Wimmer: Vorlesung WS 2012
180054 Interkulturelle Philosophie - Hauptprobleme und Methoden
1. Einheit: 10. Oktober
a) Besprechung der Themen
und
Prüfungsmodalitäten, Überblick der Vorlesung
b) THEMA: Grundfragen interkultureller Philosophie im Zusammenhang
der Gegenwartsphilosophie
Interkulturität und Philosophie?
| Differente Ansätze | Praxis und Postulate | Hauptthesen | Literaturhinweise
Zusammenhang in der Gegenwartsphilosophie
Eine Familie macht sich bemerkbar im Feld der Theorien in den
letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie ist – zumindest von
außen – an Ähnlichkeiten erkennbar, Familienähnlichkeiten, wie
Wittgenstein solche benannt hat.
Das sind vor allem Folgende:
1. Die Mitglieder dieser
Theoriefamilie sprechen jeweils ein
besonderes Publikum an, das durch ein besonderes
Interesse charakterisierbar ist – es will sich selbst verstehen
und sich selbst beschreiben.
2. Sie sprechen weitgehend eine
eigene Theoriesprache, wobei ihre Gemeinsamkeit darin
liegt, dass sie von den traditionellen Begriffssprachen wenig
Gebrauch machen und nicht scholastisch sein wollen.
3. Sie sprechen vorwiegend über Themen, die unter ihnen ähnlich
sind und die sie für wichtig halten, aber das sind nicht die klassischen Themen der
jeweiligen Theoriegemeinschaft, in der sie sich bewegen
(als PhilosophInnen, SozialwissenschafterInnen,
KulturtheoretikerInnen).
4. Sie wenden sich gegen
frühere Theorien oder Auffassungen zu ihren Themen vor
allem mit der Forderung nach Selbst- oder Eigenbeschreibung.
5. Sie lehnen ein
Interpretationsmonopol ab, das sich auf den absoluten
Superioritätsanspruch eines Teils der Menschheit bezieht.
6. Sie suchen individuelle oder
kollektive Identitäten zu befördern oder zu begründen.
Zu dieser Theoriefamilie gehören einige, die in ihrem Namen ein
"post" tragen: "Postkolonialismus", "Postmoderne". Andere Mitglieder
derselben Familie haben sich entschieden, andere Namen zu tragen,
sie nennen sich "Feministische (und nicht etwa "postpatriarchale")
Philosophie" oder "Interkulturelle (und nicht vielleicht
"postokzidentale") Philosophie".
Zum Postkolonialismus vgl.: María do Mar Castro Varela
und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung.
2. Aufl. Bielefeld: transcript Verlag, 2009.
Zur Postmoderne vgl.: Gabriele Münnix: Zum Ethos der Pluralität.
Postmoderne und Multiperspektivität als Programm. (Philosophie, Bd.
44) Münster: LIT-Verlag, 2004.
Zur feministischen Philosophie vgl.: Herta Nagl-Docekal (Hg.,
Autorin): Feministische Philosophie. Oldenbourg: Wien und München
1990.
Es
gibt auch Theoriegruppen, die das "post-" im Namen tragen
("Poststrukturalismus", "postanalytische Philosophie"), die aber
nach den genannten Merkmalen nicht zu dieser Gruppe gehören.
Wie das auch in anderen Familien vorkommt, vertragen sich die
Mitglieder dieser Theoriefamilie nicht unbedingt. Sie denken
zuweilen, dass das, was ein anderes Mitglied anders macht, nicht
viel wert oder eigentlich ein Irrweg ist. Auch haben sie jeweils unterschiedliche Partner aus
anderen Theoriefamilien, mit denen sich die übrigen dann ebenso
wenig verstehen, die sie zuweilen sogar für die Schwächen ihrer
Familienmitglieder verantwortlich machen.
So
hat etwa die interkulturelle Philosophie Nahverhältnisse zur
Phänomenologie, zu komparativer Philosophie und zur
Kulturgeschichte.
Das Nahverhältnis Postkolonialer
Theorie zur Literatur, zu Sozialwissenschaften und politischer
Theorie ist ebenso auffallend und macht es manchmal nicht
leicht, zu sagen, was eigentlich ihr philosophischer Beitrag
sein soll.
