Wimmer: Vorlesung SS 2011
602023 Interkulturelle Philosophie - Einführung
4. Einheit: 30. Mai
a) Wiederholung und Anschluss an
vorige Vorlesungen, Besprechung von Fragen
b) THEMA: Entstehungsbedingungen von
Philosophien
Verbreitung,
Übernahme und "Wanderungen" von Philosophie
Adam-Hypothese | Griechischer
Ursprung | Mehrfache Ursprünge
| Wissenschaftssoziologie
| Übernahmen und Wanderungen
"Adam-Hypothese" oder "Vorsintflutliche Philosophie":
Verbreitet ist in der frühen Neuzeit die Tendenz,
zusammen mit einer biblisch inspirierten Weltgeschichte, auch die
Geschichte der Weisheit oder der Philosophie auf den Beginn der
Menschheitsgeschichte (im Paradies) zurückzuführen.
Als Vertreter einer Richtung der Philosophiehistorie, die sehr stark an
der Bibel orientiert ist und im Lauf des 17. Jahrhunderts bemerkenswert
einflußreich war, kann Paul(us) Bolduan(us) stehen, der 1616
seine "Bibliotheca philosophica" herausbringt. In der "epistula
dedicatoria" findet sich da eine überraschende Geschichte: Adam
und Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie Gott
lobpreisten und theoretische Untersuchungen über die
Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des ersten
Meisters, habe somit das "specimen philosophicum" begründet und
Eva war seine erste Schülerin. Von Generation zu Generation wurde
diese Urweisheit weitergegeben, und noch Noah habe in der Arche seine
Söhne gelehrt; später folgten die Schulen des Abraham und des
Moses, wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium", also
eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"), die bis zur
Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten werden als
Philosophen betrachtet, und während des Exils der Juden in Babylon
habe sich ihre Weisheit auch unter den Orientalen verbreitet, sei nach
Persien gelangt, von wo dann die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst
sei dann der wahre Meister gewesen, habe sich auch als solcher
deklariert (Math. 23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule
begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern. Dieser
heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber ist die profane
Weisheit der Griechen und anderer Völker sekundär.
(Vgl. Paulus Bolduanus: Bibliotheca philosophica (etc.).
Lipsiae: Th. Schureri, 1616.)
Eine vergleichbare Weise des Zugangs zu den überlieferten Thesen
der Philosophie entwickelt später die Schule von Cambridge.
Theophilus Gale (1628 - 1678) mit seiner "Philosophia generalis" (1676)
ist einer ihrer Vertreter. Darin wird der Leitgedanke entwickelt,
daß alle Philosophen aus ein und derselben Quelle geschöpft
hätten, nämlich aus der Offenbarung. In erster Linie sei also
unter den Philosophen Moses zu nennen, aber auch die orientalischen und
griechischen Philosophen werden auf diese Quelle
zurückgeführt. Die Philosophie der Hebräer erscheint als
die "philosophia prima". Abraham, Moses, Salomon und Hiob sind ihre
bedeutendsten Vertreter. Unter den Griechen stehe Platon der Bibel am
nächsten, und Gale greift hier einen Topos von neuem auf, der sich
schon bei Philon und Clemens von Alexandrien findet: Platon sei ein
indirekter Schüler des Moses und der Bibel.
Noch in der Schule von Christian Wolff scheint die Adam-Noah-Hypothese
plausibel, wenn etwa Gottsched 1734 ausführt:
... nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der
erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist... Weil diese
Meinung in Deutschland nicht sehr bekannt ist, so will ich doch einige
Gründe derselben anführen. ... sind auch die Lehren der
Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit bekannt gewesen,
als in China. Ihre Geschichte sind weit richtiger, ihre politische
Regierungsforme weit dauerhafter und ordentlicher gewesen, als der
anderer Völker ihre: welches ohne Zweifel der grössern
Weisheit des Noah, vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist. Und
zuletzt, sagen die Chineser, daß ihr FOHI in der nordwestlichen
Provinz Xensi gewohnt habe; von welcher Gegend er nothwendig gekommen
seyn muß, als er in Armenien oder Mesopotamia, aus dem Kasten
gegangen, und allmählich nach China gezogen. ... Was ... der
Chineser ihren aufgeklärten und geläuterten Verstand am
besten darthut, ist, daß sie die meisten künstlichen
Erfindungen der Europäer, eher als wir gehabt haben: z.E. die
Magnetnadel, das Schießpulver, die Buchdruckerkunst, ja so gar
den Kreislauf des Geblütes sollen sie eher gewußt und
gebrauchet haben, als wir alle ... Nun kann es wohl seyn,
daß die heutigen Chineser es in den theoretischen Wissenschaften
den Europäern nicht gleich thun ... ((Mängel in: Zeichnen,
Malen, Bauen; Sternkunde; Naturkunde; Art zu schreiben)) Wie aber
daraus nicht folget, daß China gar nicht philosophire; also
folget noch weniger, daß sie vormals keine Weltweisen gehabt. Von
ihren Nachbarn, den Japonesern, ist eben das zu sagen.
