Universität Wien

Wimmer: Vorlesung WS 2012/13

180054 VO-L Interkulturelle Philosophie - Einführung in die Hauptthemen

6. und 7. Einheit: 21. und 28. November
a) Wiederholung und Anschluss an vorige Vorlesungen, Besprechung von Fragen

b) THEMA:
Entstehungsbedingungen von Philosophien
Verbreitung, Übernahme und "Wanderungen" von Philosophie

Adam-Hypothese
| Griechischer Ursprung | Mehrfache Ursprünge | Wissenschaftssoziologie | Übernahmen und Wanderungen

"Adam-Hypothese" oder "Vorsintflutliche Philosophie":

Verbreitet ist in der frühen Neuzeit die Tendenz, zusammen mit einer biblisch inspirierten Weltgeschichte, auch die Geschichte der Weisheit oder der Philosophie auf den Beginn der Menschheitsgeschichte (im Paradies) zurückzuführen.

Als Vertreter einer Richtung der Philosophiehistorie, die sehr stark an der Bibel orientiert ist und im Lauf des 17. Jahrhunderts bemerkenswert einflußreich war, kann Paul(us) Bolduan(us) stehen, der 1616 seine "Bibliotheca philosophica" herausbringt. In der "epistula dedicatoria" findet sich da eine überraschende Geschichte: Adam und Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie Gott lobpreisten und theoretische Untersuchungen über die Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des ersten Meisters, habe somit das "specimen philosophicum" begründet und Eva war seine erste Schülerin. Von Generation zu Generation wurde diese Urweisheit weitergegeben, und noch Noah habe in der Arche seine Söhne gelehrt; später folgten die Schulen des Abraham und des Moses, wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium", also eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"), die bis zur Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten werden als Philosophen betrachtet, und während des Exils der Juden in Babylon habe sich ihre Weisheit auch unter den Orientalen verbreitet, sei nach Persien gelangt, von wo dann die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst sei dann der wahre Meister gewesen, habe sich auch als solcher deklariert (Math. 23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern. Dieser heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber ist die profane Weisheit der Griechen und anderer Völker sekundär.
(Vgl.
Paulus Bolduanus: Bibliotheca philosophica (etc.). Lipsiae: Th. Schureri, 1616.)

Eine vergleichbare Weise des Zugangs zu den überlieferten Thesen der Philosophie entwickelt später die Schule von Cambridge. Theophilus Gale (1628 - 1678) mit seiner "Philosophia generalis" (1676) ist einer ihrer Vertreter. Darin wird der Leitgedanke entwickelt, daß alle Philosophen aus ein und derselben Quelle geschöpft hätten, nämlich aus der Offenbarung. In erster Linie sei also unter den Philosophen Moses zu nennen, aber auch die orientalischen und griechischen Philosophen werden auf diese Quelle zurückgeführt. Die Philosophie der Hebräer erscheint als die "philosophia prima". Abraham, Moses, Salomon und Hiob sind ihre bedeutendsten Vertreter. Unter den Griechen stehe Platon der Bibel am nächsten, und Gale greift hier einen Topos von neuem auf, der sich schon bei Philon und Clemens von Alexandrien findet: Platon sei ein indirekter Schüler des Moses und der Bibel.


