiteter Tugenden, wobei insbesondere Sanftheit, Demut, Bescheidenheit und Gehorsam gefordert werden. Andererseits besteht Ban Zhao aber auf dem Recht auf Bildung für Frauen, was sie als notwendige Voraussetzung für deren moralische Kultivierung ansieht.
In der Anlage des Werks und der Art der Darstellung folgt das Hanshu dem Vorbild des Sima Qian, allerdings beschränkt er sich auf die Geschichte einer einzigen Dynastie und begründet somit, was die Abgrenzung des Gegenstandes betrifft, die Gattung der Dynastie-Geschichten, die später immer wieder nach der Etablierung einer neuen Dynastie über die vorangegangene verfasst worden sind.
Obwohl das Hanshu nur einen Zeitraum von 200 Jahren behandelt, im Vergleich zum Shiji also eine kurze Periode, ist es im Umfang weit größer als dieses. Wie Sima Qians Werk beschreibt auch das Hanshu im ersten, annalistischen Teil, Ereignisse der Politikgeschichte, wobei er sich auf offizielle Akten stützt, in denen Entscheidungen von Herrschern, deren Verwandten, Beratern und Beamten dokumentiert sind. Es übernimmt auch für weitere Teile den Aufbau des Shiji: der zweite Teil bringt Tabellen von Ereignissen, Genealogien und Personenlisten; der dritte Teil behandelt einen weiten Bereich von Themen (wie: Hofzeremoniell, Musik, Geld- und Steuerwesen und Navigation); im vierten Teil werden bedeutende Persönlichkeiten, die nicht Kaiser waren, biographisch vorgestellt. Neue Themen im Hanshu sind Naturphänomene, Geographie und Bibliographie. So enthält dieses Werk eine Liste der Bücher, die in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt werden (von denen viele in der Folgezeit verlorengehen, sodass diese Liste von großer Bedeutung für die spätere Forschung geworden ist). Die von Sima Qian behandelte Abteilung (über die "erblichen Herrschaften" oder "Adelsfamilien") fehlt im Hanshu, da in der Han-Zeit die erbliche Adelsherrschaft abgeschafft worden war.
PRÜFUNGSRELEVANT zu Sima Qian:
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Thomas Göller und Achim Mittag: Geschichtsdenken in Europa und
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Sankt Augustin: Academia Verlag, 2008.
Wolfgang Kubin: Die chinesische Dichtkunst: Von den Anfängen bis
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Fritz-Heiner Mutschler: Tacitus und Sima Qian. Eine
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Persönliche Erfahrung und historiographische Perspektive, in:
Philologus 151, 2007, 127-152
———: Sima Qian and his
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Susanne Weigelin-Schwiedrzik: "Weltgeschichte und chinesische
Geschichte. Die chinesische Historiographie des 20. Jahrhunderts
zwischen Universalität und Partikularität." In: Globalisierung
und Globalgeschichte, Hg.: Margarete Grandner, Dietmar
Rothermund und Wolfgang Schwentker, S. 139-61. Wien:
mandelbaum Verlag, 2005.
Franz Martin Wimmer: "Feurige Argumente - Bücherverbrennung und
Geistesgeschichte." In Aufspaltung und Zerstörung durch
disziplinäre Wissenschaften, Hg.: Werner W. Ernst, S.
111-33. Innsbruck: Studienverlag, 2003. im Internet: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1726/
Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung ( De nostri temporis
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Deutsche Übersetzung von W.F. Otto (1963)
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Über Vico:
Prüungsrelevant zu Vico: König, P.: Giambattista Vico. München (2005)
Burke, P.: Vico : Philosoph, Historiker, Denker einer neuen
Wissenschaft. Berlin: Wagenbach, 2001. (Erstdruck: engl. 1984)
Croce, B.: Die Philosophie G. Vicos (Dt. v. E. Auerbach und Th.
Lücke),Tübingen (1927)
Fellmann, F.: Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte,
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Horkheimer, M.: Die Anfänge der bürgerlichen
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Otto, S.: Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie,
Stuttgart-Berlin-Köln (1989)
Pompa, L.: Vico. A Study of the 'New Science', London (1975)
Schmidt, W.R.: Die Geschichtsphilosophie G.B. Vicos.
M.e.Anh.z.Hegel, Würzburg (Diss., 1982)
Im Zusammenhang der LV ist die "Neue Wissenschaft über die
gemeinschaftliche Natur der Völker" (SN= Scienza Nuova) der
wichtigste Text, ich gebe daher hier fast ausschließlich Punkte
dazu wieder. Die angeführte Sekundärliteratur ist nicht mehr als
ein erster Hinweis zur Lektüre, als Einführung in das Denken Vicos
überhaupt kann König (2005), in die SN Pompa (1975) empfohlen
werden.
Vicos Schriften, insbesondere die SN, sind zu seinen Lebzeiten und
lange danach so gut wie gar nicht gelesen worden.
Zwei Themen werden darin in einer Weise ausgeführt, die den Trends
seiner Zeit inhaltlich zwar entsprechen, wobei aber die Thesen und
auch die Art der Ausführung sehr unzeitgemäß waren:
- eine Rekonstruktion der Geschichte antiker Kulturen und
- eine Reflexion der philosophischen und geschichtstheoretischen
Voraussetzungen solcher Rekonstruktionen. Die beiden Themen werden
zudem in der SN nicht sauber getrennt.
Einleitung: dichter, teilweise schwer verständlicher Kommentar
zum Frontispiz, der in einer Allegorie die ganze Theorie des Werks
zum Ausdruck bringen soll:
Buch 1: "Etablierung der Prinzipien":
beginnt mit einer chronologischen Tafel, die in sieben Reihen die
Hauptdaten der hebräischen, chaldäischen, skythischen,
phönikischen, ägyptischen, griechischen und römischen Geschichte
zeigt.
Abschnitt 1: Anmerkungen und Kommentare zum vorgestellten Schema;
es wird dabei klar, dass V.
prinzipiell und in Einzelheiten von den Auffassungen der
zeitgenössischen Geschichtsschreibung abweicht.
- Abweichende Einzelheiten: Datierungsfragen, Interpretationen.