(Zitiert nach: Johann Christoph
Gottsched: Erste Gründe der
gesammten Weltweisheit etc. 6. Aufl. Leipzig: Breitkopf, 1756,
S. 7-12)
Um diese Zeit wird allerdings ein skeptisches Argument dagegen
entwickelt, das sich durchsetzt und die Frage nach einer
(vorschriftlichen) Philosophie für lange Zeit zum Verschwinden
bringt: Jakob Brucker, der das philosophiehistorische Standardwerk der
Aufklärung verfasst,
(Historia Critica Philosophiae a
Mundi Incunabilis, ad Nostram usque Aetatem Deducta. Vol. I-V.
Lipsiae: Breitkopf, 1742 - 44) schreibt darin und in anderen seiner
Werke, dass der biblische Text schlicht nicht ausreiche, um Adam als Philosophen zu bezeichnen,
sondern höchstens als Seher oder Propheten (vatis). Man dürfe die
Kenntnisse, die Adam und seinen Söhnen zugeschrieben werden, nicht
mit der Philosophie verwechseln:
... si rudem quandam et empiricam rerum ad
felicitatem facientium notitiam Adamo et filiis eius vindicare placet,
illa tamen com scientia philosophica confundenda haud est.
(Jakob Brucker: Institutiones Historiae Philosophicae Usui
Academicae Iuventutis Adornatae. 2. Aufl. Lipsiae: Bernh.
Christoph Breitkopf, 1756, S. 17)
Diderot, dessen philosophiehistorische Beiträge zur
Encyclopédie sich stark
auf Brucker stützen, verwirft die Adam-Hypothese in einem
Aufwaschen mit einer anderen These zum Ursprung der Philosophie, die
ihm noch absurder erscheint:
Einige von denen, die den Ursprung der Philosophie zu
ergründen suchen, machen nicht bei dem ersten Menschen halt, der
nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, sondern schwingen sich zum
Himmel auf, als ob die Erde keine Stätte wäre, die ihres
Ursprungs würdig wäre. Sie suchen die Philosophie bei den
Engeln, wo sie sie uns in ihrem vollen Glanz zeigen. ... Ich versage
mir das Vergnügen, hier zu beweisen, wie kläglich alle diese
Gedankengänge sind, durch die man darlegen will, daß die
Engel und die Teufel Philosophen, ja sogar große Philosophen
seien. Lassen wir diese Philosophie der Bewohner des Himmels und der
Unterwelt auf sich beruhen; sie ist uns zu hoch. Sprechen wir von der
Philosophie, die den Menschen eigentlich zukommt und für die wir
zuständig sind.
("Artikel aus Diderots Enzyklopädie"
Hg.: Manfred Naumann. Leipzig: Reclam, 1984, Art.
