Franz Martin Wimmer:

Materialien zum Proseminar: Geschichte des Philosophierens

Bilder von China in Europa

Maes Titianus
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kolumbus
 
 
 

Pomponius Mela
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Wo liegt China? Der mazedonische Kaufmann Maes Titianus verfaßte ca 100 n.Chr.einen Bericht über Handelsrouten, den er dem Geographen Marinos von Tyrus, zur Verfügung stellte. Dazu schreibt Oswald Dreyer-Eimbcke (Kolumbus. Entdeckungen und Irrtümer in der deutschen Kartographie. Frankfurt/M.: Umschau-Verlag. 1991, S. 15f.:) "Die neuentwickelte Methode, die Erdoberfläche durch Längen- und Breitengrade aufzuteilen, wurde nun auch auf bisher unbekannte Gebiete angewandt. Marinos konnte so eine Karte des Orients anbieten. Da dem Gelehrten für die Umrechnung der chinesischen Meile (Li) jegliche Voraussetzung fehlte, basierte er seine Berechnungen auf die Zeitdauer vorangegangener Reisen. Dabei schätzte er nicht nur die Reisedauer falsch ein, sondern ihm unterlief der für die spätere Entdeckungsgeschichte verhängnisvolle Irrtum, die chinesische Meile statt mit zwei, mit sechs Stadien gleichzusetzen. Die Konsequenz: alle seine Maße wurden um das Dreifache zu groß. Im Ergebnis dehnte sich Asien riesenhaft nach Osten aus. Das Reich der Seide allein erhielt die sagenhafte Größe von sechsunddreißig Millionen Quadratkilometern!"
Das hat eine Rolle gespielt, als Kolumbus nach Westen fuhr und in der Karibik glaubte, auf vorgelagerte Inseln des Reiches des Großkhans gestoßen zu sein, aber es war eben doch schon weitaus detaillierter als der Hinweis, der sich über die "Serer" in Pomponius Melas Beschreibung der Welt (geschrieben 43/44 n.) findet: er spricht von einer Gegend östlich von Indien, durch eine Wüste mit wilden Tieren davon getrennt. Diese Wüste erstreckt sich "bis zu dem am Meer gelegenen Berg namens Tabis. Weit von diesem entfernt erhebt sich das Taurusgebirge. Dazwischen wohnen die Serer, ein Stamm voll Gerechtigkeit und weit bekannt durch seinen Warentausch, der in ihrer Abwesenheit vonstatten geht, nachdem sie in einsamen Gegenden ihre Waren zurückgelassen haben." (Pomponius Mela: Kreuzfahrt durch die Alte Welt. Zweisprachige Ausgabe von Kai Brodersen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 169).
Diese "Serer" heißen wegen der Seide so, und was Pomponius weiß, ist wohl, daß man noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen hat, obwohl seit langem viel Gold wegen ihrer feinen Gewebe aus Rom abfloß. Der Irrtum des Kolumbus hielt sich übrigens noch lange. Obwohl die Kartographen um 1520 bereits damit aufgehört hatten, westlich des Atlantik vorgelagerte Inseln und Provinzen des Reiches des Großkhans einzuzeichnen, nahm noch 1638, wie Eric Wolf berichtet, ein Pelzhändler namens Jean Nicolet in die Gegend des Michigansees ein chinesisches Prunkgewand mit, das er dem Großkhan zu verehren gedachte, den er dort zu treffen hoffte.(Vgl. zu Weltkarten: Kenneth Nebenzahl: Atlas of Columbus and The Great Discoveries. Chicago: Rand McNally 1990; Eric R. Wolf: Europe and the People Without History. Berkeley: Univ. of California Press 1982, S. 232)
Michel de Montaigne  1580 schreibt Michel de Montaigne: "In China, einem Reiche, dessen Einrichtungen und Künste, ohne daß es Umgang mit uns hätte und ohne daß es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen und dessen Geschichte mich belehrt, wieviel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben, schickt der Kaiser Reichsbedienstete in die Provinzen, um den Zustand derselben zu untersuchen. Diese Beamten, wie sie diejenigen strafen, welche sich in ihren Stellen schlecht betragen, belohnen sie auch freigebig diejenigen, welche sich gut betragen und mehr geleistet haben, als sie nach ihren Zwangspflichten schuldig sind." (zitiert nach: Montaigne, Michel de: Essais, hg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt/M.: Insel 1976, S. 220) Als Montaigne dies schrieb, gab es Kunde von "China" hauptsächlich von Portugiesen, die dort Handel trieben, und von den allerersten Missionaren: "Als die ersten Missionare nach China kamen, waren die Portugiesen seit einem halben Jahrhundert in stetem Verkehr mit den Häfen dieses Landes gewesen, und doch wußte man von demselben in Europa nur wenig. Als Herrada (1577) als erster geistlicher Sendbote den Boden von China betrat, änderte sich dies", schreibt Georg Adolf Narciß (Im Fernen Osten. Forscher und Entdecker in Tibet, China, Japan und Korea 1689-1911. Frankfurt/M.: Insel 1983, S. 56 - obwohl auch das nicht ganz stimmt, denn Francisco Xavier war 1552 als Missionar von Japan kommend in der Bucht von Kanton gelandet und dort gestorben; 1555 war, ebenfalls in Kanton, der portugiesische Missionar M.N. Barreto eingetroffen.) Daneben oder darüber aber - auch auf den Landkarten - gab es das Land "Cathay", von dem Marco Polo berichtet hatte.
Marco Polo  "Man kannte aus Marco Polos Berichten im fernen Osten ein Land Cathay mit der Hauptstadt Cambaluc, der glänzenden alten Herrscherresidenz Quinsay und dem belebten Seehafen Zayton. Dieses Reich war groß, überaus bevölkert und hochkultiviert; es hatte eine reichentwickelte Industrie und einen bedeutenden Handel, und überstrahlte in diesen Beziehungen, wenn man den Berichten Glauben schenken durfte, alle Reiche des Westens. Nun hatte man ein Land erreicht, das man China nannte, dessen Kaiser in Peking residierte, und unter dessen großen Städten Kanton, Nanking und andere waren. Keinen dieser Namen hatte Marco Polo erwähnt, aber in Beziehung auf Bevölkerung, Handel usw. entsprach das neugefundene Land seiner Beschreibung. Einige ahnten, daß beide Reiche identisch seien. Aber die Mehrzahl glaubte an die Trennung von Cathay und China. Die Kartographen versetzten Cathay und alle damit verbundenen Namen hoch hinauf in den Norden, weit jenseits des, wie man glaubte, erst entdeckten China und seiner großen Mauer. ... Die indische Mission beschloß, den portugiesischen Jesuiten Benedikt Goës ... nach China zu senden. ... Er verließ Agra im Jahr 1602. ... Die Karawane langte am Ende des Jahres 1605 in Su-tschau an. Hier erst kam er zu vollständiger Gewißheit über die Identität zwischen Cambalu und Peking und schickte Briefe an Pater Ricci. ... Obgleich durch die kühne Reise von Goës die Identität von Peking mit der Stadt Cambalu einerseits und China mit Cathay andererseits über allen Zweifel festgestellt war, wurde diese Tatsache doch noch keineswegs allgemein angenommen, und es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis die älteren Namen von der Landkarte verschwanden." (Narciß ebd., S. 57f) 
Jesuiten Matteo Ricci war zu dieser Zeit (seit 1601) bereits in Peking. Die geographischen Kenntnisse des Raumes zwischen Indien und China nahmen nur langsam zu: "Die ganze chinesische Missionsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts hat unter ihren Hunderten von Sendboten einen einzigen Geographen aufzuweisen. Dies war der Österreicher Martin Martini, und er ist selbst während des achtzehnten Jahrhunderts nicht überboten, kaum erreicht worden. ... läßt doch sein großer Atlas darauf schließen, daß er die meisten Provinzen von China selbst durchwandert hat." (Narciß ebd., S. 61)