Dass die Postmoderne
philosophisch bedeutsame Texte hervorgebracht hat, bestreitet
(heute) wohl kaum jemand (mehr), aber ihre Auftritte im Bereich
von Kunst, Literatur und Architektur sind zumindest nicht
weniger spektakulär gewesen.
Wie eng diese Richtungen
untereinander und auch mit der an einem anderen Termin hier
vorzustellenden feministischen Philosophie auf Grund gemeinsamer
Fragestellungen verwandt sind, zeigt zum Beispiel:
Es sind zwischen diesen Richtungen jedoch auch deutliche Differenzen und nicht eindeutige Beeinflussungen
festzustellen. Als Beispiel nenne ich das Verhältnis von interkultureller und postmoderner Philosophie.
Es wird zuweilen gesagt, interkulturelle Philosophie sei wesentlich
von postmodernen
Positionen bestimmt. Dieser Eindruck mag darauf zurückgehen, dass in
beiden Richtungen eine starke Kritik an eurozentrischen Traditionen
dominant ist. Schließt man daraus jedoch auf einen eindeutigen
Einfluss, so führt das deshalb in die Irre, weil dabei die sachlich
entscheidende Frage nach der jeweiligen Alternative zum
Eurozentrismus übergangen würde. Die hier entscheidenden
Unterschiede sind:
- Postmoderne Theorie kritisiert zwar die "großen Erzählungen"
abendländischer Tradition und bereitet damit den Weg einer
mehrdimensionalen Hermeneutik, aber sie will sich nicht auf
einen echten Dialog oder Polylog, d.h. auf eine kritische Auseinandersetzung mit
anderen Kulturtraditionen und deren Philosophien
einlassen. Genau das ist Programm in den Ansätzen
interkultureller Philosophie.
- Postmoderne Theoretiker tendieren dazu, einen Relativismus in
philosophischen Sachfragen nicht nur zuzulassen, sondern zu
befördern. Dem entspräche in interkulturellen Ansätzen die
Option für Ethnophilosophien,
die jedoch oft explizit kritisiert wird.
- Postmoderne konzentriert sich (kritisch) vorwiegend oder
ausschließlich auf okzidentale Philosophie (bzw. deren Logozentrismus); hingegen
setzt interkulturelle Philosophie sich explizit mit vielen,
kulturell differenten Traditionen auseinander.
Interkulturalität und Philosophie?
Ich schildere hier dasjenige Mitglied dieser Theoriefamilie, das mir
am meisten vertraut ist und zu dem ich mich auch selbst zähle.
Als "interkulturell"
artikuliert sich eine Richtung innerhalb der akademischen
Philosophie verhältnismäßig spät, nämlich etwa um 1990, nachdem
bereits vorher dieses Adjektiv in anderen akademischen Disziplinen
Eingang gefunden hatte. Nachdem "interkulturelle Philosophie"
(wahrscheinlich in Wimmer
1990) zunächst in deutscher Sprache benannt und beschrieben
worden war, wurden später analoge Termini auch in anderen Sprachen
etabliert. Mit diesem Terminus sollte die These ausgedrückt werden,
dass "zwischen"
Denktraditionen, die als "kulturell" different aufzufassen sind, wechselseitige Prozesse argumentativer
Art möglich und in
philosophischen Fragestellungen sinnvoll sind. Bloße
Nebeneinanderstellungen von Denktraditionen oder deren Vergleich
unter einander erfüllen diese Bedingung nicht.
Seither wird diese Bezeichnung immer
öfter verwendet und tritt nicht selten einfach an die Stelle von
früheren (wie: "komparativ", "vergleichend"), ohne dass bei dieser
Übernahme des Terms notwendigerweise Überlegungen bemerkbar sind,
was eigentlich dieses "inter-"
im Unterschied zu "komparativ"
bedeuten könnte. In solchen Fällen scheint das "inter-" dann nur
attraktiver zu klingen.
Die Thematik von "Interkulturalität" ist jedoch zunächst nicht
in der Philosophie, sondern in anderen Disziplinen - in der
Kommunikationsforschung, der Geographie, der Germanistik u. a. -
reflektiert worden.
Vgl. beispielsweise zur
interkulturellen Germanistik :
Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle
Germanistik. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2003.
Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als
interkulturelle Literaturwissenschaft. 2. unveränd. Aufl. München:
Iudicium, 2009.