"Antediluvienne", S. 77-79)
Einen zeitgenössischen österreichischen Jesuiten scheint das
bruckersche Argument noch nicht überzeugt zu haben:
Ortum Philosophiae suum ad mundi exordium
refert, & primum hominem, primum sui cultorem censet ... Et certe
sine sapientia fieri non potuisse vel Plato (in Cratylo) existimavit,
ut omne, quod vocavit Adam, animae viventis, ipsum sit nomen ejus
(Genes. Cap. II, v.19)
(Michael Klaus: Brevis introductio in philosophiam
comprehendens tum doctrinam tum historiam philosophiae. Viennae:
Trattner, 1757, S. 19)
wogegen eine Generation später der Grazer Theologe
Gmainer, kirchenpolitisch ein Vertreter des Josephinismus,
einschränkend schreibt:
In Rücksicht nun des historischen
Ursprunges der Weltweisheit machen viele unsern Stammvater Adam zum
Urheber derselben, und beruffen sich deshalb auf die Erzählung des
Moses, allein es ist noch nicht außer allem Zweifel gesetzet: ob
man in diesem Punkte aus der heiligen Geschichte etwas
Zuverläßiges schöpfen könne. Da ... aus der
Erzählung Mosis sich nicht schließen läßt,
daß Adam eine solche Fertigkeit gehabt habe, so ist bei den
ersten Menschen keine Philosophie im strengen Verstande zu suchen. ...
Indessen kann man unsern Stammältern, und ihren Enkeln eine
natürliche Vernunftlehre keineswegs absprechen, auch würde
man ihnen zu wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man nicht
zugeben wollte, daß sie ein undeutliches Kenntniß der
ersten Grundwahrheiten hatten, aber von einer deutlichen Einsicht in
dieselben zeigt sich nicht die geringste Spur. (I, 16-18)
(Franz Xaver Gmeiner: Litterärgeschichte des Ursprungs und
Fortgangs der Philosophie, Bd. I, II. Grätz, 1788-89.)
Bei Gmeiner wird das also abgelehnt, aber immerhin noch
diskutiert; später kommt die Frage überhaupt nicht mehr vor.
Erst im 20. Jahrhundert taucht die Frage in veränderter Form
wieder auf: als Frage nach philosophischem Denken in oralen
Traditionen, nach sog. "Ethnophilosophie" usw.
Vgl. dazu den Vortrag von Elmar Holenstein: "Anfänge der
Philosophie (Radiovortrag)." In Philosophische
Brocken (Radio Orange) 2003. Als Download in der Audiothek
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Der (einzige) griechische Ursprung:
Standardauffassung in der Mehrzahl der Darstellungen ab ca 1750
Die Griechen haben zu erst die Flügel
ihres Verstandes in die Höhe geschwungen, und zu philosophiren
angefangen...
(Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das
ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica.
Bd. I.
Halle, 1715, S. 290
Das war nicht ganz selbstverständlich und Brucker (s.o.) hat immerhin noch in den 1740er Jahren die
Frage gestellt, die man bei späteren Philosophiehistorikern und
Philosophen oft auch nur als neugierige Nachfrage vergeblich sucht, wie
es denn mit der Philosophie in anderen Weltteilen (einschließlich
Afrikas und dem präkolumbischen Amerika) bestellt sei - deren
Bewohner seien "von Natur" doch "nicht weniger ungeeignet" dafür
als die Europäer:
Restant reliquarum terrae partium incolae, natura ad
philosophiam non magis inepti quam Europaei ...
Aber sie sind insgesamt und seit jeher zu sehr der
Religion verhaftet:
Idem vero, quod olim, hodie apud has gentes obtinet, ut
religio cum philosophia arctissimo vinculo haereat ...
weshalb er nur das Wenige der Traditionen Asiens, wovon
eine gewisse Kenntnis da sei, als "barbarische", doch immerhin als
"Philosophie" beschreiben. Die Nachfrage in Afrika und Amerika habe
leider gar nichts erbracht -
In Africa enim et America tam detestabilis
vbique
superstitio regnat, vt non modo philosophiam omnem, sed et vsum
rationis eiurasse videantur.
(Jakob Brucker: Institutiones Historiae Philosophicae
ed. cit., S. 849, 850, 884)
Den Beginn der Philosophie
mit der griechischen
Philosophie gleichzusetzen, braucht im weiteren Verlauf der
Philosophiehistorie meist keine besondere Argumentation oder
Begründung mehr. Beispiele dafür wären Legion.