Noch in der Schule von Christian Wolff scheint die Adam-Noah-Hypothese plausibel, wenn etwa Gottsched 1734 ausführt:
... nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist... Weil diese Meinung in Deutschland nicht sehr bekannt ist, so will ich doch einige Gründe derselben anführen.  ... sind auch die Lehren der Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit bekannt gewesen, als in China. Ihre Geschichte sind weit richtiger, ihre politische Regierungsforme weit dauerhafter und ordentlicher gewesen, als der anderer Völker ihre: welches ohne Zweifel der grössern Weisheit des Noah, vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist. Und zuletzt, sagen die Chineser, daß ihr FOHI in der nordwestlichen Provinz Xensi gewohnt habe; von welcher Gegend er nothwendig gekommen seyn muß, als er in Armenien oder Mesopotamia, aus dem Kasten gegangen, und allmählich nach China gezogen. ... Was ... der Chineser ihren aufgeklärten und geläuterten Verstand am besten darthut, ist, daß sie die meisten künstlichen Erfindungen der Europäer, eher als wir gehabt haben: z.E. die Magnetnadel, das Schießpulver, die Buchdruckerkunst, ja so gar den Kreislauf des Geblütes sollen sie eher gewußt und gebrauchet haben, als wir alle ...  Nun kann es wohl seyn, daß die heutigen Chineser es in den theoretischen Wissenschaften den Europäern nicht gleich thun ... ((Mängel in: Zeichnen, Malen, Bauen; Sternkunde; Naturkunde; Art zu schreiben)) Wie aber daraus nicht folget, daß China gar nicht philosophire; also folget noch weniger, daß sie vormals keine Weltweisen gehabt. Von ihren Nachbarn, den Japonesern, ist eben das zu sagen. 
(Zitiert nach: Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit etc. 6. Aufl. Leipzig: Breitkopf, 1756, S. 7-12)

Um diese Zeit wird allerdings ein skeptisches Argument dagegen entwickelt, das sich durchsetzt und die Frage nach einer (vorschriftlichen) Philosophie für lange Zeit zum Verschwinden bringt: Jakob Brucker, der das philosophiehistorische Standardwerk der Aufklärung verfasst,
(Historia Critica Philosophiae a Mundi Incunabilis, ad Nostram usque Aetatem Deducta. Vol. I-V. Lipsiae: Breitkopf, 1742 - 44) schreibt darin und in anderen seiner Werke, dass der biblische Text schlicht nicht ausreiche, um Adam als Philosophen zu bezeichnen, sondern höchstens als Seher oder Propheten (vatis). Man dürfe die Kenntnisse, die Adam und seinen Söhnen zugeschrieben werden, nicht mit der Philosophie verwechseln:
... si rudem quandam et empiricam rerum ad felicitatem facientium notitiam Adamo et filiis eius vindicare placet, illa tamen com scientia philosophica confundenda haud est.
(
Jakob Brucker: Institutiones Historiae Philosophicae Usui Academicae Iuventutis Adornatae. 2. Aufl. Lipsiae: Bernh. Christoph Breitkopf, 1756, S. 17)
Diderot, dessen philosophiehistorische Beiträge zur Encyclopédie sich stark auf Brucker stützen, verwirft die Adam-Hypothese in einem Aufwaschen mit einer anderen These zum Ursprung der Philosophie, die ihm noch absurder erscheint:
Einige von denen, die den Ursprung der Philosophie zu ergründen suchen, machen nicht bei dem ersten Menschen halt, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, sondern schwingen sich zum Himmel auf, als ob die Erde keine Stätte wäre, die ihres Ursprungs würdig wäre. Sie suchen die Philosophie bei den Engeln, wo sie sie uns in ihrem vollen Glanz zeigen. ... Ich versage mir das Vergnügen, hier zu beweisen, wie kläglich alle diese Gedankengänge sind, durch die man darlegen will, daß die Engel und die Teufel Philosophen, ja sogar große Philosophen seien. Lassen wir diese Philosophie der Bewohner des Himmels und der Unterwelt auf sich beruhen; sie ist uns zu hoch. Sprechen wir von der Philosophie, die den Menschen eigentlich zukommt und für die wir zuständig sind.
("Artikel aus Diderots Enzyklopädie" Hg.: Manfred Naumann. Leipzig: Reclam, 1984, Art. "Antediluvienne", S. 77-79)

