Wimmer: Vorlesung WS 2012/13
180054 VO-L
Interkulturelle Philosophie - Einführung in die Hauptthemen
6. und 7. Einheit: 21.
und 28. November
a) Wiederholung und Anschluss
an vorige Vorlesungen, Besprechung von Fragen
b) THEMA: Entstehungsbedingungen
von Philosophien
Verbreitung, Übernahme und "Wanderungen" von Philosophie
Adam-Hypothese | Griechischer Ursprung | Mehrfache Ursprünge | Wissenschaftssoziologie
| Übernahmen und Wanderungen
"Adam-Hypothese" oder "Vorsintflutliche
Philosophie":
Verbreitet ist in der frühen Neuzeit
die Tendenz, zusammen mit einer biblisch inspirierten
Weltgeschichte, auch die Geschichte der Weisheit oder der
Philosophie auf den Beginn der Menschheitsgeschichte (im
Paradies) zurückzuführen.
Als Vertreter einer Richtung der Philosophiehistorie, die sehr
stark an der Bibel orientiert ist und im Lauf des 17.
Jahrhunderts bemerkenswert einflußreich war, kann
Paul(us) Bolduan(us) stehen, der 1616 seine "Bibliotheca
philosophica" herausbringt. In der "epistula dedicatoria"
findet sich da eine überraschende Geschichte: Adam und
Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie
Gott lobpreisten und theoretische Untersuchungen über die
Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des
ersten Meisters, habe somit das "specimen philosophicum"
begründet und Eva war seine erste Schülerin. Von
Generation zu Generation wurde diese Urweisheit weitergegeben,
und noch Noah habe in der Arche seine Söhne gelehrt;
später folgten die Schulen des Abraham und des Moses,
wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium",
also eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"),
die bis zur Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten
werden als Philosophen betrachtet, und während des Exils
der Juden in Babylon habe sich ihre Weisheit auch unter den
Orientalen verbreitet, sei nach Persien gelangt, von wo dann
die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst sei dann der wahre
Meister gewesen, habe sich auch als solcher deklariert (Math.
23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule
begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern.
Dieser heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber ist
die profane Weisheit der Griechen und anderer Völker
sekundär.
(Vgl. Paulus Bolduanus: Bibliotheca philosophica (etc.).
Lipsiae: Th. Schureri, 1616.)
Eine vergleichbare Weise des Zugangs zu den
überlieferten Thesen der Philosophie entwickelt
später die Schule von Cambridge. Theophilus Gale
(1628 - 1678) mit seiner "Philosophia generalis" (1676)
ist einer ihrer Vertreter. Darin wird der Leitgedanke
entwickelt, daß alle Philosophen aus ein und
derselben Quelle geschöpft hätten, nämlich
aus der Offenbarung. In erster Linie sei also unter den
Philosophen Moses zu nennen, aber auch die orientalischen
und griechischen Philosophen werden auf diese Quelle
zurückgeführt. Die Philosophie der Hebräer
erscheint als die "philosophia prima". Abraham, Moses,
Salomon und Hiob sind ihre bedeutendsten Vertreter. Unter
den Griechen stehe Platon der Bibel am nächsten, und
Gale greift hier einen Topos von neuem auf, der sich schon
bei Philon und Clemens von Alexandrien findet: Platon sei
ein indirekter Schüler des Moses und der Bibel.