- Grundsätzliche Abweichungen: V.s Gegner nehmen an, dass das
Anwachsen von Zivilisation (der Fortschritt in der
Menschheitsgeschichte) eine Folge des gemeinsamen einzigen
Ursprungs aller Kulturen sei, woraus eine Kausalität der
Übertragungen von Kulturformen folgt.
V. hingegen nimmt an, dass das parallele Wachsen der Kulturen in
den verschiedenen historischen Völkern nicht auf einem gemeinsamen
historischen Ursprung beruht, sondern auf gemeinsamen
menschennatürlichen Wesenszügen. Die "Natur" aller Völker sei so,
dass ohne den äußeren Einfluß (von seiten anderer Völker) die
verschiedenen historischen Völker notwendigerweise gewisse
gemeinsame Merkmale in sozialer, ökonomischer und kultureller
Hinsicht entwickeln müssten.
Abschnitt 2: "Elemente"
V. will "wissenschaftlich" vorgehen, indem er die
Humanitätsmerkmale oder -prinzipien der Völker aufzählt. Diese
sollen die Lösungen bestehender Probleme bei der Beschreibung und
Erklärung des geschichtlichen Zustandes (der Vergangenheit und der
Gegenwart) ermöglichen. Er stellt diese "Elemente" in Form von
Axiomen zusammen, sie geben dem historischen Bericht seine "Form".
Es handelt sich insgesamt um 114 "Elemente":
a) Philosophische Prinzipien, deren wichtigste eine Theorie der
Erkenntnis und der sozialen und historischen Natur der Ursachen
menschlichen Handelns, insgesamt eine metaphysische Theorie
darstellen.
b) Historisch-soziologische Theorien.
c) Methodologische Theorien betreffend die Reform der
geschichtswissenschaftlichen Methode.
(Diese Unterscheidung (a-c) findet sich in der SN nicht
ausdrücklich. V. nennt die "Elemente" I-XXII und CVI "allgemein",
dh. grundlegend für die gesamte Wissenschaft, die übrigen 91
"Elemente" nennt er "besondere". Die "allgemeinen" betreffen a)
und c) in der obigen Einteilung, die übrigen soziologische
Theorien und historische Folgerungen.)
Die Abschnitte 3 und 4 bringen eine nähere Ausführung seiner
Methode, sie stellen den Hauptteil der theoretischen
Untersuchungen dar. (Sie werden in dieser Übersicht nach der
kursorischen Angabe des Inhalts ausführlicher besprochen.)
Buch 2: "Von der poetischen Weisheit"
These dieses Abschnitts: Die erste Stufe des sozialen Lebens aller
Völker ist die "poetische" Lebensweise. Hier sind die
Institutionen das Produkt von Menschen, deren Antwort auf die
Gegebenheiten ihrer Umwelt von einer weitgehend imaginativen,
phantasiebedingten, und nicht-rationalen Denkart bestimmt ist.
Gezeigt werden soll,
wie bestimmte Institutionen bei bestimmten Außenbedingungen
zwangsläufig entstehen mußten und zweitens,
wo und wann eben diese Institutionen entstanden sind.
Buch 3: "Von der Entdeckung des wahren Homer"
Die These des Abschnitts: Die homerischen Schriften stammen nicht
von einem einzigen Individuum, sondern von den griechischen
Rhapsoden, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten
Griechenlands lebten. Diese Werke sind dem griechischen Volk,
nicht einzelnen zuzuschreiben.
Buch 4: "Von dem Lauf, den die Völker nehmen"
Schematische Darstellung der Hauptphasen der "idealen ewigen
Geschichte", d.h. der Stufen von Entstehen, Entwicklung und
schließlichem Niedergang, die alle Völker durchlaufen müssen, wenn
sie sich frei entwickeln. Zwar wird auch hier auf geschichtliche
Tatsachen Bezug genommen, der Akzent liegt jedoch auf den
Theorien.
Buch 5: "Von der Rückkehr der menschlichen Dinge bei der
Wiedergeburt der Völker"
Verhältnismäßig knappe Hinweise dazu, wie die spätere Zeit (das
"dunkle Zeitalter" der frühen Feudalepoche) im Lichte seiner
Theorien interpretiert werden müsste.
Eines der Hauptprobleme der Geschichtswissenschaft im 17. und
frühen 18. Jahrhundert lag darin, dass von Händlern und
Missionaren Berichte über die Institutionen von Naturvölkern
kamen, wobei diese große Ähnlichkeiten mit dem aufwiesen, was aus
der europäischen Antike bekannt war. Die gängige Erklärung für
diesen Sachverhalt bestand darin, dass man einen gemeinsamen
historischen Ursprung behauptete, wobei die Debatte darum ging, in
welchem Volk die Kultur zuerst begonnen habe und auf welchem Weg
dieses Volk seine Errungenschaften dann den anderen übermittelt
habe.
V. bestreitet nicht die Tatsachen, die hier zu erklären waren,
aber er schlug eine andere Erklärung vor: aus einer gemeinsamen
menschlichen Natur und nicht aufgrund eines gemeinsamen
historischen Ursprungs.
Die "Elemente" geben eine Liste der unangemessenen philosophischen
Begriffe und methodologischen Vorgangsweisen, die in dieser Frage
verbreitet seien:
(1) Statt eine saubere Methode für kritische Interpretationen zu
formulieren, verlassen sich die meisten Historiker nach Vicos
Meinung auf ihren 'gesunden Menschenverstand', wobei sie folgende
Fehler machen:
Sie machen sich selbst zum Maß aller Dinge und interpretieren so
bei jedem Wiedererzählen die ursprünglichen Ereignisse neu,
bauschen sie auf oder verkleinern sie. Traditionelle Berichte
können daher nicht von vornherein als glaubwürdig angesehen
werden.
Das geschieht vor allem in der Nationalgeschichtsschreibung (heute
würden wir sagen: "Ethnozentrismus"), woraus der Streit um die
Frage entsteht, welches Volk die Kultur begründet habe. Vico nennt
dies die
"Anmaßung der Nationen"
und diskutiert es v.a. an Datierungsfragen der alten Geschichte.
Von den antiken Historikern sei nur (der jüdische Schriftsteller)
Josephus Flavius davon frei gewesen.