Auch in den Ansätzen dieser Disziplinen ist allerdings nicht immer
klar, ob damit ein Unterschied zwischen "Multikulturalismus" und
"Interkulturalität" theoretisch wirklich gedacht wird.
Bemerkenswert ist, dass es bis heute Studiengänge etwa zu
"interkultureller Kommunikation" o. ä. gibt, die zwar
interdisziplinär angelegt sind, wobei aber Philosophie keine Rolle
spielt. Wiederum ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass in
philosophischen oder verwandten Studienplänen die Perspektive der
Interkulturalität überhaupt fehlt - was nicht mehr für das Studium
in Wien oder Innsbruck zutrifft.
Ausgangspunkt: Kritik am hermeneutischen Monopol des Okzidents
Wie in den anderen Diskursen dieser Theoriefamilie ist auch in
interkultureller Philosophie die Kritik an einem hermeneutischen
Monopol des Okzidents, also an einem "Eurozentrismus" ein
wesentlicher Ausgangspunkt. Von einer Mehrzahl von kulturellen
Traditionen der Philosophie ist die Rede, aus deren
jeweiligen Gesichtspunkten die Bedeutung und der Sinn anderer
Traditionen erfasst werden. Dazu ein Zitat:
◦ Ram Adhar Mall spricht von:
einer
vierdimensionalen
hermeneutischen Dialektik. Erstens
geht es um ein
Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller
inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter
dem Einfluß außerphilosophischer Faktoren, den Nichteuropäern
als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens gibt es das europäische Verstehen der nicht-europäischen
Kulturen, Religionen und Philosophien. Die
institutionalisierten Fächer der Orientalistik und Ethnologie
belegen dies. Hegel (1770-1831) und einige andere gehen von der
festen Überzeugung aus, daß Asien sich selbst nicht ganz richtig
versteht, und Asienverstehen Asienüberwinden bedeutet. Fast eine
Art theoretischer Gewalt ist am Werke, wenn man meint, daß man
die anderen besser versteht als sie sich selbst verstehen.
Freilich setzen wir hier voraus, daß es um gleichberechtigte
Diskurspartner geht. […] wurde lange die Ansicht vertreten:
Immer wo es eine Geschichte gibt, gibt es Philosophie. Die
Orientalen besitzen eigentlich keine Geschichte. Folglich gibt
es bei ihnen keine Philosophie.
Drittens
sind da die nicht-europäischen
Kulturkreise, die ihr
Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies
nicht den anderen überlassen. Viertens
ist da das Verstehen Europas
durch die außereuropäischen Kulturen. In dieser
Situation stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum
am besten? Es mag Europa überraschen, daß Europa heute
interpretierbar geworden ist.
So verlangt die de facto
existierende hermeneutische Situation nach einer Philosophie der
Hermeneutik, die offen genug ist, um die Traditionsgebundenheit
einzusehen, auch die des eigenen Standpunkts. Eine
interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie muß die
Forderung nach einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt,
mit der wir uns auseinandersetzen, noch die Begriffe, Methoden,
Auffassungen und Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch
unveränderliche, apriorische Größen darstellen. (R.A.
Mall: Interkulturelle Philosophie und die Idee der Toleranz. In:
Yousefi (Hg.): Die Idee der Toleranz in der interkulturellen
Philosophie 2003, S. 86f; Hervorhebungen im Zitat von: fmw)
Motivationen
1) Eines der Motive hinter der "kulturalistischen Wende" in der
Philosophie überhaupt und hinter den Bemühungen um eine Philosophie
"in interkultureller Orientierung" liegt darin, dass Wertkonflikte bzw. konfligierende
Normenbegründungen in modernen Gesellschaften auftreten,
die zumindest teilweise aus unterschiedlichen philosophischen
Traditionen begründet werden. Auffallende Beispiele - aber
keineswegs die einzigen - finden sich in den Diskursen über
Menschenrechte.
2) Ein anderes Motiv liegt in der Entwicklung einer Weltgesellschaft
("Globalisierung") vor. Ich denke, dass in dieser Hinsicht zwei
Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle spielen, die ich mit jeweils
einem Zitat andeuten will:
-- Eine aufgrund regionaler
Zentrismen erwartbare
Verlegenheit beschreibt R. Collins:
"Further on in the
twenty-first-century, when economic linkage and intermigration
will indeed produce a common world culture, educated people will
likely be embarrassed to know so little about the intellectual
history of other parts of the world than their own."
(Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of
Intellectual Change (2000), Preface)
-- E. Holenstein benennt das Eigeninteresse
als Motiv, sich mit fremden Kulturen auf humane Weise zu befassen:
"Ein Plädoyer für die Vermeidung
von behebbaren Missverständnissen und für die Besinnung auf
zivile Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit uns fremden
Kulturen bedarf keiner moralischen Motivation. Schieres
Eigeninteresse genügt." (Holenstein, "Ein Dutzend
Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse"
in: Jürgen Wertheimer und Susanne Göße, Hg.: Zeichen lesen. Lese-Zeichen.
Kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und
China. (1999), S. 30)
Eine genaue Beschreibung dieses Motivs aus der Perspektive der
lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung liefert:
3) Ein drittes Motiv sehe ich im Universalitätsanspruch, der philosophischen Thesen
inhärent ist. Diesen leugnen zwar ethnophilosophische
Positionen, wie seine Möglichkeit auch schon früher von
ethnozentrischen Theoretikern geleugnet worden war, vgl. etwa
-- E. Krieck in der FS für A. Hitler
(1939):
"Die Philosophie im
herkömmlichen Sinn ist gekennzeichnet durch ein
universalistisches Prinzip. Da die nationalsozialistische
Weltanschauung … den Universalismus jeder Art beendet und durch
das rassisch-völkische Prinzip ersetzt, müßte folgerichtig die
Philosophie, da sie stets am Universalismus hängt, als beendet
erklärt und durch eine rassisch-völkische Kosmologie und
Anthropologie ersetzt werden."
aber sie wird nicht in interkultureller Philosophie geleugnet. R.
Fornet-Betancourt schreibt beispielsweise, sein "Verständnis der
Universalität in der Philosophie" sei
"weder
postmodern
noch "kontextualistisch" im Sinne von Rorty. Das heißt, sie
setzt weiterhin die Notwendigkeit der Universalität voraus. …
aber doch die Zurückweisung einer Universalität, die konstruiert
ist auf der Grundlage der Differenz zwischen dem Universellen
und dem Partikulären und gegenüber der sich das Partikuläre
immer rechtfertigen muss, da sie sich als die regulierende
Ordnung des Zusammenlebens oder als Ausdruck des Maßstabs der
Menschheit darstellt. … Es wird also nicht das Universelle,
sondern der Mangel an Universalität … kritisiert. Auf der
anderen Seite will die interkulturelle Philosophie die Frage
nach der Universalität wieder aufwerfen, um die Dialektik der
Spannung zwischen dem Universellen und dem Partikulären durch
die Ausbildung des Dialogs zwischen kontextuellen Welten zu
ersetzen, die ihren Willen zur Universalität mit der
Kommunikationspraxis bekunden. … dass diese Kommunikationspraxis
… vor allem ein Bestreben nach Übersetzung ist. Die kulturellen
Welten werden übersetzt, und indem sie sich gegenseitig
übersetzen, wird Universalität erzeugt."
(Fornet-Betancourt, Zur interkulturellen Transformation der
Philosophie in Lateinamerika (2002), S. 14f)
Möglichkeit und Aufgaben
Ob Philosophie in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung der Kulturen etwas beizutragen habe, ist die eine
Grundfrage der interkulturellen Philosophie. Die andere Grundfrage
ist, ob Philosophie überhaupt möglich ist, wenn sie die Tatsache
ignoriert, dass jedes Denken und jeder Ausdruck des Denkens nur mit
den Mitteln eines kulturell in bestimmter Weise geprägten Systems
stattfinden kann. Es ist eine für jede Argumentation ärgerliche
Tatsache, dass es nicht eine
und nicht eine endgültig
angemessene Sprache, Kulturtradition und Denkform des
Philosophierens gibt, sondern viele, und dass jede davon kultürlich
ist, keine darunter natürlich.
Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt
bewusst machen, um daraus für beides Gewinn zu ziehen: für die
Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue
Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen
Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender
Ebene angestrebt wird.
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Differente Ansätze
Die bisher vorliegenden interkulturellen Konzepte in der Philosophie
grenzen sich von anderen Ansätzen ab, weisen aber auch unter
einander deutliche Unterschiede auf.