Noch in der Schule von Christian Wolff scheint die
Adam-Noah-Hypothese plausibel, wenn etwa Gottsched 1734
ausführt:
... nichts ist wahrscheinlicher, als
daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der
Chineser gewesen ist... Weil diese Meinung in Deutschland
nicht sehr bekannt ist, so will ich doch einige Gründe
derselben anführen. ... sind auch die Lehren der
Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit
bekannt gewesen, als in China. Ihre Geschichte sind weit
richtiger, ihre politische Regierungsforme weit dauerhafter
und ordentlicher gewesen, als der anderer Völker ihre:
welches ohne Zweifel der grössern Weisheit des Noah,
vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist. Und zuletzt,
sagen die Chineser, daß ihr FOHI in der nordwestlichen
Provinz Xensi gewohnt habe; von welcher Gegend er nothwendig
gekommen seyn muß, als er in Armenien oder
Mesopotamia, aus dem Kasten gegangen, und allmählich
nach China gezogen. ... Was ... der Chineser ihren
aufgeklärten und geläuterten Verstand am besten
darthut, ist, daß sie die meisten künstlichen
Erfindungen der Europäer, eher als wir gehabt haben:
z.E. die Magnetnadel, das Schießpulver, die
Buchdruckerkunst, ja so gar den Kreislauf des Geblütes
sollen sie eher gewußt und gebrauchet haben, als wir
alle ... Nun kann es wohl seyn, daß die heutigen
Chineser es in den theoretischen Wissenschaften den
Europäern nicht gleich thun ... ((Mängel in:
Zeichnen, Malen, Bauen; Sternkunde; Naturkunde; Art zu
schreiben)) Wie aber daraus nicht folget, daß China
gar nicht philosophire; also folget noch weniger, daß
sie vormals keine Weltweisen gehabt. Von ihren Nachbarn, den
Japonesern, ist eben das zu sagen.
(Zitiert nach: Johann
Christoph Gottsched: Erste
Gründe der gesammten Weltweisheit etc. 6.
Aufl. Leipzig: Breitkopf, 1756, S. 7-12)
Um diese Zeit wird allerdings ein skeptisches Argument dagegen
entwickelt, das sich durchsetzt und die Frage nach einer
(vorschriftlichen) Philosophie für lange Zeit zum
Verschwinden bringt: Jakob Brucker, der das
philosophiehistorische Standardwerk der Aufklärung
verfasst,
(Historia Critica
Philosophiae a Mundi Incunabilis, ad Nostram usque Aetatem
Deducta. Vol. I-V. Lipsiae: Breitkopf, 1742 - 44)
schreibt darin und in anderen seiner Werke, dass der biblische
Text schlicht nicht ausreiche, um Adam als Philosophen zu
bezeichnen, sondern höchstens als Seher oder Propheten (vatis). Man dürfe
die Kenntnisse, die Adam und seinen Söhnen zugeschrieben
werden, nicht mit der Philosophie verwechseln:
... si rudem quandam et
empiricam rerum ad felicitatem facientium notitiam Adamo
et filiis eius vindicare placet, illa tamen com scientia
philosophica confundenda haud est.
(Jakob
Brucker: Institutiones
Historiae Philosophicae Usui Academicae Iuventutis
Adornatae. 2. Aufl. Lipsiae: Bernh. Christoph
Breitkopf, 1756, S. 17)
Diderot, dessen philosophiehistorische
Beiträge zur Encyclopédie
sich stark auf Brucker stützen, verwirft die
Adam-Hypothese in einem Aufwaschen mit einer anderen These zum
Ursprung der Philosophie, die ihm noch absurder erscheint:
Einige von denen, die den Ursprung der
Philosophie zu ergründen suchen, machen nicht bei dem
ersten Menschen halt, der nach dem Ebenbild Gottes
geschaffen wurde, sondern schwingen sich zum Himmel auf, als
ob die Erde keine Stätte wäre, die ihres Ursprungs
würdig wäre. Sie suchen die Philosophie bei den
Engeln, wo sie sie uns in ihrem vollen Glanz zeigen. ... Ich
versage mir das Vergnügen, hier zu beweisen, wie
kläglich alle diese Gedankengänge sind, durch die
man darlegen will, daß die Engel und die Teufel
Philosophen, ja sogar große Philosophen seien. Lassen
wir diese Philosophie der Bewohner des Himmels und der
Unterwelt auf sich beruhen; sie ist uns zu hoch. Sprechen
wir von der Philosophie, die den Menschen eigentlich zukommt
und für die wir zuständig sind.
("Artikel aus Diderots
Enzyklopädie" Hg.: Manfred Naumann. Leipzig:
Reclam, 1984, Art. "Antediluvienne", S.