(Dazu ist anzumerken, dass das 18. Jahrhundert in Datierungsfragen
noch gänzlich auf literarische Traditionen und Quellen angewiesen
war, wogegen wir heute vielerlei naturwissenschaftliche Daten dazu
heranziehen. Vico wirft aber seinen Gegnern vor, sie hätten nicht
realisiert, dass die literarischen Berichte, auf die sie sich
stützten, nicht Ergebnisse unparteiisch-objektiver
Berichterstattung seien, sondern aus parteiischer Sicht
geschrieben wären. Solche Parteilichkeit macht die Berichte nach
Vicos Auffassung nicht wertlos; wenn sie aber von Nutzen sein
sollen, so ist der Historiker genötigt, sie einer strengen Kritik
zu unterziehen, indem er die dahinterstehende Parteilichkeit
herausarbeitet.)
Vico denkt hier nicht an rein persönliche Standpunkte und
Wertungen. Er wendet seine Überlegung auf das allgemeine
begriffliche Schema und System des Wissens und Glaubens an, das
der jeweilige Schreiber anerkennt. Das Begriffsschema und die etwa
von griechischen Rhapsoden gewußten oder geglaubten Sachverhalte
sind nicht ihre persönlichen Produkte, sondern die ihrer
Gesellschaft, für die sie ihre Erzählungen machten. Wichtiger als
die bloß persönlichen Vorurteile (die in den historischen
Berichten auch eine Rolle spielen) ist: sie reflektieren das
System von Glaubenssätzen, Werten und Annahmen der Gesellschaft,
der sie angehören.
2)"Wenn sich die Menschen keine Vorstellung von fernen und
unbekannten Dingen machen können, beurteilen sie sie nach dem, was
ihnen vertraut und zugänglich ist."
Zur "Anmaßung der Nationen" kommt also noch die
"Anmaßung der Gelehrten":
die Neigung, zu glauben, alles gegenwärtige Wissen sei immer schon
bekannt gewesen. Man überschätze aus diesem Grund die Weisheit der
Alten. Vico verwirft mit dieser Regel "alle mystischen Deutungen,
die von den Gelehrten für die ägyptischen Hieroglyphen gegeben
wurden, ebenso wie die philosophischen Allegorien, die sie in den
griechischen Mythen finden wollten."
Der Irrtum der "Anmaßung der Gelehrten" liegt in der Annahme, die
historische Tatsache sei Erzeugnis von Denkweisen, die einer
späteren Gesellschaft angehören. Es handelt sich also um einen
Begriffs-Anachronismus, dem die Historiker dann verfallen, wenn
sie die Interpretation ihres Materials aufgrund der Annahme
versuchen, dass dasjenige, was ihnen ein sinnvoller und rationaler
Handlungsablauf zu sein scheint, ein überzeugender und plausibler
Weg der Problemlösung, auch den historisch Handelnden so
erschienen sein müsse. Es ist dies die Annahme, dass die
Rationalitätskriterien der eigenen geschichtlichen
Gesellschaftsstufe diejenigen jeder möglichen Gesellschaft sind.
Diesen Irrtum schreibt Vico einer ganzen Tradition von Denkern zu:
von Platon bis zu Francis Bacon.
Zwei Thesen sind jeder Theorie historischer Kritik nach Vico
zugrundezulegen:
a) kein Bericht der Tradition ist per se glaubwürdig und
b) der natürliche Weg, Geschichte zu interpretieren, nämlich so,
als interpretierten wir Phänomene und Handlungen innerhalb unserer
eigenen Gesellschaft, ist unangemessen.
Vico wendet sich mit diesen Thesen gegen eine Willkür und eine
Naivität: Er greift den willkürlichen Charakter der Annahmen an,
worauf die meisten Geschichtsdarstellungen basieren. Seine
Alternative ist nicht, keine Voraussetzungen, sondern bewußte
Voraussetzungen zu machen.
Der zweite Einwand betrifft die naive Art, Geschichte zu
schreiben, indem man unbesehen Faktoren als bestimmend annimmt,
die erst später relevant geworden sind.
Welches erkenntnistheoretische Axiom kann nach Vico in dieser
Situation leitend sein? Er formuliert es in
SN I, 3 (Nr.331):
"Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das
entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das
nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in
Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt ganz gewiß von
den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie
müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen
Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß
jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle
Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von
der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen
hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben
nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt,
die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen
geschaffen haben."
Natur des Menschen und gesellschaftlicher Wandel
Vico geht von allgemeinen Voraussetzungen aus:
Da der Mensch schwach und gefallen ist, hat die Philosophie ihn zu
leiten, sie darf ihn nicht in seiner Korruption belassen. Sie kann
diese Aufgabe auch erfüllen.
Zentral ist es, die Rolle der "Vorsehung" zu erkennen, die in zwei
typischen Arten stets verkannt worden sei: indem man nur das
Schicksal oder nur den Zufall für Veränderungen verantwortlich
machte. Ersteres haben in paradigmatischer Weise die Stoiker,
zweiteres die Epikureer getan.
Die Geschichte der Institutionen, konkret die Rechtsgeschichte
gibt die wesentlichen Hinweise für die menschliche Natur:
SN I,2, Nr.132-133:
"Die Gesetzgebung betrachtet den Menschen wie er ist, um daraus
für die menschliche Gesellschaft Nutzen zu ziehen; so macht sie
aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz - welche drei
Laster das gesamte Menschengeschlecht verwirren - die
Kriegskunst, den Handel und die Staatskunst; also die Kraft, den
Reichtum und die Weisheit der Gemeinwesen; solcher Art schafft
sie aus jenen drei großen Lastern, die sonst ohne Zweifel die
menschliche Erzeugung auf der Erde vernichten würden, einen
glücklichen bürgerlichen Zustand.
Dieser Grundsatz zeigt, daß hier göttliche
Vorsehung mitwirkt, und daß sie ein göttlicher gesetzgebender
Geist ist: der aus den Leidenschaften der Menschen (die alle nur
an ihrem persönlichen Nutzen hängen und deshalb wie wilde Tiere
in den Wüsten leben würden) die bürgerlichen Ordnungen
hervorbringt, durch die sie in menschlicher Gemeinschaft leben
können."