Einen zeitgenössischen österreichischen Jesuiten scheint das bruckersche Argument noch nicht überzeugt zu haben:
Ortum Philosophiae suum ad mundi exordium refert, & primum hominem, primum sui cultorem censet ... Et certe sine sapientia fieri non potuisse vel Plato (in Cratylo) existimavit, ut omne, quod vocavit Adam, animae viventis, ipsum sit nomen ejus (Genes. Cap. II, v.19)
(Michael Klaus: Brevis introductio in philosophiam comprehendens tum doctrinam tum historiam philosophiae. Viennae: Trattner, 1757, S. 19)
wogegen eine Generation später der Grazer Theologe Gmainer, kirchenpolitisch ein Vertreter des Josephinismus, einschränkend schreibt:
In Rücksicht nun des historischen Ursprunges der Weltweisheit machen viele unsern Stammvater Adam zum Urheber derselben, und beruffen sich deshalb auf die Erzählung des Moses, allein es ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob man in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas Zuverläßiges schöpfen könne. Da ... aus der Erzählung Mosis sich nicht schließen läßt, daß Adam eine solche Fertigkeit gehabt habe, so ist bei den ersten Menschen keine Philosophie im strengen Verstande zu suchen. ... Indessen kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch würde man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man nicht zugeben wollte, daß sie ein undeutliches Kenntniß der ersten Grundwahrheiten hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in dieselben zeigt sich nicht die geringste Spur. (I, 16-18)
(Franz Xaver Gmeiner: Litterärgeschichte des Ursprungs und Fortgangs der Philosophie, Bd. I, II. Grätz, 1788-89.)
Bei Gmeiner wird das also abgelehnt, aber immerhin noch diskutiert; später kommt die Frage überhaupt nicht mehr vor.

Erst im 20. Jahrhundert taucht die Frage in veränderter Form wieder auf: als Frage nach philosophischem Denken in oralen Traditionen, nach sog. "Ethnophilosophie" usw.

Vgl. dazu den Vortrag von Elmar Holenstein: "Anfänge der Philosophie (Radiovortrag)." In Philosophische Brocken (Radio Orange) 2003. Als Download in der Audiothek

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Der (einzige) griechische Ursprung: Standardauffassung in der Mehrzahl der Darstellungen ab ca 1750

Die Griechen haben zu erst die Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen, und zu philosophiren angefangen...
(Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Bd. I. Halle, 1715, S. 290
Das war nicht ganz selbstverständlich und Brucker (s.o.) hat immerhin noch in den 1740er Jahren die Frage gestellt, die man bei späteren Philosophiehistorikern und Philosophen oft auch nur als neugierige Nachfrage vergeblich sucht, wie es denn mit der Philosophie in anderen Weltteilen (einschließlich Afrikas und dem präkolumbischen Amerika) bestellt sei - deren Bewohner seien "von Natur" doch "nicht weniger ungeeignet" dafür als die Europäer:
Restant reliquarum terrae partium incolae, natura ad philosophiam non magis inepti quam Europaei ...
Aber sie sind insgesamt und seit jeher zu sehr der Religion verhaftet:
Idem vero, quod olim, hodie apud has gentes obtinet, ut religio cum philosophia arctissimo vinculo haereat ...
weshalb er nur das Wenige der Traditionen Asiens, wovon eine gewisse Kenntnis da sei, als "barbarische", doch immerhin als "Philosophie" beschreibt. Die Nachfrage in Afrika und Amerika habe leider gar nichts erbracht -
In Africa enim et America tam detestabilis vbique superstitio regnat, vt non modo philosophiam omnem, sed et vsum rationis eiurasse videantur.
(Jakob Brucker: Institutiones Historiae Philosophicae ed. cit., S. 849, 850, 884)
Den Beginn der Philosophie mit der griechischen Philosophie gleichzusetzen, braucht im weiteren Verlauf der Philosophiehistorie meist keine besondere Argumentation oder Begründung mehr. Beispiele dafür wären Legion.

Aber nicht immer wird das selbstverständlich angenommen. Hegels "Abscheiden des Orients" in seiner Vorlesung (ca 1830) ist sorgfältig argumentiert und mit einem verhältnismäßig genauen Referat chinesischer und indischer Philosophie verbunden. Erst dann gelangt er zum Ergebnis:

S. 92: Der eigentliche Anfang der Philosophie ist da zu machen, wo das Absolute nicht als Vorstellung mehr ist, sondern der freie Gedanken - nicht bloß das Absolute denkt - die Idee desselben erfaßt...
Die Gesetzgebung, der ganze Zustand des Volkes hat seinen Grund allein im Begriffe, den der Geist sich von sich macht, in den Kategorien, die er hat. Sagen wir, zum Hervortreten der Philosophie gehört Bewußtsein der Freiheit, so muß dem Volke, wo Philosophie beginnt, dies Prinzip zugrunde liegen; nach der praktischen Seite hängt damit zusammen, daß wirkliche Freiheit, politische Freiheit aufblühe...
93: In der Geschichte tritt daher die Philosophie nur da auf, wo und insofern freie Verfassungen sich bilden. Der Geist muß sich trennen von seinem natürlichen Wollen, Versenktsein in den Stoff. Die Gestalt, mit der der Weltgeist anfängt, die der Stufe jener Trennung vorausgeht, ist die Stufe der Einheit des Geistes mit der Natur, welche, als unmittelbar, nicht das Wahrhafte ist. Das ist das orientalische Wesen überhaupt; die Philosophie beginnt in der griechischen Welt.
Dies ermöglicht und erzwingt das "Abscheiden des Orients und seiner Philosophie"
95: Der Geist geht wohl im Orient auf, aber das Verhältnis ist noch ein solches, daß das Subjekt nicht als Person ist, sondern im objektiven Substantiellen (welches teils übersinnlich, teils auch wohl mehr materiell vorgestellt wird) als negativ und untergehend erscheint. Das Höchste, zu dem die Individualität kommen kann, die ewige Seligkeit, wird vorgestellt als ein Versenktsein in die Substanz, ein Vergehen des Bewußtseins und so des Unterschiedes zwischen Substanz und Individualität, mithin Vernichtung. Es findet mithin ein geistloses Verhältnis statt, insofern das Höchste des Verhältnisses die Bewußtlosigkeit ist.
95: So unbestimmt die Substanz der Orientalen ist, so unbestimmt, frei, unabhängig kann auch der Charakter sein. Was für uns Rechtlichkeit, Sittlichkeit, ist dort im Staate auch - auf substantielle, natürliche, patriarchalische Weise, nicht in subjektiver Freiheit. Es existiert nicht das Gewissen, nicht die Moral; es ist nur Naturordnung, die mit dem Schlechtesten auch den höchsten Adel bestehen läßt. Die Folge davon ist, daß hier kein philosophisches Erkennen stattfinden kann.
96: Das Orientalische ist so aus der Geschichte der Philosophie auszuschließen; im ganzen aber will ich doch davon einige Notizen geben, besonders über das Indische und Chinesische. Ich habe dies sonst übergangen; denn man ist erst seit einiger Zeit in den Stand gesetzt, darüber zu urteilen. Man hat früher großes Aufsehen von der indischen Weisheit gemacht, ohne zu wissen, was daran ist; erst jetzt weiß man dies, und es fällt natürlich dem allgemeinen Charakter gemäß aus.
Und somit steht für Hegel fest:
96: Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft.
(Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zitierte Texte aus: Irrlitz, Gerd und Karin Gurst (Hg.): Bd. 1. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1982)

So viel Mühe macht sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum ein Autor mehr. Friedrich Kirchner schreibt:
Von Philosophieren kann erst bei den Hellenen die Rede sein. Dieses hochbegabte, unter glücklichem Himmel im günstigsten Lande wohnende Volk hat zuerst eine Ahnung von der Würde und Aufgabe des Menschengeistes gehabt.
Der Orient, von geknechteten, unmündigen, phantastischen Volksherden bewohnt, konnte nur Religionssysteme, keine Philosophie hervorbringen. Was von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist Fabel oder Mißverständnis. Die Juden waren ohne philosophische Anlage. Zoroasters Zend-Avesta enthält neben der dualistischen Idee nur religiöse und physikalische Lehren, was darin Philosophisches ist, stammt von späteren, griechischen Einflüssen her. Von der bei den Griechen viel gerühmten ägyptischen Weisheit wissen wir heute nicht mehr als damals, denn sie gehört ins Reich der Sage. Kongfutse und Laotse haben den Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische Mythologie über Himmel und Erde gebracht. Ja, selbst die höchste dieser orientalischen Spekulationen, die indische, bietet unter grotesken, oft abenteuerlichen Sagen nur den einen großen Gedanken, daß alles aus der einen Naturkraft hervorgehe und in dieselbe zurückkehre ... Aber hier, wie bei allen orientalischen Urkunden, macht die Unsicherheit der Zeitbestimmung jede genauere Angabe unmöglich. 
(Friedrich Kirchner: Geschichte der Philosophie von Thales bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig: Weber, 1896, S. 13f)

Und auch im 20. Jahrhundert konnten Schüler auf der ganzen Welt ziemlich sicher sein, dass die richtige Antwort auf die Frage nach dem ersten Philosophen "Thales" laute. Sie konnten es beispielsweise von Russell erfahren:

Die Philosophie wie auch die exakte Wissenschaft beginnt dann, wenn jemand eine allgemeine Frage stellt. Das erste Volk, das eine solche Wißbegier zeigte, war das griechische. Die Philosophie und die exakte Wissenschaft, wie wir sie heute auffassen, sind griechische Entdeckungen. ... Weder vorher noch nachher geschah etwas Ähnliches. ...
Die Philosophie und die exakte Wissenschaft begann mit Thales von Milet im 6. Jahrhundert vor Chr.
(Russell, Bertrand: Denker des Abendlandes. Eine allgemeinverständliche Geschichte der Philosophie. Stuttgart: Belser. 1962, S. 10)

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Mehrere Ursprünge

Asiens Philosophietraditionen sind aus dem europäischen Bewusstsein nie ganz verschwunden. Insbesondere die Zeit der Romantik (z.B. mit  Friedrich Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte. Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1808) und der Entdeckung der Sprachverwandtschaft zwischen dem Sanskrit und westlichen Sprachen brachte zeitweise die Idee einer "zweiten Renaissance" (nämlich eines Anknüpfens an indisches Denkens) mit sich.
So schreibt Bachmann, ein Zeitgenosse Schlegels über eine Weltgeschichte der Philosophie:
... ob man nämlich auch die orientalischen Völker, die Indier, Perser etc. in dieselbe aufnehmen, oder gleich bey den Griechen anheben solle. ... Die Entscheidung der Frage beruht auf der Ansicht der Philosophie.
Wenn Philosophie als Wissenschaft verstanden werde, dann müsse man mit den Griechen beginnen; wenn aber auch "Vernunft und Gemüt" als Quellen gelten sollen, so verdienen die "orientalischen Völker"
allerdings einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Philosophie, wovon sie niemand ohne großes Unrecht vertreiben kann.
Es sei dann aber eine Unterscheidung zwischen Mythen und Philosophie nötig:
denn die mythologischen Dichtungen derselben sind eine in das Gewand der Poesie gekleidete Sammlung nationeller Sagen, Begriffe und Meynungen, die Lehren ihrer Weisen hingegen sind Resultate ihrer Forschungen über das Wesen der Gottheit und der Dinge.
(Carl Friedrich Bachmann: Über Philosophie und ihre Geschichte. Drei academische Vorlesungen. Jena: Crökersche Buchhandlung, 1811, S. 74, 76)

Und
Peithner von Lichtenfels, ein österreichischer Autor des Vormärz, ist sogar
... der unmaßgeblichen Meinung, daß die Philosophie ihre Geschichte nicht erst von der späteren Periode der mehr wissenschaftlichen Forschungen griechischer Philosophen, namentlich des Thales, sondern schon von den ältesten Philosophemen der orientalischen Völker her datire, wenn gleich an diesen die Fantasie mehr Antheil haben mag, als der Verstand; zumal, da sich aus der Vergleichung beider ergibt, daß nicht nur die Griechen von den Morgenländern gelernt haben, sondern auch, daß diese zuweilen richtiger ahneten (z.B. die Perser) als jene lehrten (z.B. die Atomisten).
Er setzt sich in diesem Punkt mit drei "gewöhnlichen Einwürfen" gegen diese Ansicht auseinander:
Einwurf 1.
"Die orientalischen Philosopheme nahmen den Charakter positiver Dogmen an; sie gehören also nicht in die Geschichte der reinen Vernunftwissenschaft." - Ursprünglich wenigstens waren sie keine positiven Dogmen. Übrigens grenzte der Dogmaticismus schon so mancher philosophischen Schule gleichfalls ziemlich nahe an´s Positive.
Einwurf 2.
"Sie haben keinen philosophischen Charakter; denn die Fantasie herrscht darin vor." - Der Form nach freilich nicht; aber der Materie nach oft mehr, als so manches philosophische System.
Einwurf 3.
"Sie hatten nie einen günstigen, wohl aber oft einen nachtheiligen Einfluß auf die Fortbildung der Philosophie." - Auch was nachtheiligen Einfluß hatte, muß erwähnt werden; sonst müßte man manches philosophische System übergehen. Übrigens hatten jene in der That oft auch günstigen Einfluß, z.B. auf Anaxagoras, Pythagoras, Platon, u.s.w.
(Johann Peithner von Lichtenfels: Auszug des Wissenswürdigsten aus der Geschichte der Philosophie. Wien: J. G. Heubner, 1836, S. 2f)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert sich, vom britischen Indien ausgehend, komparative Philosophie, die zumindest einige große Traditionen Asiens in einen Vergleich mit okzidentalen zu bringen sucht. Ebenso entwickelt marxistische Philosophiehistorie prinzipiell internationale Sichtweisen. Um die Mitte dieses Jahrhunderts formuliert Karl Jaspers seine These von der Achsenzeit, die er ca 800-200v in Eurasien annimmt:

In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, - in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, - in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, - in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, - Griechenland sah Homer, die Philosophen - Parmenides, Heraklit, Plato - und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten.
Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. ...
Es erwuchsen geistige Kämpfe mit den Versuchen, den andern zu überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen, Erfahrungen. ...
In diesem Chaos wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale getan.
Durch diesen Prozeß wurden die bis dahin unbewußt geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit die überlieferte Substanz noch lebendig und wirklich war, wurde sie in ihren Erscheinungen erhellt und damit verwandelt.
Das mythische Zeitalter war in seiner Ruhe und Selbstverständlichkeit zu Ende. Die griechischen, indischen, chinesischen Philosophen und Buddha waren in ihren entscheidenden Einsichten, die Propheten in ihrem Gottesgedanken unmythisch. Es begann der Kampf gegen den Mythos von seiten der Rationalität und der rational geklärten Erfahrung (der Logos gegen den Mythos), - weiter der Kampf um die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen, die es nicht gibt, - und der Kampf gegen die unwahren Göttergestalten aus ethischer Empörung gegen sie. ...
Diese gesamte Veränderung des Menschseins kann man Vergeistigung nennen. ... Der Mensch ist nicht mehr in sich geschlossen. Er ist sich selbst ungewiß, damit aufgeschlossen für neue, grenzenlose Möglichkeiten. ...
Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind. ...
(Jaspers, Karl: Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt/M.: Fischer 1956 (zuerst: 1949), S. 14-16)


Zwei Buchtitel Ende der 1980er Jahre belegen, dass die These vom einzigen (griechischen) Ursprung nicht mehr weiter als selbstverständlich angenommen werden kann:
Ralf Moritz, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann (Hg.): Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Berlin: Akademie-Verlag, 1988.
Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa. Bonn: Bouvier, 1989.

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Moderne Wissenschaftssoziologie

Besprochen wird:
Randall Collins: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Pr., 2000. Im Internet

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"Wanderungen - Verbreitungen, Übernahmen, Renaissancen"

Besprochen wird:
Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens. Zürich: Ammann Verlag, 2004. Verlagsinfo

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Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien: WUV, 2004


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Überblick der Vorlesung

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Erstellt: Herbst 2012 mit Ergänzungen im WiSe 2012