Aber nicht immer wird das selbstverständlich angenommen. Hegels
"Abscheiden des Orients" in seiner Vorlesung (ca 1830) ist
sorgfältig argumentiert und mit einem
verhältnismäßig genauen Referat chinesischer und
indischer Philosophie verbunden. Erst dann gelangt er zum Ergebnis:
S. 92: Der eigentliche Anfang der Philosophie ist da zu
machen, wo das
Absolute nicht als Vorstellung mehr ist, sondern der freie Gedanken -
nicht bloß das Absolute denkt - die Idee desselben erfaßt...
Die Gesetzgebung, der
ganze Zustand des Volkes hat seinen Grund allein
im Begriffe, den der Geist sich von sich macht, in den Kategorien, die
er hat. Sagen wir, zum Hervortreten der Philosophie gehört
Bewußtsein der Freiheit, so muß dem Volke, wo Philosophie
beginnt, dies Prinzip zugrunde liegen; nach der praktischen Seite
hängt damit zusammen, daß wirkliche Freiheit, politische
Freiheit aufblühe...
93: In der Geschichte
tritt daher die Philosophie nur da auf, wo und
insofern freie Verfassungen sich bilden. Der Geist muß sich
trennen
von seinem natürlichen Wollen, Versenktsein in den Stoff. Die
Gestalt,
mit der der Weltgeist anfängt, die der Stufe jener Trennung
vorausgeht,
ist die Stufe der Einheit des Geistes mit der Natur, welche, als
unmittelbar,
nicht das Wahrhafte ist. Das ist das orientalische Wesen
überhaupt;
die Philosophie beginnt in der griechischen Welt.
Dies ermöglicht und erzwingt das "Abscheiden des
Orients und seiner Philosophie"
95: Der Geist geht wohl im Orient auf, aber das
Verhältnis ist
noch ein solches, daß das Subjekt nicht als Person ist, sondern
im objektiven Substantiellen (welches teils übersinnlich, teils
auch wohl mehr materiell vorgestellt wird) als negativ und untergehend
erscheint. Das Höchste, zu dem die Individualität kommen
kann, die ewige Seligkeit, wird vorgestellt als ein Versenktsein in die
Substanz, ein Vergehen des Bewußtseins und so des Unterschiedes
zwischen Substanz und Individualität, mithin Vernichtung. Es
findet mithin ein geistloses Verhältnis statt, insofern das
Höchste des Verhältnisses die Bewußtlosigkeit ist.
95: So unbestimmt die
Substanz der Orientalen ist, so unbestimmt, frei,
unabhängig kann auch der Charakter sein. Was für uns
Rechtlichkeit, Sittlichkeit, ist dort im Staate auch - auf
substantielle, natürliche, patriarchalische Weise, nicht in
subjektiver Freiheit. Es existiert nicht das Gewissen, nicht die Moral;
es ist nur Naturordnung, die mit dem Schlechtesten auch den
höchsten Adel bestehen läßt. Die Folge davon ist,
daß hier kein philosophisches Erkennen stattfinden kann.
96: Das Orientalische ist
so aus der Geschichte der Philosophie
auszuschließen; im ganzen aber will ich doch davon einige Notizen
geben, besonders über das Indische und Chinesische. Ich habe dies
sonst übergangen; denn
man ist erst seit einiger Zeit in den Stand gesetzt, darüber zu
urteilen. Man hat früher großes Aufsehen von der indischen
Weisheit gemacht, ohne zu wissen, was daran ist; erst jetzt weiß
man dies, und es fällt natürlich dem allgemeinen Charakter
gemäß aus.
Und somit steht für Hegel fest:
(Hegel, Georg Wilhelm
Friedrich:
Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie. Zitierte Texte aus: Irrlitz, Gerd und Karin
Gurst (Hg.): Bd. 1. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1982)
So viel Mühe macht sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum ein
Autor mehr. Friedrich Kirchner schreibt:
Von
Philosophieren kann erst bei den Hellenen die
Rede sein. Dieses hochbegabte, unter glücklichem Himmel im
günstigsten
Lande wohnende Volk hat zuerst eine Ahnung von der Würde und
Aufgabe
des Menschengeistes gehabt.