Hier ist ein Gedanke ausgesprochen, der die gesamte SN durchzieht:
der Unterschied zwischen Motiv und Folge einer Handlung. Ersteres
ist zerstörend, letztere aufbauend. Wichtig ist jeweils der
institutionelle Kontext, innerhalb dessen die Handlungen von
Menschen ausgeführt werden. Weil die Menschen in einer gesetzlich
geordneten Welt leben,führen Grausamkeit, Habsucht und Ehrgeiz sie
dazu, Soldaten, Kaufleute und Staatsmänner zu werden und so zum
öffentlichen Wohl beizutragen.
Philosophie also, wenn sie den Menschen leiten soll, muss diese
Konstanten und zugleich den institutionellen Kontext
berücksichtigen, in dem die einzelnen handeln. Darum ist es ein
Vorwurf, wenn Vico die Stoiker und Epikureer als "mönchisch und
einzelgängerisch" kennzeichnet: sie übersehen die
Gesellschaftsnatur des Menschen.
Die Frage, ob das Gesetz von Natur aus existiere oder ob der
Mensch von Natur gesellschaftsfähig sei, beantwortet Vico damit,
dass der Mensch immer schon in Gesellschaft gelebt habe und die
Gesellschaft für ihn notwendig sei. Diese Henne-Ei-Frage ist damit
gelöst:
SN I,2, Nr.134:
"Die Dinge passen sich nicht an und bestehen nicht außerhalb
ihres natürlichen Zustands."
Das setzt eine logische Verbindung zwischen Recht und Gesellschaft
voraus. "Gesellschaft" ist für Vico eine legal-strukturierte Form
von Zusammenschluß. Es kann daher gar nicht die Frage sein, ob die
Gesellschaft ein Produkt des Rechts sei oder eins von beiden etwas
anderes wäre als eine notwendige Folge aus der Natur des Menschen.
Die Gesellschaftlichkeit des Menschen ist für Vico grundlegend,
keiner Erklärung mehr bedürftig, selbst ein Prinzip der Erklärung.
Aber wenn auch die gesellschaftliche Natur als solche keiner
Erklärung bedarf, so trifft dies doch nicht für irgendeine der
verschiedenen einzelnen Formen sozialer Organisation zu, die
entstanden und wieder vergangen sind. Vicos Auffassung von der
Sozialnatur des Menschen hängt daher wesentlich mit der These vom
gesellschaftlichen Wandel zusammen, wofür zwei Begriffe
einschlägig werden: der "gemeinsame Sinn" und das "natürliche
Recht".
SN I,2, Nr.141-142:
"Der menschliche Wille, seiner Natur nach höchst schwankend,
festigt und bestimmt sich nach dem allen Menschen gemeinsamen
Sinn für das, was ihnen notwendig oder was ihnen nützlich ist:
welches die beiden Quellen sind des natürlichen Rechts der
Völker.
Dieser allen gemeinsame Sinn ist ein Urteil ohne alle
Reflexion, allgemein empfunden von einer ganzen Gruppe, einem
ganzen Volke, einer ganzen Nation oder dem gesamten
Menschengeschlecht."
Der menschliche Wille sei also von Natur aus nicht klar
zielgerichtet, d.h. Vico schildert den Menschen als Naturwesen
ohne ausreichenden Instinkt. Dennoch sind die Menschen
handlungsfähig, verhalten sich in ganz bestimmter Weise: das ist
bewirkt durch den "senso comune", den "gemeinen Menschenverstand".
Unter den Philosophen, die über die menschliche Natur und die
Freiheit des Willens nachgedacht haben, gibt es wiederum zwei
Extreme: die Deterministen und die Indeterministen. Erstere (z.B.
die Stoiker oder auch Spinoza) behaupten, ein Schicksal bestimme
alles. Vico leugnet demgegenüber nicht jede Bedingtheit, wohl aber
die metaphysische Determiniertheit.
Menschliche Geschichte darf nach Vico nicht als das Produkt
irgendeiner transzendenten, kosmischen Notwendigkeit gedacht
werden. Vico wendet sich aber ebenso gegen die Auffassung der
"Epikureer", denen zufolge die Formen des gesellschaftlichen
Lebens ein zufälliges Ergebnis der individuellen Tätigkeiten von
Menschen sind. Auch dies werde "von den Tatsachen widerlegt" (SN,
Nr. 1109); die Forschung zeige vielmehr, dass eben dieselben
Folgen und Systeme von Institutionen bei allen Völkern der
Vergangenheit entstanden sind. Solche Ähnlichkeiten müssen auf
eine gemeinsame Ursache hinweisen und sprechen somit ganz gegen
die These von der Zufälligkeit.
Der Begriff, mit dem Vico zwischen Fatum und Zufälligkeit
vermitteln will, ist der
"senso comune":
- ein "Urteil ohne Reflexion";
- er wird geteilt von "einer ganzen Klasse, einem ganzen Volk,
einer ganzen Nation oder der ganzen menschlichen Rasse."
- Er ist befasst mit "menschlichen Bedürfnissen oder Vorteilen",
die selbst wiederum
- die "beiden Quellen des Naturrechts der Völker" sind.
Eines der Beispiele Vicos sei angeführt, die das Wirken dieses
"senso comune" belegen sollen.
SN I, 4, Nr. 341:
"... da die Menschen wegen ihrer verderbten Natur tyrannisiert
werden von der Selbstsucht, vermöge derer sie hauptsächlich nur
ihren eigenen Vorteil verfolgen, und diesen Vorteil nur für
sich, in keiner Weise für ihren Nächsten wünschen, so können sie
ihren Leidenschaften nicht die Richtung nach der Gerechtigkeit
geben. Daher stellen wir fest, daß der Mensch im bestialischen
Zustand nur seine eigene Wohlfahrt liebt; hat er eine Frau
genommen und Kinder erzeugt, so liebt er seine Wohlfahrt
zugleich mit der seiner Angehörigen; ist er zum Leben in der
Gesellschaft gelangt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit
der des Gemeinwesens; dehnt sich die Herrschaft über mehrere
Völker aus, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der
Wohlfahrt der Nationen; sind schließlich die Nationen durch
Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse und Handelsverkehr geeint,
so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt des
ganzen menschlichen Geschlechts; in all diesen Umständen liebt
der Mensch vorzüglich den eigenen Vorteil. Also kann er von
niemand anders als von der göttlichen Vorsehung innerhalb
solcher Ordnungen gehalten werden, daß er sein Leben in
Gerechtigkeit als Glied der familiären, der staatlichen und
endlich der menschlichen Gesellschaft führt; durch diese
Ordnungen wird er dazu bestimmt, da er nicht erlangen kann, was
er will, das zu erstreben, was ihm an Vorteil zukommt; und das
ist, was man "gerecht" nennt."