77-79)
Einen zeitgenössischen österreichischen Jesuiten
scheint das bruckersche Argument noch nicht überzeugt zu
haben:
Ortum Philosophiae suum ad
mundi exordium refert, & primum hominem, primum sui
cultorem censet ... Et certe sine sapientia fieri non
potuisse vel Plato (in Cratylo) existimavit, ut omne, quod
vocavit Adam, animae viventis, ipsum sit nomen ejus
(Genes. Cap. II, v.19)
(Michael Klaus: Brevis introductio in
philosophiam comprehendens tum doctrinam tum historiam
philosophiae. Viennae: Trattner, 1757, S. 19)
wogegen eine Generation später der
Grazer Theologe Gmainer, kirchenpolitisch ein Vertreter des
Josephinismus, einschränkend schreibt:
In Rücksicht nun des
historischen Ursprunges der Weltweisheit machen viele
unsern Stammvater Adam zum Urheber derselben, und beruffen
sich deshalb auf die Erzählung des Moses, allein es
ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob man
in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas
Zuverläßiges schöpfen könne. Da ...
aus der Erzählung Mosis sich nicht schließen
läßt, daß Adam eine solche Fertigkeit
gehabt habe, so ist bei den ersten Menschen keine
Philosophie im strengen Verstande zu suchen. ... Indessen
kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine
natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch
würde man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren
lassen, wenn man nicht zugeben wollte, daß sie ein
undeutliches Kenntniß der ersten Grundwahrheiten
hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in dieselben
zeigt sich nicht die geringste Spur. (I, 16-18)
(Franz Xaver
Gmeiner: Litterärgeschichte
des Ursprungs und Fortgangs der Philosophie, Bd. I,
II. Grätz, 1788-89.)
Bei Gmeiner wird das also abgelehnt, aber
immerhin noch diskutiert; später kommt die Frage
überhaupt nicht mehr vor.
Erst im 20. Jahrhundert taucht die Frage in veränderter
Form wieder auf: als Frage nach philosophischem Denken in
oralen Traditionen, nach sog. "Ethnophilosophie" usw.
Vgl. dazu den Vortrag von Elmar Holenstein: "Anfänge der
Philosophie (Radiovortrag)." In Philosophische
Brocken (Radio Orange) 2003. Als Download in der Audiothek
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Der (einzige) griechische Ursprung:
Standardauffassung in der Mehrzahl der Darstellungen ab ca
1750
Die Griechen haben zu erst die
Flügel ihres Verstandes in die Höhe geschwungen,
und zu philosophiren angefangen...
(Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist
gründliche Nachrichten aus der historia philosophica.
Bd. I. Halle, 1715, S. 290
Das war nicht ganz selbstverständlich
und Brucker (s.o.) hat immerhin
noch in den 1740er Jahren die Frage gestellt, die man bei
späteren Philosophiehistorikern und Philosophen oft auch
nur als neugierige Nachfrage vergeblich sucht, wie es denn mit
der Philosophie in anderen Weltteilen (einschließlich
Afrikas und dem präkolumbischen Amerika) bestellt sei -
deren Bewohner seien "von Natur" doch "nicht weniger
ungeeignet" dafür als die Europäer:
Restant reliquarum terrae partium
incolae, natura ad philosophiam non magis inepti quam
Europaei ...
Aber sie sind insgesamt und seit jeher zu
sehr der Religion verhaftet:
Idem vero, quod olim, hodie apud has
gentes obtinet, ut religio cum philosophia arctissimo
vinculo haereat ...
weshalb er nur das Wenige der Traditionen
Asiens, wovon eine gewisse Kenntnis da sei, als "barbarische",
doch immerhin als "Philosophie" beschreibt. Die Nachfrage in
Afrika und Amerika habe leider gar nichts erbracht -
In Africa enim et America tam
detestabilis vbique superstitio regnat, vt non modo
philosophiam omnem, sed et vsum rationis eiurasse
videantur.
(Jakob
Brucker: Institutiones
Historiae Philosophicae ed. cit., S. 849, 850, 884)
Den Beginn der Philosophie mit der griechischen Philosophie
gleichzusetzen, braucht im weiteren Verlauf der
Philosophiehistorie meist keine besondere Argumentation oder
Begründung mehr. Beispiele dafür wären Legion.
Aber nicht immer wird das selbstverständlich angenommen.
Hegels "Abscheiden des Orients" in seiner Vorlesung (ca 1830)
ist sorgfältig argumentiert und mit einem
verhältnismäßig genauen Referat chinesischer
und indischer Philosophie verbunden. Erst dann gelangt er zum
Ergebnis:
S. 92: Der eigentliche Anfang der
Philosophie ist da zu machen, wo das Absolute nicht als
Vorstellung mehr ist, sondern der freie Gedanken - nicht
bloß das Absolute denkt - die Idee desselben
erfaßt...
Die
Gesetzgebung, der ganze Zustand des Volkes hat seinen
Grund allein im Begriffe, den der Geist sich von sich
macht, in den Kategorien, die er hat. Sagen wir, zum
Hervortreten der Philosophie gehört Bewußtsein
der Freiheit, so muß dem Volke, wo Philosophie
beginnt, dies Prinzip zugrunde liegen; nach der
praktischen Seite hängt damit zusammen, daß
wirkliche Freiheit, politische Freiheit aufblühe...
93: In der
Geschichte tritt daher die Philosophie nur da auf, wo und
insofern freie Verfassungen sich bilden. Der Geist
muß sich trennen von seinem natürlichen Wollen,
Versenktsein in den Stoff. Die Gestalt, mit der der
Weltgeist anfängt, die der Stufe jener Trennung
vorausgeht, ist die Stufe der Einheit des Geistes mit der
Natur, welche, als unmittelbar, nicht das Wahrhafte ist.
Das ist das orientalische Wesen überhaupt; die
Philosophie beginnt in der griechischen Welt.
Dies ermöglicht und erzwingt das
"Abscheiden des Orients und seiner Philosophie"
95: Der Geist geht wohl im Orient
auf, aber das Verhältnis ist noch ein solches,
daß das Subjekt nicht als Person ist, sondern im
objektiven Substantiellen (welches teils
übersinnlich, teils auch wohl mehr materiell
vorgestellt wird) als negativ und untergehend erscheint.
Das Höchste, zu dem die Individualität kommen
kann, die ewige Seligkeit, wird vorgestellt als ein
Versenktsein in die Substanz, ein Vergehen des
Bewußtseins und so des Unterschiedes zwischen
Substanz und Individualität, mithin Vernichtung. Es
findet mithin ein geistloses Verhältnis statt,
insofern das Höchste des Verhältnisses die
Bewußtlosigkeit ist.
95: So
unbestimmt die Substanz der Orientalen ist, so unbestimmt,
frei, unabhängig kann auch der Charakter sein. Was
für uns Rechtlichkeit, Sittlichkeit, ist dort im
Staate auch - auf substantielle, natürliche,
patriarchalische Weise, nicht in subjektiver Freiheit. Es
existiert nicht das Gewissen, nicht die Moral; es ist nur
Naturordnung, die mit dem Schlechtesten auch den
höchsten Adel bestehen läßt. Die Folge
davon ist, daß hier kein philosophisches Erkennen
stattfinden kann.
96: Das
Orientalische ist so aus der Geschichte der Philosophie
auszuschließen; im ganzen aber will ich doch davon
einige Notizen geben, besonders über das Indische und
Chinesische. Ich habe dies sonst übergangen; denn man
ist erst seit einiger Zeit in den Stand gesetzt,
darüber zu urteilen. Man hat früher großes
Aufsehen von der indischen Weisheit gemacht, ohne zu
wissen, was daran ist; erst jetzt weiß man dies, und
es fällt natürlich dem allgemeinen Charakter
gemäß aus.
Und somit steht für Hegel fest:
(Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie. Zitierte Texte aus:
Irrlitz, Gerd und Karin Gurst (Hg.): Bd. 1. Leipzig: Philipp
Reclam jun. 1982)
So viel Mühe macht sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts
kaum ein Autor mehr. Friedrich Kirchner schreibt:
Von Philosophieren kann erst bei den Hellenen
die Rede sein. Dieses hochbegabte, unter glücklichem
Himmel im günstigsten Lande wohnende Volk hat zuerst
eine Ahnung von der Würde und Aufgabe des
Menschengeistes gehabt.
Der Orient, von geknechteten,
unmündigen, phantastischen Volksherden bewohnt, konnte
nur Religionssysteme, keine Philosophie hervorbringen. Was
von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist Fabel
oder Mißverständnis. Die Juden waren ohne
philosophische Anlage. Zoroasters Zend-Avesta enthält
neben der dualistischen Idee nur religiöse und
physikalische Lehren, was darin Philosophisches ist, stammt
von späteren, griechischen Einflüssen her. Von der
bei den Griechen viel gerühmten ägyptischen
Weisheit wissen wir heute nicht mehr als damals, denn sie
gehört ins Reich der Sage. Kongfutse und Laotse haben
den Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische
Mythologie über Himmel und Erde gebracht. Ja, selbst
die höchste dieser orientalischen Spekulationen, die
indische, bietet unter grotesken, oft abenteuerlichen Sagen
nur den einen großen Gedanken, daß alles aus der
einen Naturkraft hervorgehe und in dieselbe zurückkehre
... Aber hier, wie bei allen orientalischen Urkunden, macht
die Unsicherheit der Zeitbestimmung jede genauere Angabe
unmöglich.
(Friedrich Kirchner: Geschichte der Philosophie von
Thales bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig: Weber,
1896, S. 13f)
Und auch im 20. Jahrhundert konnten Schüler auf der
ganzen Welt ziemlich sicher sein, dass die richtige Antwort
auf die Frage nach dem ersten Philosophen "Thales" laute. Sie
konnten es beispielsweise von Russell erfahren:
Mehrere Ursprünge
Asiens Philosophietraditionen sind aus dem
europäischen Bewusstsein nie ganz verschwunden.
Insbesondere die Zeit der Romantik (z.B. mit Friedrich
Schlegel: Ueber die Sprache
und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der
Alterthumskunde. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer
Gedichte. Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1808) und der
Entdeckung der Sprachverwandtschaft zwischen dem Sanskrit und
westlichen Sprachen brachte zeitweise die Idee einer "zweiten
Renaissance" (nämlich eines Anknüpfens an indisches
Denkens) mit sich.
So schreibt Bachmann, ein Zeitgenosse Schlegels über eine
Weltgeschichte der Philosophie:
... ob man nämlich auch die
orientalischen Völker, die Indier, Perser etc. in
dieselbe aufnehmen, oder gleich bey den Griechen anheben
solle. ... Die Entscheidung der Frage beruht auf der Ansicht
der Philosophie.
Wenn Philosophie als Wissenschaft verstanden werde, dann
müsse man mit den Griechen beginnen; wenn aber auch
"Vernunft und Gemüt" als Quellen gelten sollen, so
verdienen die "orientalischen Völker"
allerdings einen ehrenvollen Platz in
der Geschichte der Philosophie, wovon sie niemand ohne
großes Unrecht vertreiben kann.
Es sei dann aber eine Unterscheidung
zwischen Mythen und Philosophie nötig:
denn die mythologischen Dichtungen
derselben sind eine in das Gewand der Poesie gekleidete
Sammlung nationeller Sagen, Begriffe und Meynungen, die
Lehren ihrer Weisen hingegen sind Resultate ihrer
Forschungen über das Wesen der Gottheit und der Dinge.
(Carl
Friedrich Bachmann: Über Philosophie und ihre
Geschichte. Drei academische Vorlesungen. Jena:
Crökersche Buchhandlung, 1811, S. 74, 76)
Und Peithner
von Lichtenfels, ein
österreichischer Autor des Vormärz, ist sogar
... der unmaßgeblichen Meinung,
daß die Philosophie ihre Geschichte nicht erst von der
späteren Periode der mehr wissenschaftlichen
Forschungen griechischer Philosophen, namentlich des Thales,
sondern schon von den ältesten Philosophemen der
orientalischen Völker her datire, wenn gleich an diesen
die Fantasie mehr Antheil haben mag, als der Verstand;
zumal, da sich aus der Vergleichung beider ergibt, daß
nicht nur die Griechen von den Morgenländern gelernt
haben, sondern auch, daß diese zuweilen richtiger
ahneten (z.B. die Perser) als jene lehrten (z.B. die
Atomisten).
Er setzt sich in diesem Punkt mit drei
"gewöhnlichen Einwürfen" gegen diese Ansicht
auseinander:
Einwurf 1.
"Die
orientalischen Philosopheme nahmen den Charakter positiver
Dogmen an; sie gehören also nicht in die Geschichte der
reinen Vernunftwissenschaft." - Ursprünglich wenigstens
waren sie keine positiven Dogmen. Übrigens grenzte der
Dogmaticismus schon so mancher philosophischen Schule
gleichfalls ziemlich nahe an´s Positive.
Einwurf 2.
"Sie haben
keinen philosophischen Charakter; denn die Fantasie herrscht
darin vor." - Der Form nach freilich nicht; aber der Materie
nach oft mehr, als so manches philosophische System.
Einwurf 3.
"Sie hatten nie
einen günstigen, wohl aber oft einen nachtheiligen
Einfluß auf die Fortbildung der Philosophie." - Auch
was nachtheiligen Einfluß hatte, muß
erwähnt werden; sonst müßte man manches
philosophische System übergehen. Übrigens hatten
jene in der That oft auch günstigen Einfluß, z.B.
auf Anaxagoras, Pythagoras, Platon, u.s.w.
(Johann
Peithner von Lichtenfels: Auszug
des Wissenswürdigsten aus der Geschichte der
Philosophie. Wien: J. G. Heubner, 1836, S. 2f)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert sich, vom britischen
Indien ausgehend, komparative Philosophie, die zumindest
einige große Traditionen Asiens in einen Vergleich mit
okzidentalen zu bringen sucht. Ebenso entwickelt marxistische
Philosophiehistorie prinzipiell internationale Sichtweisen. Um
die Mitte dieses Jahrhunderts formuliert Karl Jaspers seine
These von der Achsenzeit, die
er ca 800-200v in Eurasien annimmt:
In dieser
Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen.
In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle
Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti,
Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, - in
Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden
alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis
und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum
Nihilismus, wie in China, entwickelt, - in Iran lehrte
Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen
Gut und Böse, - in Palästina traten die Propheten auf von
Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, -
Griechenland sah Homer, die Philosophen - Parmenides,
Heraklit, Plato - und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.
Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in
diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in
China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie
gegenseitig voneinander wußten.
Es erwuchsen geistige
Kämpfe mit den Versuchen, den andern zu
überzeugen durch Mitteilung von Gedanken,
Gründen, Erfahrungen. ...
In
diesem Chaos wurden die Grundkategorien hervorgebracht,
in denen wir bis heute denken, und es wurden die
Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen
die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der
Schritt ins Universale getan.
Durch
diesen Prozeß wurden die bis dahin unbewußt
geltenden Anschauungen, Sitten und Zustände der
Prüfung unterworfen, in Frage gestellt,
aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit
die überlieferte Substanz noch lebendig und
wirklich war, wurde sie in ihren Erscheinungen erhellt
und damit verwandelt.
Zwei Buchtitel Ende der 1980er Jahre belegen, dass die These
vom einzigen (griechischen) Ursprung nicht mehr weiter als
selbstverständlich angenommen werden kann:
Ralf
Moritz, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann
(Hg.): Wie und warum
entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?
Berlin: Akademie-Verlag, 1988.
Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der
Philosophie. China, Indien, Europa. Bonn: Bouvier,
1989.
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Moderne Wissenschaftssoziologie
Besprochen wird:
Randall Collins: The Sociology of Philosophies. A Global
Theory of Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press
of Harvard Univ. Pr., 2000. Im Internet
- Dazu siehe:
Ruth Bauer und Barbara Wandl: "Spannungen zwischen
einheimischen und importierten Ideen - zur Darstellung
der islamischen Philosophie bei Randall Collins."
Seminararbeit, Wien, 2004. im Sammelpunkt
Ines Simon: "Randall Collins, The sociology of
philosophies: Einleitung." Seminararbeit, Wien, 2004. im
Sammelpunkt
Zum Seitenanfang
"Wanderungen
- Verbreitungen, Übernahmen, Renaissancen"
Besprochen wird:
Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und
Wege des Denkens. Zürich: Ammann Verlag, 2004. Verlagsinfo
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Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie.
Eine Einführung. Wien: WUV, 2004
Zum
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Zum Überblick
der
Vorlesung
Diese Seiten werden eingerichtet und
gewartet von Franz
Martin
Wimmer
Erstellt: Herbst
2012 mit Ergänzungen im WiSe 2012