Das positive Chinabild, wie es schon bei Montaigne anklingt, verstärken die Missionare (vor allem: Jesuiten) im 17. Jahrhundert. Darüber schreibt Sergius Kodera: "Dem Jesuiten Matteo Ricci (1522-1610) gelang es in den 1580ern, sich Zutritt zum chinesischen Kaiserreich zu verschaffen: Wie viele Missionare seines Ordens nach ihm, beherrschte er die chinesische Sprache und verschaffte sich Anerkennung bei einflußreichen Beamten des chinesischen Kaisers: Das von Matteo Ricci erstellte Chinabild, seine Interpretation und sein Verständnis vor allem der konfuzianischen Philosophie, wurde für lange Zeit für weite Kreise in Europa vorbildhaft. Der Jesuitenorden hatte bis in die 30er Jahre des 17. Jahrhunderts (zu diesem Zeitpunkt kamen Missionare anderer Orden nach China) das Informationsmonopol über jene fremde chinesische Kultur, die das Interesse zahlloser Gelehrter in Europa geweckt hatte . In der von ihm in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts verfaßten Storia del introduzione dell Christianesimo in Cina stellte Matteo Ricci das Vorhandensein dreier "chinesischer Sekten" fest . Im Wortgebrauch jener Zeit hieß "Sekte" etwa: Philosophenschule, weltanschaulich - religiöse Gemeinschaft. Es waren dies die "Sekte der Idole" (d.h. der chinesische Buddhismus), die "Sekte des Laozu" (Daoismus), sowie die älteste und wichtigste "Sekte" Chinas, die seit alters her mit der Staatsführung des Reiches betraut gewesen war, die "Sekte der Literaten" (Konfuzianismus). Diese drei "Sekten" erfuhren eine unterschiedliche Bewertung durch den Pionier europäischer Chinakunde: Ricci lehnte die Buddhisten als Idolverehrer und die Daoisten als Magier pauschal ab. Durch das Studium der klassischen konfuzianischen Literatur hingegen war der Missionar zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei den Lehren der "Sekte der Literaten" um eine mit dem Christentum weitgehend vereinbare Geisteshaltung handle. Die chinesischen Literaten-Beamten als Repräsentanten der konfuzianischen Tradition sollten durch eine Neuinterpretation der konfuzianischen klassischen Literatur in christlichem Sinne für den Glauben aus dem Westen gewonnen werden . Dieses von Matteo Ricci entwickelte Konzept ist als "jesuitische Akkommodationspolitik" in die Geschichte eingegangen. Nach Ricci wären die Chinesen bis etwa 100 nach Christus (dem von ihm geschätzten Datum des Einzugs buddhistischer Lehren nach China) im Besitz naturrechtlicher Wahrheiten gewesen, denen sie wesentlich genauer folgten, als das von irgendeinem europäischen Volk der heidnischen Antike bekannt gewesen war . In den Klassikern der konfuzianischen Literatur komme lediglich die Verehrung für Himmel und Erde und den Herrn über diese beiden zum Ausdruck: da die Chinesen ihren (materialistischen) Naturphilosophen kein Gehör geschenkt hätten, fänden sich in den konfuzianischen Klassikern nur ganz wenige Aussagen, die dem "Licht der Vernunft" widersprächen." (Kodera, Sergius: Die Renaissance und ihr Bild vom Konfuzianismus. In: CONCEPTUS. Zeitschrift für Philosophie. 1991. Jg. XXV, Nr. 65, S. 67-84, hier S. 68f)