Die Eigenart der jeweiligen Institutionen bestimmt die
gesellschaftliche Autorität des einzelnen. Die Institutionen legen
den jeweiligen Begriff von Eigeninteresse fest; insofern dient,
was er aus "besonderen Zwecken" tut, jeweils einem "weiteren
Ziel": dieser "Geist" (SN, Nr. 1108), der die "weiteren Ziele"
hat, ist aber nicht trans—zendent, sondern besteht eben in der
Intelligenz menschlicher Handelnder unter dem bestimmenden Einfluß
menschlicher Institutionen. Die Vorstellungen davon, was gerecht
und menschenwürdig ist, legen fest, welche neuen sozialen
Verhältnisse annehmbar sind - und sie sind selbst wieder von
früheren Institutionen bestimmt. Vico setzt voraus, dass die
Eigenliebe jedes einzelnen, verbunden mit der notwendigen
Ausbreitung seiner Interessen bereits genügt, um einen schließlich
allgemeinen Ausgleich der Interessen aller herzustellen. Die
verschiedenen Stadien der Gesellschaft in ihrer zeitlichen Abfolge
folgen dabei gewissermaßen zwangsläufig einem
historisch-soziologischen Gesetz.
Es gibt neben diesem veränderlichen "senso comune" aber auch einen
für alle Menschen aller Zeiten: weil es so etwas gibt, ist
historische Erkenntnis überhaupt möglich. Vico nennt in diesem
Zusammenhang die drei "ersten Grundzüge dieser Wissenschaft": die
Institutionen von
Religion;
Ehe;
Totenbestattung:
SN I, 3,
Nr.332: "Da nun die Welt der Völker von den Menschen gegründet
worden ist, so wollen wir zusehen, in welchen Dingen die
Menschen zu allen Zeiten übereingestimmt haben und immer noch
übereinstimmen; denn diese Dinge können uns die allgemeinen und
ewigen Grundlagen geben, deren jede Wissenschaft bedarf, auf
denen alle Völker entstanden sind und sich in staatlicher
Ordnung erhalten.
Nr. 333: Betrachten wir alle Völker, barbarische und
zivilisierte, durch ungeheure Abstände des Ortes und der Zeit
getrennte, auf verschiedene Art gegründete: so beobachten sie
alle folgende drei menschliche Sitten: sie haben alle irgend
eine Religion, sie schließen alle die Ehen in feierlicher Form;
sie begraben alle ihre Toten; und auch bei den wildesten und
rohesten Völkern gibt es keine menschlichen Handlungen, die mit
ausgesuchteren Zeremonien und mit strenger geheiligten Formen
begangen werden, als Religionsübungen, Ehen und Begräbnisse.
Darum muß wegen des Grundsatzes, daß gleiche Ideen, die bei
einander unbekannten Völkern allgemein entstehen, einen
gemeinsamen Untergrund an Wahrheit haben müssen, es für alle
gelten, daß von diesen drei Dingen bei ihnen allen die
menschliche Gesittung ausging,und daß sie darum von allen aufs
Heiligste bewahrt werden müssen, damit die Welt nicht von Neuem
verwildere und in den Urwaldzustand zurückfalle. Daher haben wir
diese drei ewigen und allgemeinen Gebräuche als die drei ersten
Prinzipien unserer Wissenschaft genommen."
Die allen gemeinsame Denkart besteht also zumindest in dem Glauben
an eine vorsehende Gottheit, die Notwendigkeit der geregelten
Erbfolge und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele.
Dafür sucht Vico nun den Beweis der Ausnahmslosigkeit zu führen.
Gewöhnlich tut er das in zwei Schritten: (1) es gibt keine
Ausnahmen und (2) es kann keine Ausnahmen geben. Wenn die drei
Grundzüge in allen Gesellschaften auftreten, so müssen sie
auftreten. Im Fall der Ehe z.B. zeigt er diese Notwendigkeit,
indem er auf die mangelnde Fürsorge für Nachkommen bei Eltern
hinweist, "die kein gesetzliches Band notwendig zusammenhält";
deren Kinder bleiben, "von beiden verlassen, dem Schicksal
ausgesetzt, von den Hunden gefressen zu werden..." (Nr. 336) Dem
liegt die Grundannahme von der Korruptheit des Menschen zugrunde,
der ohne Zwang nicht gerecht sein kann; diese wird nicht weiter
diskutiert.
Was mithin der Geschichte aller Völker gemeinsam ist, ist eine
Reihe von soziologischen Bedingungen und einige Merkmale der
Menschennatur, aufgrund deren die Gesellschaft funktioniert. Dabei
können die historischen Varianten von Gottesglaube, Ehe und
Unsterblichkeitsglaube sehr verschieden sein.
Neben dem "senso comune" ist die zweite Bedingung für den
konkreten Zustand einer Gesellschaft ihr "natürliches Recht":
SN I,2, Nr. 141:
"Der menschliche Wille, seiner Natur nach höchst schwankend,
festigt und bestimmt sich nach dem allen Menschen gemeinsamen
Sinn für das, was ihnen notwendig oder was ihnen nützlich ist:
welches die beiden Quellen sind des natürlichen Rechts der
Völker."
Es handelt sich jeweils um zwei Arten von Recht in einer
Gesellschaft:
(1) Das gesatzte Recht als Ergebnis legaler Mechanismen;
(2) Auffassungen davon, was richtig und gerecht ist.
Zweiteres kann die Quelle für Bewegungen zu Veränderungen von
Lebensformen und -bedingungen sein, ersteres nicht. Dieses
letztere meint Vico hier mit dem "natürlichen Recht".