Der Orient, von geknechteten, unmündigen, phantastischen
Volksherden bewohnt, konnte nur Religionssysteme, keine Philosophie
hervorbringen. Was von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist
Fabel oder Mißverständnis. Die Juden waren ohne
philosophische Anlage. Zoroasters Zend-Avesta enthält neben der
dualistischen Idee nur religiöse und physikalische Lehren, was
darin Philosophisches ist, stammt von späteren, griechischen
Einflüssen her. Von der bei den Griechen viel gerühmten
ägyptischen Weisheit wissen wir heute nicht mehr als damals, denn
sie gehört ins Reich der Sage. Kongfutse und Laotse haben den
Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische Mythologie über
Himmel und Erde gebracht. Ja, selbst die höchste dieser
orientalischen Spekulationen, die indische, bietet unter grotesken, oft
abenteuerlichen Sagen nur den einen großen Gedanken, daß
alles aus der einen Naturkraft hervorgehe und in dieselbe
zurückkehre ... Aber hier, wie bei allen orientalischen Urkunden,
macht die Unsicherheit der Zeitbestimmung jede genauere Angabe
unmöglich.
(Friedrich Kirchner: Geschichte der Philosophie von Thales bis
zur Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig: Weber, 1896, S. 13f)
Und auch im 20. Jahrhundert konnten Schüler auf der ganzen Welt
ziemlich sicher sein, dass die richtige Antwort auf die Frage nach dem
ersten Philosophen "Thales" laute. Sie konnten es beispielsweise von
Russell erfahren:
Mehrere Ursprünge
Asiens Philosophietraditionen sind aus dem
europäischen Bewusstsei nie ganz verschwunden. Insbesondere die
Zeit der Romantik (z.B. mit Friedrich Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier.
Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen
Uebersetzungen indischer Gedichte. Heidelberg: Mohr und Zimmer,
1808) und der Entdeckung der Sprachverwandtschaft zwischen dem Sanskrit
und westlichen Sprachen brachte zeitweise die Idee einer "zweiten
Renaissance" (nämlich eines Anknüpfens an indisches Denkens)
mit sich.
So schreibt Bachmann, ein Zeitgenosse Schlegels über eine
Weltgeschichte der Philosophie:
... ob man nämlich auch die orientalischen Völker,
die Indier, Perser etc. in dieselbe aufnehmen, oder gleich bey den
Griechen anheben solle. ... Die Entscheidung der Frage beruht auf der
Ansicht der Philosophie.
Wenn Philosophie als Wissenschaft, dann müsse man
mit den Griechen beginnen; wenn aber auch "Vernunft und Gemüt" als
Quellen gelten sollen, so verdienen die "orientalischen Völker"
allerdings einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der
Philosophie, wovon sie niemand ohne großes Unrecht vertreiben
kann.
Es sei dann aber eine Unterscheidung zwischen Mythen und
Philosophie nötig:
denn die mythologischen Dichtungen derselben sind eine in das
Gewand der Poesie gekleidete Sammlung nationeller Sagen, Begriffe und
Meynungen, die Lehren ihrer Weisen hingegen sind Resultate ihrer
Forschungen über das Wesen der Gottheit und der Dinge.
(Carl Friedrich
Bachmann: Über Philosophie und ihre
Geschichte. Drei academische Vorlesungen. Jena: Crökersche
Buchhandlung, 1811, S. 74, 76)
Und ein österreichischer Autor des Vormärz ist sogar
... der unmaßgeblichen Meinung, daß die
Philosophie ihre Geschichte nicht erst von der späteren Periode
der mehr wissenschaftlichen Forschungen griechischer Philosophen,
namentlich des Thales, sondern schon von den ältesten
Philosophemen der orientalischen Völker her datire, wenn gleich an
diesen die Fantasie mehr Antheil haben mag, als der Verstand; zumal, da
sich aus der Vergleichung beider ergibt, daß nicht nur die
Griechen von den Morgenländern gelernt haben, sondern auch,
daß diese zuweilen richtiger ahneten (z.B. die Perser) als jene
lehrten (z.B. die Atomisten).
Er setzt sich in diesem Punkt mit drei
"gewöhnlichen Einwürfen" gegen diese Ansicht auseinander:
Einwurf 1.
"Die orientalischen
Philosopheme nahmen den Charakter positiver Dogmen an; sie gehören
also nicht in die Geschichte der reinen Vernunftwissenschaft." -
Ursprünglich wenigstens waren sie keine positiven Dogmen.