- Ein erster auffallender Punkt ist die Abgrenzung von
"komparatistischen" Ansätzen. Auffallend, weil nicht
ohne weiteres erwartbar. "Mehr als bloße Komparatistik" sei
gefordert, wie es immer wieder heißt. Unter einer "bloßen
Komparatistik" wird dabei etwas sehr Traditionelles verstanden,
das die Wissenschaften von "fremden Kulturen" zu hoher
Perfektion entwickelt haben: vergleichende Interpretation.
Was dieses "Mehr" beinhalten soll, wird jedoch unterschiedlich
gesehen: eine "offene Hermeneutik" (Mall) wird verlangt; ein
emanzipatorisches Denken (Fornet-Betancourt), das die
eigenständigen Beiträge der verschiedenen Regionen neu bewertet;
neue Perspektiven in der allgemeinen Geschichtsschreibung der
Philosophie (Holenstein, Paul); und schließlich neue Verfahren
der philosophischen Theoriebildung und Argumentation (Paul) mit
dem Ziel einer "gegenseitigen Aufklärung", die unter dem Namen
von "Polylogen"
(Wimmer) angeführt werden.
Vgl. dazu ausführlicher:
Franz Martin Wimmer: "Interkulturelle versus komparative
Philosophie – ein Methodenstreit?" In: Zeitschrift für
Kulturphilosophie 3, Nr. 2 (2009): 305-12.
- Zweitens fällt die sehr unterschiedliche Einschätzung
der Rolle des religiösen und theologischen Denkens
sofort auf. Spricht Panikkar davon, "die Philosophie" sei nichts
weiter als eine "Begleiterin auf dem Weg" und dieser "Weg ist
das, was in vielen Kulturen Religion genannt wird", so läßt dies
an die alte Metapher von der "ancilla theologiae" denken.
Tatsächlich kommt vielen, wenn von "Interkulturalität" die Rede
ist, zu allererst so etwas wie "Religion" in den Sinn. Dies ist
nicht wirklich verwunderlich, aber höchst irreführend. Wenig
verwunderlich ist dies, wenn man sieht, wie selbstverständlich
etwa von einem Dialog "mit anderen Kulturen" gesprochen wird
(beispielsweise im "Katechismus der katholischen Kirche"), wenn
in Wirklichkeit doch nichts anderes als ein Dialog mit anderen
Religionen gemeint ist. Irreführend ist eine solche Überbetonung
des Religiösen als Unterscheidungsmerkmal von "Kulturen" - und
dementsprechend als vorrangiger Gegenstand interkultureller
Reflexion - allemal, denn sie verstellt den Blick auf die
vielfältigen anderen Bereiche des Lebens, die in der Entwicklung
philosophischer Reflexion bedeutsam sind: der Techniken und
Wissenschaften, der sozialen Organisationsformen und der Künste.
Vgl. dazu Panikkars Text:
Raimon Panikkar: "Religion, Philosophie und Kultur." In:
Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 1, Nr.
1 (1998): 13-37.
und kritisch dazu:
Franz Martin Wimmer: "Sind
religiöse
Dialoge mögliche Polyloge?" In Philosophie aus
interkultureller Sicht. Philosophy from an Intercultural
Perspective, Hg.: Notker Schneider, Dieter Lohmar, Morteza
Ghasempour et al., S. 317-25. Amsterdam: Rodopi, 1997.
- Ein dritter wichtiger Punkt, worin sich Unterschiede zeigen,
liegt im Umfang
und
Inhalt des Philosophiebegriffs. Zuweilen wird dieser
Ausdruck so weit verwendet, dass sich schwer vorstellen läßt,
welche Formen des Denkens nicht damit bezeichnet werden könnten.
Das betrifft natürlich auch andere Ausdrücke. Es ist
beispielsweise davon die Rede, dass es "keine menschliche Kultur
... ohne die reflexive Praxis der Vernunft" (Fornet-Betancourt)
gebe. Das kann und wird mit Fug bezweifelt werden. Es macht
allerdings das gemeinsame Anliegen der Vertreter einer
interkulturellen Orientierung in der Philosophie aus, dass sie
gegen einen allzu engen, insbesondere einen europazentrischen
Philosophiebegriff angehen. Wenn sie dann aber bestimmen sollen,
was denn noch und was nicht mehr zur Philosophie zu rechnen sei,
sind sie uneins.