Vico verknüpft das natürliche Recht mit den Sitten und betont,
dass beide der Natur der Völker entspringen. Allgemeine
Anschauungen über Recht und Gerechtigkeit sind nicht willkürlich,
sondern notwendige Konsequenzen der Glaubenssätze, Haltungen und
Denkweisen, die mit jeder institutionellen Rolle verbunden sind.
Sie sind also objektiv, insofern sie von jedem, der diese Rolle
teilt, als notwendig angesehen werden. Für alle anderen haben sie
nichts Zwingendes.
Diese These vertritt Vico gegenüber Naturrechtstheoretikern (wie
H. Grotius und Pufendorf), die ein einziges System natürlichen
Rechts für alle Menschen annehmen: sie machen einen Fehler in der
Voraussetzung, dass ein Rechtssystem, das in einem gegebenen
institutionellen System objektiv ist, diese Geltung in jedem
System haben müsse. Der Begriff der natürlichen Gerechtigkeit wird
von Vico also seinem Inhalt nach durch die gesellschaftliche
Organisation der jeweiligen Zeit bestimmt und erklärt: es handelt
sich um einen geschichtlich-gesellschaftlichen Begriff. Wenn also
geschichtlich Handelnde den oder jenen Aspekt ihrer Gesellschaft
verändern wollen, so wissen sie teilweise, was sie wollen. Sie
mögen subjektiv aus egoistischen Motiven handeln, am Ende wird
doch die für alle - unter den gegebenen Umständen - annehmbarste
Gesamtlösung resultieren.
Es gibt also eine zweifache Beziehung zwischen Institutionen und
natürlichem Recht: ein gegebenes institutionelles System macht
eine Lebensform möglich, die ihren Schöpfern gerecht erscheint.
Gleichzeitig schafft sie die Grundlage für jede neue Konzeption
von Gerechtigkeit, die sie ablösen soll. Dass historische
Veränderung stattfindet, liegt in der lasterhaften Natur des
Menschen begründet, die ihn zur Unzufriedenheit treibt.
Die Theorie der historischen Veränderung der menschlichen Natur
ist in der These von der sozialen Veränderung impliziert
SN,I,2, Nr. 147-148:
"Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen in
bestimmten Zeitläuften und unter bestimmten Umständen; jedesmal,
wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht
anders.
148: Die von den Gegenständen untrennbaren Eigenschaften
müssen erzeugt worden sein durch die Modifikation oder Art, mit
der die Dinge entstanden sind; daher können uns solche
Eigenschaften bezeugen, daß so und nicht anders Natur oder
Entstehung jener Dinge ist."
Diese Axiome drücken eine logisch sehr starke Relation zwischen
den Bedingungen, unter denen Institutionen entstehen, und ihrer
Natur aus: Zeitläufte und Modifikationen werden zuerst dargestellt
als die hinreichenden Bedingungen von Institutionen - denn immer
wenn "diese so sind", sind auch die Institutionen entsprechend so.
Aber es sind auch Institutionen hinreichende Bedingungen für
Zeitläufte und Modifikationen, denn aus den Eigenschaften ersterer
können die letzteren bezeugt werden. Daher sind "Zeitläufte und
Modifikationen" sowohl hinreichende wie notwendige Bedingungen,
und Institutionen sowohl hinreichende als auch notwendige
Bedingungen für Zeitläufte und Modifikationen; es handelt sich um
eine Relation gegenseitiger Implikation.
Die Schwierigkeit der Interpretation, die sich daraus ergibt, wird
von idealistischen Interpreten so gelöst, dass sie die Rolle eines
"Geistes" betonen, der dem objektiven Geist entspricht, den Hegel
annimmt. Vicos grundlegende erkenntnistheoretische Aussage in
diesem Zusammenhang ist, daß, da "diese historische Welt ganz
gewiß von den Menschen gemacht worden ist" ... "in den
Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre
Prinzipien aufgefunden werden" können. (SN, Nr. 331) Hierbei wird
allerdings kein Beispiel für einen Anwendungsfall gegeben. Ein
solches findet sich jedoch in Buch II/I/1:
SN Nr. 374:
"Von solchen ersten Menschen - also stumpfsinnigen, blöden und
schrecklichen Bestien - hätten alle Philosophen und Philologen
bei der Untersuchung der antiken Weisheit ausgehen müssen; von
den Giganten also, im eigentlichen Sinne des Wortes. ...
Nr. 375: Die poetische Weisheit, die die erste Weisheit des
Heidentums war, mußte mit einer Metaphysik beginnen, und zwar
nicht mit einer abstrakten und verstandesmäßigen, wie die der
Gelehrten, sondern einer sinnlich empfundenen und durch
Einbildungskraft vorgestellten, wie es solchen ersten Menschen
entspricht, die gar kein Nachdenken, aber ganz starke Sinne und
mächtige Phantasie besaßen."
Diese ersten Menschen hatten "starke Sinne und mächtige
Phantasie", aber wenig Intellekt. Setzt man assoziative Prinzipien
voraus, die die Phantasie lenken, so ergeben sich darauf Religion,
Sprache und andere Institutionen der Primitiven; diese erfüllen
bestimmte Bedürfnisse. Die "Zeit" bezeichnet also ein bestimmtes
Stadium der Entwicklung des Menschengeistes und der Institutionen.
Im "poetischen" Zeitalter wird alles sinnlich empfunden, die ganze
Natur wird als belebt aufgefasst und dies hat Rückwirkungen auf
die Institutionen. Zu einer andern "Zeit" wieder nehmen die
Fähigkeiten des Menschen - und damit seine Institutionen - einen
quasi-logischen Charakter an.
Durch die Einführung der "Zeit" als konstitutives Element der
Institutionen will Vico den Irrtum des begrifflichen Anachronismus
vermeiden, also die "Anmaßung der Gelehrten"; dieser Irrtum
entsprang der mißverstandenen Annahme, dass die Ideen und
Institutionen aller historischen Zeitalter Ausdruck einer festen
und in der Geschichte unveränderlichen menschlichen Natur seien.