Übrigens grenzte der Dogmaticismus schon so mancher
philosophischen Schule gleichfalls ziemlich nahe an´s Positive.
Einwurf 2.
"Sie haben keinen
philosophischen Charakter; denn die Fantasie herrscht darin vor." - Der
Form nach freilich nicht; aber der Materie nach oft mehr, als so
manches philosophische System.
Einwurf 3.
"Sie hatten nie einen
günstigen, wohl aber oft einen nachtheiligen Einfluß auf die
Fortbildung der Philosophie." - Auch was nachtheiligen Einfluß
hatte, muß erwähnt werden; sonst müßte man
manches philosophische System übergehen. Übrigens hatten jene
in der That oft auch günstigen Einfluß, z.B. auf Anaxagoras,
Pythagoras, Platon, u.s.w.
(Johann Peithner von
Lichtenfels: Auszug des
Wissenswürdigsten aus der Geschichte der Philosophie. Wien:
J. G. Heubner, 1836, S. 2f)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert sich, vom britischen Indien
ausgehend, komparative Philosophie, die zumindest einige große
Traditionen Asiens in einen Vergleich mit okzidentalen zu bringen
sucht. Ebenso entwickelt marxistische Philosophiehistorie prinzipiell
internationale Sichtweisen. Um die Mitte dieses Jahrhunderts formuliert
Karl Jaspers seine These von der Achsenzeit,
die er ca 800-200v in Eurasien annimmt:
In dieser Zeit drängt sich
Außerordentliches zusammen. In
China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der
chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und
ungezählte andere, - in Indien entstanden die Upanischaden, lebte
Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis
und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in
China, entwickelt, - in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild
des Kampfes zwischen Gut und Böse, - in Palästina traten die Propheten auf von Elias
über Jesaias und
Jeremias bis zu Deuterojesaias, - Griechenland sah Homer, die
Philosophen - Parmenides, Heraklit, Plato - und die Tragiker,
Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet
ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd
gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie
gegenseitig voneinander wußten.
Es erwuchsen geistige Kämpfe mit den
Versuchen, den andern zu
überzeugen durch Mitteilung von Gedanken, Gründen,
Erfahrungen. ...
In diesem Chaos
wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir
bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen
geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne
wurde der Schritt ins Universale getan.
Durch diesen
Prozeß wurden die bis dahin unbewußt geltenden
Anschauungen, Sitten und Zustände der Prüfung unterworfen, in
Frage gestellt, aufgelöst. Alles geriet in einen Strudel. Soweit
die überlieferte Substanz noch lebendig und wirklich war, wurde
sie in ihren Erscheinungen erhellt und damit verwandelt.
Zwei Buchtitel Ende der 1980er Jahre belegen, dass die These vom
einzigen (griechischen) Ursprung nicht mehr weiter als
selbstverständlich angenommen werden kann:
Ralf Moritz, Hiltrud
Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann (Hg.): Wie und warum entstand Philosophie in
verschiedenen Regionen der Erde? Berlin: Akademie-Verlag, 1988.
Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann: Die drei Geburtsorte der Philosophie.
China, Indien, Europa. Bonn: Bouvier, 1989.
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Moderne
Wissenschaftssoziologie
Besprochen wird:
Randall Collins: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of
Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ.
Pr., 2000. Im Internet
- Dazu siehe:
Ruth
Bauer und Barbara Wandl: "Spannungen zwischen einheimischen und
importierten Ideen - zur Darstellung der islamischen Philosophie bei
Randall Collins." Seminararbeit, Wien, 2004. im Sammelpunkt
Ines Simon: "Randall Collins, The sociology of philosophies:
Einleitung." Seminararbeit, Wien, 2004. im Sammelpunkt
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"Wanderungen -
Verbreitungen, Übernahmen, Renaissancen"
Besprochen wird:
Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte
und Wege des Denkens. Zürich: Ammann Verlag, 2004. Verlagsinfo
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Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie. Eine
Einführung. Wien: WUV, 2004
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Zum Überblick
der Vorlesung
Diese Seiten werden eingerichtet und gewartet von Franz
Martin Wimmer
Erstellt: Mai 2011 mit Ergänzungen im SoSe
2011