Vgl. dazu:
Raúl Fornet-Betancourt: Zur interkulturellen Transformation der
Philosophie in Lateinamerika. Frankfurt/M.: IKO - Verlag für
Interkulturelle Kommunikation, 2002.
Ich nenne diese strittigen Punkte, weil sie einerseits unübersehbar
sind und andererseits deutlich machen, dass das Anliegen einer
interkulturell orientierten Philosophie mit den Lebensbedingungen
der heutigen Menschheit gegeben ist. Es spricht keineswegs gegen
dieses Unternehmen, dass die darin leitenden Vorstellungen und
Begriffe nicht von Anfang an klar und konsensuell sind.
Es
verhält sich ein wenig so wie mit Gärtnern, die eine neue Art
von Garten anlegen wollen und zunächst einmal behaupten, sie
gingen davon aus,
•
dass es in Wirklichkeit kein Unkraut gebe
(also: dass jede kulturell-philosophische Tradition gleich
gültig sei) und
•
dass gewöhnlich viel zu viel gejätet und
vorneweg geordnet würde, ohne den Pflanzen ihren natürlichen Weg
zu lassen (dass also jede Tradition nach ihrer eigenen Weise
belassen werden soll).
Sobald es in einem solchen
Garten dann zu wachsen beginnt, wird sich herausstellen, dass
die Unterscheidung zwischen Kraut und Unkraut sehr wohl wieder
getroffen und streng angewandt wird. Es ist - vielleicht - eine
etwas andere Grenze festgelegt worden, aber Grenzenlosigkeit
wird es höchstens als rhetorische Übertreibung geben. Darum ist
es sinnvoll, zuzusehen, was diese Gärtner tun. Es reicht nicht
aus, zu hören, was sie sagen.
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Was also tun "interkulturelle Philosophen" oder wollen es
zumindest tun?
Eine der zutreffendsten Formulierungen für das Programm eines
interkulturell orientierten Philosophierens ist wohl die, dass es
darauf ankomme, die "Stimmen der anderen" zu Gehör zu bringen. Dies
drückt sich darin aus, dass in Konferenzen, Publikationen,
Studiengängen bewusst versucht wird, dem gewöhnlichen Übergewicht
der akademisch-ökonomischen Zentren gegenzusteuern. Vielfalt der
Sichtweisen, auch Vielfältigkeit der Ausdrucksformen werden
angestrebt.
Doch ist es selbstverständlich, dass auch damit keine grenzenlose
Offenheit gegeben ist. Die allermeisten Diskussionen finden nach wie
vor im akademischen Rahmen und gemäß den in diesem Raum geltenden
Verhaltensregeln statt. Auch werden sie in den hauptsächlichen
europäischen Wissenschaftssprachen geführt. Sie schließen damit
schon rein von der Organisation der Diskussion her eine große Klasse
von möglicherweise kompetenten DenkerInnen der nicht-okzidentalen
Traditionen aus.
Die angestrebte Öffnung der Diskussion in Richtung auf eine
Gleichrangigkeit von mehreren oder vielen kulturell geprägten
Philosophietraditionen ergibt an sich weder thematische Schwerpunkte
noch eine bestimmte Art methodischen Vorgehens. Doch können wir kurz
einige Fragen stellen: Worüber reflektieren die "interkulturellen
Philosophen" gewöhnlich? Beziehen sie neue Quellen in ihre Diskurse
ein? Gibt es neue Themen, die hier auftauchen? Und: Gibt es neue
Methoden (z. B. der Argumentation), die unter ihnen als angemessener
gelten als diejenigen der kritisierten eurozentrischen Tradition?
Ich kann diese Fragen hier zunächst nur kursorisch und
unsystematisch beantworten.
Neue Quellen?
Zur ersten Frage ist zu betonen, dass es selbstverständlich neue
Quellen gibt, die hier einbezogen werden. Es ist bereits eine
Veränderung der akademischen Praxis, wenn Logik-Texte japanischer
Buddhisten (wie bei Paul) oder Rechtsvorstellungen in einer
Bantu-Tradition überhaupt (vgl. Wiredu oder auch Kimmerle) in
systematischen Zusammenhängen von Philosophen interpretiert werden.
Es war allzulange selbstverständliche Voraussetzung, dass das eine
seinen Ort in der Kulturgeschichte Japans, das andere in derjenigen
Afrikas habe, dass die einschlägigen Disziplinen daher die
Japanologie und die Afrikanistik, nicht aber die Philosophie seien.
Es ist insgesamt immer noch so, mit wenigen Ausnahmen: Wer
Philosophie studiert oder lehrt, kann dies in der Regel tun, ohne
sich jemals mit der Frage konfrontiert zu sehen, was denn
chinesische, indische, afrikanische oder lateinamerikanische
Philosophen zu einer bestimmten Sachfrage beizutragen hätten. Dass
neue Quellen als ernstzunehmend vorgestellt und bearbeitet werden,
ist dem gegenüber bereits ein wichtiger Schritt.
Vgl. dazu:
Gregor Paul: "Zur Rolle der Logik in buddhistischen Texten. Unter
besonderer Berücksichtigung des Zhonglun (jap. Chûron)." In: Sünden
des Worts. Festschrift für Roland Schneider zum 65. Geburtstag, Hg.:
Judit Árokay und Klaus Vollmer, S. 425-48. Hamburg:
Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens e.V., 2004.
Kwasi Wiredu: "Custom and Morality: A comparative Analysis of some
African and Western Conceptions of Morals." In: Conceptual
Decolonization in African Philosophy. Four Essays, Hg.: Olusegun
Oladipo, S. 33-52. Ibadan, Nigeria: Hope Publ., 1995.
Heinz Kimmerle: "Ein neues Modell des Entwicklungsdenkens. Die
Bedeutung interkultureller Dialoge besonders auf den Gebieten der
Philosophie und der Kunst für die Entwicklungstheorie." In:
Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge. Festschrift
für Heinz Paetzold zum 60., Hg.: Roger Behrens, Kai Kresse und
Ronnie M. Peplow, S. 252-67. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2001.
Es ist eklatant, dass interkulturelle Philosophie zunächst von
philosophiehistorischen
Projekten und Thesen ausgegangen ist. Aufbauend auf der seit einem
Jahrhundert betriebenen "komparativen Philosophie" wird gefragt, in
welchen kulturellen Regionen und auf welche unterschiedliche Weisen
Philosophie in der Menschheitsgeschichte entwickelt worden
ist. Dabei wird charakteristischerweise die traditionelle Dichotomie
zwischen Westen (Europa und okzidentalisierte Welt) und Osten (Ost-
und Südasien) als unzureichend und auch unzutreffend nicht weiter
aufrecht erhalten, sondern verlangt, eine allseitigere Geschichte
des philosophischen Denkens der Menschheit zu erarbeiten.
Vgl. dazu:
Franz Martin Wimmer: "Philosophiehistorie in interkultureller
Orientierung." In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles
Philosophieren 2, Nr. 3 (1999): 8-20.
Neue Themen?
Gibt es auch neue Themen? Schaut man darauf, was für Fragestellungen
hier vorherrschen, so ist die Innovation anscheinend bislang nicht
besonders groß. Mir zumindest ist in der einschlägigen Literatur und
bei den einschlägigen Konferenzen noch kein Thema begegnet, das
nicht auch in der okzidentalen Tradition des Philosophierens
irgendwann präsent gewesen wäre. Das stimmt natürlich nicht für die
Details. Es macht sehr wohl einen Unterschied, es führt auch zu
neuen Thesen und vielleicht zu neuen Einsichten, wenn die
Gesichtspunkte, die Begriffe und Thesen sehr unterschiedlicher
Traditionen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Aber das
ändert nichts daran, dass die Themen dieselben sind, wie sie eben
auch sonst unter Philosophen verhandelt werden: Fragen nach
Wahrheitskriterien, nach Voraussetzungen von Logik, nach
ethisch-moralischen Normen, nach einer Theorie der Ästhetik usw.
Neue Methoden?
Ob es neue Methoden gibt oder doch geben sollte, ist die nächste
Frage. Methoden bestimmen sich nach einem Ziel und den erkennbaren
Wegen zu ihm. Zu den Methoden des Philosophierens, wie immer diese
sonst bestimmt werden, gehört jedenfalls die Klärung von Begriffen,
die Entwicklung einer angemessenen Terminologie und die Untersuchung
von stillschweigenden oder auch expliziten Voraussetzungen von
Urteilen. In dieser Hinsicht bringt interkulturell orientiertes
Philosophieren insofern eine deutliche Erweiterung des
Reflexionshorizonts, als Begrifflichkeiten aus anderen als den
europäischen Traditionen in die Debatte eingebracht werden. Es ist
auch deutlich, dass die Auseinandersetzung mit außereuropäischen
Denktraditionen unvermerkte Vorannahmen okzidentaler Philosophie
bemerkbar machen kann.
Die Frage nach der Methode geht jedoch noch einen Schritt weiter.
Fraglich ist ja, mit welchen Verfahren der Argumentation dann
philosophiert werden kann, wenn nicht von vornherein feststeht,
welche Ausdrucksmittel überhaupt als angemessen zu betrachten sind.
Dies ist zwar kein neuartiger Sachverhalt - es gibt in der
Philosophie so gut wie in anderen Disziplinen unterschiedliche
Stile, die ein gegenseitiges Verstehen oder auch nur Ernstnehmen
erschweren können, aber unvermeidbar sind -, jedoch verschärft sich
die Sache, wenn Angehörige mehrerer Kulturen miteinander zu
argumentieren beginnen. Dies ist nicht auf die Frage der gemeinsamen
Sprache bezogen: eine solche ist unabdingbar und es ist nicht
unbedingt ein Nachteil für die Klarheit des Ausdrucks, wenn sie
nicht die Muttersprache ist. Soll aber beispielsweise die Rezitation
eines Liedes aus Afrika ebenso als Bestandteil einer philosophischen
Argumentation gelten wie die Interpretation der These eines
Klassikers der okzidentalen Tradition? Selbst wenn innerhalb der
Gegenwartsphilosophie - etwa im Bereich der Beispiele, die von
Philosophen der Analytischen Philosophie gerne angeführt werden -
die Grenze der als zulässig erachteten Quellen manchmal ziemlich
weit gezogen wird, dürfte es doch Widerstände hervorrufen, wenn
jemand ein afrikanisches Lied im Rahmen seines Arguments singt und
vielleicht auch noch darauf besteht, es müsse, um den Sinn zu
erfassen, dazu getanzt werden.
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Vier Thesen
Vier problematische Thesen
lassen sich aus den Diskussionen um "Interkulturelle Philosophie"
extrahieren, die zu begründen oder zu widerlegen sind:
- Kultur- und
Philosophiegeschichte seien im allgemeinen eurozentrisch. Damit sei eine
Begrenzung oder Beschränkung gegeben. Denn okzidentale Philosophie sei
(auch) eine
Regionalphilosophie - eine Tradition unter mehreren.
- Jede als universell geltend
intendierte These der Philosophie ist möglicherweise kulturell geprägt;
kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach deren eigenem Anspruch nicht
ausreichend.
- Eine Ausweitung des
kulturellen Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich
und nötig: Neue Quellen sind zu erschließen, neue
Traditionen zu interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.
- Das Bewusstsein von der Überlegenheit
europäischer
philosophischer Tradition ist kritisierbar und zu kritisieren.
Jede dieser Thesen, die in der Literatur zur interkulturellen
Philosophie mehr oder weniger explizit formuliert werden, hat
weitreichende Konsequenzen für
Forschung und Lehre der Philosophie im allgemeinen. Es
reicht als Hinweis aus, dies für die erste der genannten Thesen
anzusprechen.
Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um
eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von
Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das sich
ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft, selbst
"ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch auf
Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In jeder
Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme möglichst
differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder aufzusuchen
und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem
"Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" gesprochen worden,
wobei aber nicht zu vergessen ist, dass jeder interkulturelle Dialog
notwendig vom Eigenen ausgehen muss. Dies betrifft natürlich schon
den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu
philosophischen Fragen, welcher Orientierung auch immer, muss seinen
Gegenstand definieren, muss mithin von nicht-philosophischen
Gegenständen abgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das bloße Faktum
der Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist
es so, dass im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen
subsumiert ist, was rechtens dazugehört – dies hat die Diskussion um
"afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein
inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt spiegelt,
ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr wird
interkulturell orientiertes Philosophieren einen Philosophiebegriff
zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch formale
Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion ist
dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.
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Darstellungen und Quellen:
Weitere TEXTE zum Nachlesen:
- Zur
Aufgabe
des Kulturvergleichs in der Philosophiehistorie (Wimmer 1988)
Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie.
Eine Einführung. Wien: WUV, 2004
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