Vicos Annahme, die "Zeit" sei konstitutiv, erlaubt den Begriff
einer Entwicklung der menschlichen Natur.
Das wird deutlich an seiner Kritik am Naturrecht, wie Pufendorf
und Grotius es vertreten haben: diese analysieren die
Voraussetzungen des Denkens in ihrer verhältnismäßig rational
strukturierten Zeit und behaupten, dieselben Bedingungen hätten
immer gegolten. Das meint Vico, wenn er vom "Naturrecht der
Philosophen" spricht und darunter den Glauben versteht, "daß die
natürliche Rechtsauffassung in ihrer höchsten Vollendung den
heidnischen Nationen seit ihren ersten Anfängen verständlich
gewesen sei..." (SN, Nr. 329)
Dem entgegen behauptet Vico, dass die Fähigkeit, abstrakt zu
denken, selbst ein historisches Produkt sei, eine "Modifikation"
des Menschengeistes zu bestimmten, aber nicht zu allen Zeiten.
Stellen nun die durch Institutionen und Bewußtsein gegenseitig
bedingten Veränderungen insgesamt eine Fortschritt, eine
Entwicklung dar? Diese Frage ist an Hand von Vicos Begriff der
"Vorsehung" zu untersuchen.
Die Schwierigkeit liegt darin: Vico behauptet, die Geschichte
werde von Menschen gemacht und gleichzeitig, sie sei das Werk der
Vorsehung. Wie ist das verträglich?
Wir haben drei Begriffe zu unterscheiden, die mit dem Ausdruck
"Vorsehung" (providenza) bezeichnet werden:
a) historisch wirksame Vorsehung
b) geschichtsimmanente Vorsehung und
c) transzendente Vorsehung.
Der mit a) angesprochene Begriff von "Vorsehung" hat Bedeutung für
die Geistesgeschichte: es handelt sich um den Glauben, dass Gott
in die Geschichte eingreift bzw. in ihr wirkt. Diese Glaube ist
nach Vico grundlegend, er gehört zu den drei Prinzipien. Dieser
Glaube selbst soll aber ein Werk der "Vorsehung" sein:
SN Nr.132-133, vgl. oben
Hier wird ein Argument in vier Schritten entwickelt:
(1) Die Menschen sind von Natur lasterhaft und wenn ihr Verhalten
nur von ihrer individuellen Natur kontrolliert würde, so würden
sie einander vernichten.
(2) Durch ihr Handeln innerhalb eines gesetzlichen Zusammenhanges
indessen bilden sie bürgerliche Ordnungen, in denen ihre
individuellen Laster auf natürliche Weise zu einem glücklichen
gesellschaftlichen Leben aller beitragen.
(3) Diese Tatsachen beweisen, dass es Kräfte gibt, die zum Wohl
der Menschen arbeiten und die von dessen eigener Natur verschieden
sind, dh. dass es göttliche Vorsehung gibt.
(4) Dies wiederum beweist die Existenz eines "göttlichen
gesetzgebenden Geistes".
Wichtig ist hier der Schritt von (3) zu (4):
in (3) wird "Vorsehung" mit bestimmten gesellschaftlichen
Strukturen identifiziert und ist daher immanent;
in (4) wird "Vorsehung" zum Geist und damit transzendent.
Der immanente Vorsehungsbegriff macht dann keine theoretische
Schwierigkeit, wenn er nur als ein anderer Ausdruck für die
Gesellschaftsnatur des Menschen gesehen werden kann.
Die transzendente "Vorsehung" indessen kann nicht als grundlegend
für die These der SN angesehen werden; sie ist vielmehr aus der
immanenten "Vorsehung" hergeleitet. Letztere aber ist mit dem
"senso comune" selbst zu identifizieren. (Vgl. SN II, 5, Nr. 630:
die "Vorsehung" wirkt auf ganz natürliche Weise).
Es bleibt eine offene Frage, ob Vico den naturalistischen
Charakter seiner Theorie selbst deutlich erkannt und etwa durch
sein häufiges Betonen der Rolle der "Vorsehung" zu verdecken
gesucht hat, oder ob etwa seine christliche Überzeugung ihn
hinderte, zu sehen, dass es sich bei seiner Rede von der
"Vorsehung" tatsächlich nur um leere Behauptungen handelte.
Gegen Vicos Auffassung vom Verhältnis zwischen den Handlungen
einzelner Menschen und dem Geschichtsablauf können verschiedene
Einwände vorgebracht werden:
Einwand 1: Vico denkt, dass der Mensch einen freien Willen hat.
Insofern also seine Handlungen ein willkürliches Element
beinhalten, gibt es darüber keine echte Wissenschaft. Andererseits
ist der Geschichtsverlauf durch historische und soziologische
Bedingungen nichtpersonaler Art bestimmt. Das scheint nicht
vereinbar.
Antwort: Vico bezieht sich mit letzterer Aussage nur auf
Institutionengeschichte. Seiner Auffassung nach ist das
individuelle Handeln nicht gleichgültig für Erklärungen in der
Geschichte überhaupt, wohl aber für die Erklärung von
Institutionengeschichte.
Einwand 2: Wenn man von gesellschaftlichen Zwecken oder
Zielsetzungen spricht, so meint man doch auch Zwecke von
einzelnen.
Antwort: Es ist richtig, dass gesellschaftliche Ziele (nur) von
Individuen vertreten werden. Aber was die Erklärung historischer
Ereignisse angeht, so darf man nicht das rein Individuelle daran
betrachten, sondern muss die gesellschaftliche Stellung,
Verflochtenheit, Wirksamkeit des einzelnen sehen. Will man die
rassenpolitischen Maßnahmen erklären, die Hitler befohlen hat, so
reicht es nicht hin, bloß seine persönlichen Eigenschaften und
Auffassungen zu schildern.
Einwand 3: Es kommt alles darauf an, ob derjenige, der eine
bestimmte Rolle in einer Gesellschaft spielt, intelligent oder
borniert, optimistisch oder pessimistisch etc. ist. Ist es nicht
richtig, dass der Zweite Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre, hätte
es nicht an entscheidender Stelle so jemanden wie Hitler gegeben?