Gottfried Wilhelm Leibniz Leibniz veröffentlicht 1697 "Neuestes über China", worin er eine Komplementarität der abendländischen und der chinesischen Kultur behauptet: "Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die Höchste Vorsehung dabei das Ziel - während die zivilisiertesten (und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten) Völker sich die Arme entgegenstrecken -, alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßeren Leben zu führen." (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vorwort zu "Novissima Sinica". In: Hsia, Adrian (Hg.): Deutsche Denker über China. Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 9-27, hier: S. 9)
Leibniz schreibt weiter: "In den Fertigkeiten, deren das tägliche Leben bedarf, und in der experimentellen Auseinandersetzung mit der Natur sind wir - wenn man eine ausgleichende Gegenüberstellung vornimmt - einander ebenbürtig, und jede von beiden Seiten besitzt da Fähigkeiten, die sie mit der jeweils anderen nutzbringend austauschen könnte; in der Gründlichkeit gedanklicher Überlegungen und in den theoretischen Disziplinen sind wir allerdings überlegen." (ebd., S. 10) Mit den "theoretischen" Disziplinen sind Logik, Metaphysik und Mathematik gemeint. Die Überlegenheit der Chinesen sieht Leibniz vor allem im Bereich der Moral und Politik: "Aber wer hätte einst geglaubt, daß es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu allen feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft? ... Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen - was zu bekennen ich mich beinahe schäme - auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind." (ebd., S. 11) Er stellt allerdings auch eine wichtige Unterlegenheit fest: "... daß die Chinesen, auch wenn sie seit einigen tausend Jahren mit erstaunlichem Eifer die Gelehrsamkeit pflegen und ihren Gelehrten die höchsten Preise aussetzen, dennoch nicht zu einer exakten Wissenschaft gelangt sind, ist, wie ich glaube, durch nichts anderes bewirkt worden als dadurch, daß sie jenes "eine Auge" der Europäer, d.h. die Mathematik, nicht hatten." (ebd., S. 16) Dies könnte sich ändern, denn jetzt, sagt Leibniz, studiert der Kaiser von China mit seinen Mandarinen die westliche Mathematik: "Wenn das so weitergeht, fürchte ich, daß wir bald auf jedem anerkennenswerten Gebiet den Chinesen unterlegen sein werden. Dies sage ich nicht deshalb, weil ich ihnen die neue Erleuchtung neidete, da ich sie vielmehr dazu beglückwünsche, sondern weil es zu wünschen wäre, daß wir auch unsererseits von ihnen Dinge lernten, die mehr noch in unserem Interesse liegen würden, nämlich vor allem die Anwendung einer praktischen Philosophie und eine vernunftgemäßere Lebensweise, um von ihren anderen Errungenschaften jetzt nichts zu sagen. Jedenfalls scheint mir die Lage unserer hiesigen Verhältnisse angesichts des ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfalls so zusein, daß es beinahe notwendig erscheint, daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen Theologie lehren könnten, in gleicher Weise, wie wir ihnen Leute senden, die sie die geoffenbarte Theologie lehren sollen. Ich glaube daher: Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht über die Schönheit von Göttinnen, sondern über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den Chinesen geben, wenn wir sie nicht gerade in einer Hinsicht, die aber freilich außerhalb menschlicher Möglichkeiten liegt, überträfen, nämlich durch das göttliche Geschenk der christlichen Religion." (ebd., S. 17)
Christian Wolff Eine Generation später (1721) hält Christian Wolff seine Antrittsvorlesung über die Überlegenheit der chinesischen Morallehre, die ihm die Verbannung aus Preußen einbringt. (Wolff, Christian: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Hamburg: Meiner. 1985). Das positive Bild bleibt vorherrschend, aber es werden neue Akzente gesetzt. Gottsched, ein Schüler Wolffs, erklärt, warum in China derart hochstehende naturrechtliche Gedanken entwickelt worden seien: "nichts ist wahrscheinlicher, als daß Noah eben der erste Monarch und Stammvater der Chineser gewesen ist." (Gottsched, Johann Christoph: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit etc. Zuerst 1734, zitiert nach der 6. Auflage Leipzig: Breitkopf. 1756, S. 7) Der legendäre "Gelbe Kaiser" der Chinesen sei niemand anders als der biblische Stammvater aller Menschen nach der Sintflut: "Endlich sind auch die Lehren der Weisheit vor Alters nirgends in solcher Vollkommenheit bekannt gewesen, als in China. Ihre Geschichte sind weit richtiger, ihre politische Regierungsforme weit dauerhafter und ordentlicher gewesen, als der anderer Völker ihre: welches ohne Zweifel der grössern Weisheit des Noah, vor seiner Söhne ihrer, zuzuschreiben ist. Und zuletzt, sagen die Chineser, daß ihr FOHI in der nordwestlichen Provinz Xensi gewohnt habe; von welcher Gegend er nothwendig gekommen seyn muß, als er in Armenien oder Mesopotamia, aus dem Kasten gegangen, und allmählich nach China gezogen." (ebd., S. 9) In der Geschichte der Technik und der Kultur schreibt Gottsched den Chinesen wichtige Pionierleistungen zu: "Was ... der Chineser ihren aufgeklärten und geläuterten Verstand am besten darthut, ist, daß sie die meisten künstlichen Erfindungen der Europäer, eher als wir gehabt haben: z.E. die Magnetnadel, das Schießpulver, die Buchdruckerkunst, ja so gar den Kreislauf des Geblütes sollen sie eher gewußt und gebrauchet haben, als wir alle ..." (ebd., S. 11) Allerdings hätten sie einen Mangel an theoretischer Reflexion, aber: "Nun kann es wohl seyn, daß die heutigen Chineser es in den theoretischen Wissenschaften den Europäern nicht gleich thun ... Wie aber daraus nicht folget, daß China gar nicht philosophire; also folget noch weniger, daß sie vormals keine Weltweisen gehabt. Von ihren Nachbarn, den Japonesern, ist eben das zu sagen." (ebd., S. 12) 
Voltaire
 
 
 
 
 
 

Montesquieu

 

Bei aller Hochschätzung, welche Autoren wie Wolff oder auch Voltaire gegenüber chinesischen Institutionen und Traditionen zum Ausdruck bringen, mehren sich doch auch die kritischen Einwürfe. Stagnation wird konstatiert: "Fragt man, warum die Chinesen immer auf der Stufe geblieben, auf der sie in grauer Vorzeit standen; warum die Sternenkunde bei ihnen so alt und so beschränkt ist; warum sie in der Tonkunst nicht einmal die halben Töne kennen? so scheint es die Natur hat diesen von unserer Gattung so verschiedenen Menschen taugliche Werkzeuge gegeben, das Bedürfnis des Augenblicks schnell zu finden, unvermögend aber weiter zu gehen." (Voltaire: Geschichte der Völker. In: Hartmann, C. H. F. (Hg.): Voltaires und Rousseaus auserlesene Werke, Bd. 33 Leipzig: 1828, S. 17f)
Montesquieu betont den patriarchalen Charakter der chinesischen Gesellschaft: "Dieses Reich beruht auf dem Gedanken einer Familienherrschaft. Wenn man die väterliche Autorität mindert oder selbst nur die feierlichen Formen beschneidet, die die Achtung vor ihr zum Ausdruck bringen, dann schwächt man die Achtung vor der Obrigkeit, die man als Vater betrachtet, und die Behörden würden nicht mehr so für das Volk sorgen, wenn sie es nicht als ihre Kinder ansehn müßten..." (Montesquieu, Der Geist der Gesetze. Tübingen: Laupp, 1951. Bd. 1, S. 427) und findet auch eine Erklärung für ein seltsames Phänomen: "Merkwürdig ist es, daß die Chinesen, deren ganzes Leben von den Riten gelenkt wird, trotzdem das größte Betrügervolk der Erde sind. ... Die chinesischen Gesetzgeber hatten zwei Ziele: sie wollten, daß ihr Volk unterwürfig und ruhig, daß es arbeitsam und fleißig sei. Auf Grund der Natur des Klimas und des Bodens führt es ein unsicheres Dasein; nur Fleiß und Arbeit können den Lebensunterhalt sichern. ... Wenn jeder gehorcht und jeder arbeitet, dann ist der Staat in einer glücklichen Lage. Die Not und vielleicht auch die Art des Klimas haben allen Chinesen eine unglaubliche Gewinnsucht verliehen; und die Gesetze haben nicht daran gedacht, sie einzuschränken. Alles ist verboten, was mit Gewalt erworben werden soll; alles dagegen erlaubt, was durch Kunstgriff oder Fleiß erreicht werden kann. Wir dürfen die chinesische Moral nicht mit der europäischen vergleichen." (Bd.I, S. 427; 428) 
Ende 18. Jahrhundert Die allgemeine Beurteilung chinesischer Zustände ändert sich entschieden gegen Ende des 18. Jahrhunderts. "Den idealisierenden China-Berichten der Jesuiten folgten mehr und mehr die von Kaufleuten verfaßten Schilderungen. Die Kaufleute hatten in der Regel wenig Interesse für chinesische Kultur und für chinesisches Geistesleben. Ihre Berichte neigen zu dem den Jesuiten entgegengesetzten Extrem und zeichnen sich vielfach durch gehässige, verächtliche und geringschätzige Schilderungen der Chinesen aus. ... In Europa hatte die weltoffene und großzügige Einstellung eines Leibniz einer allein auf Europa konzentrierten Auffassung Platz machen müssen. ... Die abfälligen Berichte über China bestärkten die europäische Eitelkeit und Selbstgefälligkeit. Man sah keinen Anlaß mehr, sich ernsthaft mit China zu beschäftigen." (Franke, Wolfgang: China und das Abendland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 1962. S. 56) Adrian Hsia hat die Entwicklung differenziert dargestellt: "Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein negatives Chinabild. Von den zahlreichen Gründen können wir hier nur die wichtigsten nennen: Nachdem Rom die Bulle "ex illa die" 1715 erlassen hatte, war der Kaiser Kangxi erbost, daß sich ein Europäer anmaßte, die Teilnahme der chinesischen Katholiken an Staatskulten zu verbieten, hatte
381: er doch selbst bezeugt, daß diese keine religiöse Bedeutung hatten. Er betrachtete dann die katholische Kirche als eine der intoleranten, mörderischen, religiösen Sekten, die so oft in China Aufstände angestiftet hatten. ... So wurde die Missionierung, d.h. der Kulturaustausch, sowohl von Rom als auch von Peking verboten. Die Berichte der chinafreundlichen Jesuiten blieben aus, und China verlor langsam seine Fürsprecher in Europa.
Ein anderer Faktor spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle: Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts war die Chinoiserie eine herrschende Mode in Europa, besonders in Frankreich. ... Maria Theresia spielte selbst in einer Operette eine Chinesin. ... Die neue Generation eines Herder und Goethe richtete sich gegen die Rokoko-Kultur, gegen die Chinoiserie und gegen die Gartenkunst "à la chinoise". ... Diese junge Generation wandte sich ebenfalls gegen die Aufklärung, und damit auch gegen die von China besonders gelobte praktische Vernunft - denn Europa kannte zu jener Zeit nur den sozial-ethischen Konfuzianismus.
Noch ein dritter Faktor war maßgebend beim Entstehen eines negativen Chinabildes in Europa: Es gab nämlich eine neue Generation von Chinafahrern, die Berichte über das Land schrieben. Die Jesuiten waren hochgebildete Kulturträger, die Verständnis für die chinesische Kultur aufbrachten, während in der neuen Generation die aggressiven Vertreter des Merkantilismus einflußreich waren, die sich nur für den Handel mit China interessierten, das sich diesem Wunsch aber hartnäckig widersetzte. Wer Zivilisation, Merkantilismus und Handel ablehnte, konnte nichts anderes als rückständig sein." (Hsia, Adrian: Nachwort. In: Hsia, Adrian (Hg.): Deutsche Denker über China
Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 369-389, hier: 380-383) 
Georg Chr. Lichtenberg So können wir Lichtenbergs Überlegungen hier einfügen, wie er seine Konversion von einem Bewunderer zu einem Kritiker Chinas beschreibt: "So lange ich über Völker zu denken im Stande gewesen bin, habe ich immer gemutmaßet, daß die Schinesen das weiseste, gerechteste, sinnreichste und glücklichste Volk auf Gottes Erdboden seien. Durch dieses häufige Mutmaßen habe ich es nun endlich so weit gebracht, daß ich wirklich und mit völliger Überzeugung, als wäre ich selbst dabei gewesen, glaube, daß diese Auserwählten des Himmels alle unsere so genannten leidigen neuen Erfindungen schon vor zehntausend Jahren gekannt haben, und folglich wohl noch in dem Besitz von tausend andern sein mögen, die wir, der Himmel weiß wann, noch alle werden machen müssen, ehe wir, wie sie, zur Ruhe kommen. ... bedenke man ihre himmlische Verfassung im Staate, so wie im Hause; in der Kirche wie in der Küche! Fürwahr nächst dem Strumpfwirkerstuhl und der englischen Spinnmaschine, das feinste Kunstwerk das die Welt je gesehen hat, und doch will man noch von Taschenuhren sprechen! Millionen greifen da wie ihr Flügelmann greift. Diese Flügelmänner exerzieren wieder höhern Flügelmännern nach und so immer weiter, bis zum Flügelmann aller Flügelmänner, und folglich aller Millionen, hinauf. Tut dieser Pulver auf die Pfanne, so liegt in einem Nu Pulver auf allen Pfannen der ganzen Welt, (so heißt Schina im Schinesischen)." (Lichtenberg, Georg Christoph: Von den Kriegs- und Fast-Schulen der Schinesen, neben einigen andern Neuigkeiten von daher (1796). In: Hsia, Adrian (Hg.): Deutsche Denker über China. Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 103-116, hier: S. 103f) Es gibt, sagt Lichtenberg, neuerdings genauere Nachrichten über China: "Die Nachricht rührt von einem gewissen Herrn Sharp her, der als Butler (Kellermeister und Mundschenk) die letzte Gesandtschafts-Reise nach Schina mitgemacht hat. Man lächle nicht darüber, daß wir das Zeugnis eines englischen Butlers anführen." (ebd., S. 105) Lichtenberg, bzw. sein Zeuge beschreibt nun eine "Fast-Schule" und seine Befragung eines Mandarins: "... dabei sah er uns nur selten mit seinen zartgeschlitzten Sauaugen an, aber wenn er einen ansah, so war es auch danach. Sie können sich keinen fatalern Spionenblick denken. Bei jedem glaubte ich, er zöge mir das Hemd über die Ohren. Der Anblick ging über alle Beschreibung." (ebd., S. 107) Er findet nichts als Lüge und Heuchelei:
"Ich: Aber kann ich denn die Einrichtung nicht wenigstens von einem glaubwürdigen Manne erfahren?
Wang-o-Tang: Glaubwürdig? dafür haben wir im Schinesischen kein Wort.
Ich: Das habe ich wohl gemerkt, und die Leute, die es sind, auch nicht? Nicht wahr?
Nein! Sagte der redliche W.-o.-T., mit einem verschämten Lächeln, wodurch seine Versicherung über die Hälfte wieder gestrichen wurde, weil kein Schinese lügt. (ebd., S. 111)
Schließlich faßt der Mandarin zusammen: "... ich muß nur notwendig anmerken, daß also der einzige Gebrauch, den wir von der Vernunft machen, der ist, sie selbst nach und nach mit dem Körper unter der Form von Instinkt und Kunsttrieb gleichsam wie zu verschmelzen und aus dem Menschen höhere Tierarten zu schaffen, mit Instinktkünsten, die noch ganz das Ansehen von höchster Vernunft haben, aber eigentlich es nicht mehr sind. Vernunft hat sie geschaffen, hat sich aber nach vollendetem Bau nach und nach weggeschlichen, oder ist durch Verteilung unmerklich geworden. Eben so ist es mit unserer Philosophie. Diese war bereits vor funfzigtausden Jahren völlig fertig. Jetzt philosophiert man, wie man lackiert nach Rezepten. Oder so wie wir Musikanten haben und keine Musiker mehr, so haben wir auch nur bloß Philosophanten und Physikanten, und keine Philosophen und keine Physiker mehr." (ebd., S. 112f)
Sonnerat Ganz ähnlich äußert sich auch Sonnerat etwa zur selben Zeit: "Die Künste und Wissenschaften werden in China nie beträchtliche Fortschritte machen ... Daher kommt es, daß die gelehrtesten Chinesen am Ende ihres Lebens mit genauer Not lesen und schreiben können ... die Chinesen haben keinen Funken von Genie, keine Tätigkeit in ihrer Vorstellungskraft; alles geht bei ihnen maschinenmässig oder nach regelloser Gewohnheit ... Soviel ist richtig, daß sie die Farben sehr artig auf Glas zu malen verstehen, aber die unvermischten und allzu grellen Farben, die sie dicht nebeneinander hinklecksen, verdienen wohl nur von Unwissenden die Namen der Gemälde ... Die Bildhauerkunst ist ihnen beinahe ganz unbekannt ... Geometrie und Baukunst haben hier kein besseres Schicksal, man findet überall keinen Bauverständigen ... Wer am meisten Getöse macht, ist der beste Musikant ...
Kongfuzee, dieser große Gesetzgeber, den man über alle menschliche Weisheit erhebt, hat einige moralische Bücher verfaßt, die sehr wohl auf den Charakter der Nation passen; denn sie enthalten nichts als einen Klumpen unverständlicher Dinge, Träume, Kernsprüche und alter Märchen, mit etwas wenig Philososphie vermischt." (Sonnerat, Pierre: Reise nach Ostindien und China in den Jahren 1774-1781. Zürich: 1783. S. 27. Zitiert nach Hsia 1985, S. 384)
G.W.F. Hegel Hegel spricht in seinen "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" auch über chinesische Philosophie, wenngleich nur in der Einleitung. Warum sie nach seinem Verständnis nicht zur eigentlichen Philosophiegeschichte zähle, begründet er bereits ganz zu Beginn, wo er von seinem Gegenstand sagt: "Der Inhalt dieser Tradition ist das, was die geistige Welt hervorgebracht hat, und der allgemeine Geist bleibt nicht stille stehen. Mit dem allgemeinen Geiste aber ist es wesentlich, mit dem wir es hier zu tun haben. Bei einer einzelnen Nation mag es wohl der Fall sein, daß ihre Bildung, Kunst, Wissenschaft - ihr geistiges Vermögen überhaupt statarisch wird; wie dies etwa bei den Chinesen z.B. der Fall zu sein scheint, die vor zweitausend Jahren in allem so weit mögen gewesen sein als jetzt. Der Geist der Welt aber versinkt nicht in diese gleichgültige Ruhe. Es beruht dies auf seinem einfachen Begriff. Sein Leben ist Tat." (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg. von Gerd Irrlitz, Bd. I. Leipzig: Reclam 1982, S. 10f) Diese Behauptung von einer Stagnation der chinesischen Kultur wird in der Folgezeit häufig wiederholt, auch von Max Weber, wenngleich die Zeitbestimmung ("vor zweitausend Jahren") nicht immer so großzügig gehandhabt wird. Im zweiten Abschnitt der "Einleitung" behandelt Hegel die Frage nach dem "Anfang der Philosophie" und grenzt ab: "Man spricht auch von der Philosophie der Chinesen, des Foï; bei ihnen findet man es auch, daß sie durch Zahlen die Gedanken darstellen. Doch haben die Chinesen ihre Symbole auch erklärt - also die Bestimmung heraus. Die allgemeinen einfachen Abstraktionen haben allen Völkern, die zu einiger Bildung gekommen, vorgeschwebt." (ebd., S. 87) Wichtig ist ihm hier ein "Abscheiden des Orients und seiner Philosophie", wobei er ausführt: "Der Geist geht wohl im Orient auf, aber das Verhältnis ist noch ein solches, daß das Subjekt nicht als Person ist, sondern im objektiven Substantiellen (welches teils übersinnlich, teils auch wohl mehr materiell vorgestellt wird) als negativ und untergehend erscheint. Das Höchste, zu dem die Individualität kommen kann, die ewige Seligkeit, wird vorgestellt als ein Versenktsein in die Substanz, ein Vergehen des Bewußtseins und so des Unterschiedes zwischen Substanz und Individualität, mithin Vernichtung. Es findet mithin ein geistloses Verhältnis statt, insofern das Höchste des Verhältnisses die Bewußtlosigkeit ist. ... So unbestimmt die Substanz der Orientalen ist, so unbestimmt, frei, unabhängig kann auch der Charakter sein. Was für uns Rechtlichkeit, Sittlichkeit, ist dort im Staate auch - auf substantielle, natürliche, patriarchalische Weise, nicht in subjektiver Freiheit. Es existiert nicht das Gewissen, nicht die Moral; es ist nur Naturordnung, die mit dem Schlechtesten auch den höchsten Adel bestehen läßt. Die Folge davon ist, daß hier kein philosophisches Erkennen stattfinden kann." (ebd., S. 95) Der Sache nach wäre es eigentlich überflüssig, sich damit überhaupt aufzuhalten, wenn von der Geschichte der Philosophie zu handeln ist - und in diesem Punkt stimmen Hegel bis in unsere Zeit nicht wenige Philosophen zu, ob sie ansonsten Hegelianer sind oder nicht -, aber er macht sich doch die Mühe, "das Orientalische" zumindest als ein Negativbild zu schildern, vor dessen Hintergrund sein Begriff des Philosophischen umso leuchtender vorgestellt werden kann. "Das Orientalische ist ... aus der Geschichte der Philosophie auszuschließen; im ganzen aber will ich doch davon einige Notizen geben, besonders über das Indische und Chinesische. Ich habe dies sonst übergangen; denn man ist erst seit einiger Zeit in den Stand gesetzt, darüber zu urteilen. Man hat früher großes Aufsehen von der indischen Weisheit gemacht, ohne zu wissen, was daran ist; erst jetzt weiß man dies, und es fällt natürlich dem allgemeinen Charakter gemäß aus."(ebd., S. 96) Frühere Beurteilungen, wobei man an Leibniz oder Wolff denken kann, sind überholt: "Es ist bei den Chinesen wie bei den Indiern der Fall, daß sie einen großen Ruhm der Ausbildung haben, aber dieser sowohl wie die großen Zahlen ihrer Geschichte usf. haben sich durch bessere Kenntnis sehr herabgesetzt." (ebd., S. 114) Konfuzius "ist praktischer Weltweise, spekulative Philosophie findet sich durchaus nicht bei ihm - nur gute, tüchtige, moralische Lehren, worin wir aber nichts Besonderes gewinnen können. Cicero de officiis - ein moralisches Predigtbuch gibt uns mehr und Besseres als alle Bücher des Kon-fut-se. Aus seinen Originalwerken kann man das Urteil fällen, daß es für den Ruhm des Kon-fut-se besser gewesen wäre, wenn sie nicht übersetzt worden wären." (ebd. S. 115) Das Yijing (I Ging) enthält "ganz abstrakte Kategorien, die abstraktesten und mithin die oberflächlichsten Verstandesbestimmungen. Es ist allerdings zu achten, daß die reinen Gedanken zum Bewußtsein gebracht sind; es ist aber nicht weit damit gegangen; es bleibt bei den oberflächlichsten Gedanken. ... Man kann ... hier eine philosophische Entstehung aller Dinge aus diesen abstrakten Gedanken der absoluten Einheit und Zweiheit finden. ... So fängt man mit Gedanken an, hernach geht's in die Berge; mit dem Philosophieren ist es sogleich aus. ... Im Schuking ist auch ein Kapitel über die chinesische Weisheit, wo die fünf Elemente vorkommen, aus denen alles gemacht sei... Die allgemeine Abstraktion geht also bei den Chinesen fort zum Konkreten, obgleich nur nach äußerlicher Ordnung und ohne etwas Sinniges zu enthalten. Dies ist die Grundlage aller chinesischen Weisheit und alles chinesischen Studiums." (ebd., S. 115-117) Er geht nun noch auf die Daoisten ein, die er als Magier schildert, welche "die ganz allgemeine Wissenschaft" und damit "eine übernatürliche Gewalt" zu erlangen behaupten: "daß er ... sich in den Himmel erheben, daß er fliegen könne und nicht sterbe. Von Lao-Tsö selbst sagen seine Anhänger, er sei Buddha, der als Mensch immerfort existierende Gott geworden. Die Hauptschrift von ihm haben wir noch, und in Wien ist sie übersetzt worden; ich habe sie selbst da gesehen." (ebd., S. 117) Ihr Hauptbegriff, das "Tao", sei dem "logos" der Griechen verglichen worden. Jedoch seien die Chinesen hier auf einer Vorstufe stehengeblieben: "Wenn die Griechen sagen, das Absolute ist das Eine - oder die Neueren, es ist das höchste Wesen: so sind auch hier alle Bestimmungen getilgt; und mit dem bloßen abstrakten Wesen hat man nichts als diese selbe Negation, nur affirmativ ausgesprochen. Ist das Philosophieren nun nicht weitergekommen als zu solchen Ausdrücken, so steht es auf der ersten Stufe." (ebd., S. 118) "In der orientalischen Anschauung taumelt das Besondere" sagt Hegel dann im Anschluss an die Besprechung indischen Denkens, verlässt Asien und wendet sich nach Griechenland, wo es "dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute" sei. (ebd., S. 136 und 141)
19. Jahrhundert Aus einem illustrierten Lese- und Lernbuch des 19. Jahrhunderts konnten die Kinder, für die es bestimmt war, folgendes erfahren: "Die Chinesen besitzen große Geschicklichkeit in mechanischen Arbeiten und stehen unter den Völkern Asiens in der Kultur am höchsten. Kunstfertigkeit, Thätigkeit, Gewerbfleiß, Frömmigkeit, Sanftmuth, Höflichkeit und Gehorsam sind den Chinesen nicht abzusprechen, gehen aber, wie ihre Fehler: Mistrauen, Feigheit, Schamlosigkeit im Betrügen, Liebe zum Prunk und Lärm, aus ihren eignen Staatseinrichtungen und der Schwierigkeit ihrer Sprache hervor. Beide hemmen auch alles Fortschreiten in der Kultur und die Chinesen stehen in dieser auf demselben Punkte, wo sie vor 2000 Jahren gestanden." (Becher, Huld und Schneemann, J. C.: Neuester ORBIS PICTUS oder Schauplatz der Natur und Kunst. Ein Universal-Bilderlexicon mit erklärendem deutschen Texte und einer Nomenclatur in fünf Sprachen. Zur belehrenden und erheiternden Unterhaltung für Jung und Alt. Meissen: Friedrich Wilhelm Goedsche. 1843, S. 24)
Houston St. Chamberlain "Die Chinesen" sind nicht nur anders in vielen Dingen, sie sind vollkommen unverstehbar, erfahren wir aus einem bekannten Werk vom Ende des 19. Jahrhunderts: "Élisée Reclus, der berühmte Geograph, versicherte mir, ... kein einziger Europäer ... könne von sich melden: J'ai connu un Chinois. Die Persönlichkeit des Chinesen ist eben für uns undurchdringlich, wie die unsere ihm: ein Jäger versteht durch Sympathie von der Seele seines Hundes und der Hund von der seines Herrn mehr, als dieser selbe Herr von der Seele des Chinesen, mit dem er auf die Jagd geht. Alles Faseln über "Menschheit" hilft über derlei nüchtern sichere Tatsachen nicht hinweg." (Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., zitiert nach der `Volksausgabe' München: Bruckmann. 1906, S. 710f) Wie "anders" sind sie? Beispielsweise: "... manche Stämme (z.B. die Chinesen) haben wenige oder gar kein religiöses Bedürfnis ... (ebd., S. 100). Oder: "Man darf die Behauptung aufstellen, daß selbst die blosse Vorstellung der Freiheit den meisten Menschen gänzlich unbekannt ist. ... Bieten uns nicht die Chinesen ein grossartiges Beispiel der selben Gesinnung?" (ebd., S. 503). Sie sind aber auch vollkommen "anders" als "die Inder": "... wollen wir den ganz genauen Antipoden des arischen Inders bezeichnen, so müssten wir den Chinesen nennen: den egalitären Sozialisten im Gegensatze zum unbedingten Aristokraten, den unkriegerischen Bauern im Gegensatze zum geborenen Waffenhelden, den Utilitarier par excellence im Gegensatze zum Idealisten, den Positivisten, der organisch unfähig scheint, sich auch nur bis zur Vorstellung des metaphysischen Denkens zu erheben, im Gegensatze zu jenem geborenen Metaphysiker, dem wir Europäer nachstaunen, ohne wähnen zu dürfen, dass wir ihn jemals erreichen könnten. Und dabei isst der Chinese ... noch mehr Reis als der Indoarier!" (ebd., S. 707)
Friedrich Kirchner Eine Darstellung der Philosophiegeschichte im späten 19. Jahrhundert kommt, in nicht so pathetischer Sprache, zum selben Ergebnis: "Der Orient, von geknechteten, unmündigen, phantastischen Volksherden bewohnt, konnte nur Religionssysteme, keine Philosophie hervorbringen. Was von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist Fabel oder Mißverständnis. ... Kongfutse und Laotse haben den Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische Mythologie über Himmel und Erde gebracht." (Kirchner, Friedrich: Geschichte der Philosophie von Thales bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Leipzig: Weber. 1896. zit. nach der 4. Aufl. hg. v. Georg Runze Leipzig 1911, S. 13f)
Dies betrifft aber nicht nur die Philosophie, wie Hsia in dem schon zitierten Buch schreibt: "Vergleicht man die Äußerungen Kants, Hegels und Schellings mit denen von Marx, Engels und Franz Mehring über China, dann fällt auf, daß die Jüngeren sich für das kulturelle China nicht mehr interessierten. Es ist ein Zeichen dafür, daß China in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher militärstrategisch von Interesse, als Kulturstaat aber nicht mehr von Belang ist. Die Schriften der drei Sozialdenker sind demnach auch symptomatisch für ihre Zeit. China war einfach eines jener Länder, die vom imperialistischen Europa ausgebeutet und unterworfen wurden. ... Das geistige China mußte wiederentdeckt werden, und zwar in unserem Jahrhundert. In dieser Hinsicht leistete Martin Buber Pionierarbeit." (Hsia op.cit., S. 386) Ob diese Pionierarbeit zu Ende des Jahrhunderts schon alle okzidentalen Philosophen überzeugt hat, ist fraglich, wenn 1993 zu lesen war: "Es ist im Grunde völlige Willkür, ob wir das Gespräch eines chinesischen Weisen mit seinem Schüler Philosophie nennen oder Religion oder Dichtung." Und Vergleichbares treffe auf indische Traditionen zu, denn es sei der "Begriff der Philosophie ... noch nicht auf die großen Antworten anwendbar, die die Hochkulturen Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen, wie sie in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden, gegeben haben." (Hans Georg Gadamer: Europa und die Oikoumene. In: Gander, Hans-Helmuth (Hg.): Europa und die Philosophie. Frankfurt/M.: Klostermann 1993, S. 68)
Stereotype Zum Abschluss dieses Abschnitts sei noch der Versuch eines chinesischen Autors des 20. Jahrhunderts zitiert, die wesentlichen Unterschiede zwischen seiner und der westlichen Tradition zu kennzeichnen. Liu Jen-hang (geb. ca. 1885) hatte in Japan studiert und war als Herausgeber einer Tageszeitung in Shanghai tätig, als er 1926 den "Studienentwurf für die Große Gleichheit des Ostens" herausbrachte, worin es ihm um eine Synthese der verschiedenen utopischen Entwürfe aus westlicher und östlicher Tradition geht (Liu unterscheidet sieben Typen von Utopien, die jeweils nur Teillösungen beinhalten). Eine Lösung der Menschheitsfragen sieht er nur durch eine Synthese der Denkweisen des Westens mit denen des Ostens als möglich. In diesem Zusammenhang werden Grundhaltungen beider aufgelistet, die ich hier auszugsweise anführe:
CHINA WESTEN
Anwendung [des Prinzips] der "Mitte"

 Hochschätzung von Weichheit und Bildung

 Wertschätzung der Familie in der Moral

 Einheit als durchgängiges Prinzip in der Geschichte

 Vereinheitlichung der Kultur zwischen [verschiedenen] Völkern und Vernachlässigung [nationaler] Grenzen

 Liebe zum Alten, Betonung rückschrittlicher Kultur[elemente]

 Von dörflicher Anständigkeit

 Geht nicht zur Tür hinaus

 Man schätzt es, seinen Kummer mit sich selbst innerlich abzumachen

 Viel Gemüsegerichte mit einfachem, unaufdringlichem Aroma

 Viel leeres Nachsinnen über nur scheinbar gesicherte Irrlehren und defektive Wissenschaftserkenntnisse [und doch Studium der Weisheit

 Freude am Rauchen von Opium

 Weiblich von Natur, verehrt man das Yin, das Weiche, das Mütterliche, das Chthonische (tz'u)

 Das weibliche Prinzip (k'un) verwirklicht sich hier: deshalb bildet es den Troß und kommt zur Vollendung


Anwendung [des Prinzips] der "Extreme"

 Hochschätzung von Kampf und Kraft

 Wertschätzung der Selbständigkeit in Regierung, Kunst und Wissenschaft

 Differenzierung als durchgehendes Prinzip in der Geschichte

 Streng beachtete Grenzen zwischen [verschiedenen] Völkern

 Verehrung des Neuen, Betonung fortschrittlicher Kultur[elemente]

 Von räuberischer Gewalttätigkeit

 Liebt es, in die Ferne zu schweifen

 Man schätzt es, seinen Kummer nach außen zu tragen

 Viel Fleischgerichte mit intensivem, starkem Aroma

 Viel systematisches, an Haarspalterei grenzendes Forschen, und doch Unfähigkeit, zu einem abgerundeten Ergebnis zu gelangen.

 Freude am Trinken von Wein und an hitziger Diskussion

 Männlich von Natur, verehrt man das Yang, das Harte, das Heldische und das Dynamische (chien)

 Das männliche Prinzip (ch'ien) drängt hier voran: deshalb bildet es die Vorhut und geht [am Ende trotzdem] zugrunde.

(auszugsweise zitiert nach: Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. München: dtv 1974, S. 459-462)


Zur Homepage bzw. zur Publikationsliste


Diese Seiten werden eingerichtet und gewartet von Franz Martin Wimmer
Letzte Änderung am 08.12.99