Dabei muss nicht vorausgesetzt werden, dass die Handlungen Hitlers
die einzige oder die entscheidende Kriegsursache waren. Er konnte
nur unter den gegebenen Verhältnissen (der ökonomischen und
sozialen Situation in Deutschland, dem Antikommunismus etc.) dies
bewirken. Aber diese Verhältnisse waren doch nicht hinreichend: es
mußte jemand da sein von Hitlers Fanatismus. Das Auftreten eines
solchen Individuums aber ist letztlich zufällig, mindestens nicht
durch solche Faktoren bewirkt wie Vico sie anführt. Deshalb können
die Entscheidungen von Individuen bei der Erklärung
geschichtlicher Prozesse nicht außer acht gelassen werden.
Antwort:
a) Zum Teil hätte Vico den Einwand wohl akzeptiert. Er leugnet
nicht, dass die individuellen Fähigkeiten von einflußreichen
Einzelnen wichtig sind. Er bewundert den Augustus und stellt fest,
der Untergang Roms hätte sich schon früher abgespielt, wenn
Augustus nicht gewesen wäre. Vgl. SN, Nr. 1102-03. Jedoch meint
er, der Untergang wurde eben nur zeitweise aufgehalten, da seine
Ursache in Bedingungen gelegen sei, die zu elementar waren, um von
den Entscheidungen eines einzelnen berührt zu werden.
b) Der Einwand übersieht: es ist irreführend, wenn man annimmt,
die Handlungen irgend eines Individuums wären als solche schon
folgenreich. Z.B. muss jeder Herrscher Unterstützung haben. Hitler
handelt nicht isoliert oder im Gegensatz zu ganz Deutschland:
seine Politik wird geduldet oder unterstützt von hinreichend
vielen Menschen, um folgenreich zu sein. Also ist das Echo das
eigentlich Entscheidende, das jemand in bestimmter -
zeitlich-räumlicher - Umgebung findet. Nicht zu jeder Zeit werden
dieselben Typen groß. Vgl. dazu SN Nr. 243.
Einwand 4: Bei Vico ist nur von institutionalisiertem Geschehen
die Rede, als ob nur institutionelle Prozesse geschichtlich
genannt werden könnten. Tatsächlich aber beweist jede Biographie,
das dies nicht zutrifft.
Antwort: Um eine Biographie zu verstehen, ist die Kenntnis der
Bräuche, Gewohnheiten und Lebensbedingungen notwendig, sonst
bleiben die Entschlüsse und Handlungen des einzelnen ganz
unverständlich.
Diese Erläuterungen verweisen auf eine begriffliche
Unterscheidung, die Vico auch in terminologischer Weise trifft,
wenn er zwischen Wissen und Bewußtsein, zwischen Wahrem und
Gewissem und zwischen Philosophie und Philologie trennt.
SN I, 2, Nr. 137:
"Die Menschen, die das Wahre über die Dinge nicht kennen,
sorgen, sich an das Gewisse zu halten; damit, wenn sie dem
Verstand nicht genug tun können durch die Wissenschaft, zu
mindest der Wille sich stütze auf das Bewußtsein."
Wahres gehört zur Wissenschaft, hingegen ist Gewisses, auch
Bewußtsein, nur ein Surrogat dafür. In Element XXII schließt er
sich an die aristotelische Festsetzung an: die Wissenschaft
handelt vom Allgemeinen und Ewigen. Gewiß hingegen wäre, was in
richtiger Weise vom Besonderen und Vergänglichen handelt.
Tatsächlich findet sich in Element CXI der Hinweis: "certum" heiße
in gutem Latein "auf den Einzelfall bezogen" oder, wie die Schulen
sagen, "individuatum".
Diese Interpretation von "il vero" und "il certo" wird auch durch
die Unterscheidung zwischen "Philosophie" und "Philologie"
gestützt:
SN I, 2, Nr. 138:
"Die Philosophie betrachtet die Vernunft, und daraus entsteht
die Wissenschaft des Wahren; die Philologie beobachtet, was die
menschliche Willkür als Gesetz aufgestellt hat, und daraus
entsteht das Bewußtsein von dem, was gewiß ist."
"Philolog" heißt hier ziemlich genau, wer heute "Historiker"
heißt. nur in gegenseitiger Kritik und Anregung von "Philologen"
und "Philosophen" liegt beider Nutzen.
SN IV, Einl., Nr. 915:
"... wollen wir nun ... entsprechend unseren Grundsätzen über
die ewige, ideale Geschichte, in diesem vierten Buch hinzufügen
den Lauf, den die Völker nehmen, indem wir mit beständiger
Gleichförmigkeit bei all ihren mannigfaltigen und so sehr
verschiedenartigen Sitten verfahren nach der Einteilung in die
drei Zeitalter der Ägypter: die Zeitalter der Götter, der Heroen
und der Menschen; denn nach dieser Einteilung sehen wir die
Völker sich entwickeln in beständiger und niemals unterbrochener
Ordnung von Ursachen und Wirkungen; und zwar geht diese Ordnung
durch drei Arten von Naturen; aus ihnen entstehen drei Arten von
Sitten; in diesen beobachtet man drei Arten von natürlichem
Recht; aus solchem Recht ergeben sich drei Arten von politischen
Verfassungen oder Republiken; und damit die zur menschlichen
Gesellschaft gelangten Menschen sich diese drei Arten von
wichtigsten Dingen gegenseitig mitteilen konnten, bildeten sich
drei Arten von Sprachen und ebensoviele von Charakteren; um sie
zu rechtfertigen, drei Arten von Rechtswissenschaft, unterstützt
von drei Arten von Autorität und von Rechtsauffassung, in drei
Arten von Gerichten...
Vico sieht in der Geschichte eine dialektische Struktur der
Entwicklung des menschlichen Wissens, die als spiralförmige
Wiederkehr von Aufstiegen und Abstiegen ("corsi e ricorsi")
vorgestellt wird. Jeweisl verlaufen diese auf einander aufbauenden
Zyklen von einem bestialischen zu einem zivilisierten Zustand,
wobei aber das vorige Stadium nicht gänzlich ausgelöscht wird. Er
sieht den klaren Fall dieses Verlaufs in der "Wiederkehr"
primitiver Zustände nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches.