Das Periodisierungsproblem
John C. Plott, James M. Dolin und Paul D. Mays
(zuerst in: John C. Plott: Global History of Philosophy, vol. II. Delhi: Motilal Banarsidass 1979. S. 255-303)
Aus dem Englischen: Franz M. Wimmer


Ein Auszug aus dieser Übersetzung ist erschienen in:
polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Jg. 2, H.3, Wien 1999
Herausgeberin: Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie - WiGiP
Diese Untersuchung beabsichtigt nicht, eine endgültige Lösung für das sehr komplexe Problem zu liefern, eine dem 20. Jahrhundert angemessene, nach-hegelianische, nach-marxistische Periodisierung der Weltgeschichte zu liefern; sie möchte vielmehr eine Herausforderung artikulieren, um etwas zu finden, was genauer und angemessener ist als jene Periodisierungen, die derzeit zur Verfügung stehen.

Durch die ganze Geschichte der Menschheit hindurch gründeten Theorien der Geschichte auf Mythologie, Über-Spekulation oder auf übertriebenen Ansichten von solchen historischen Einzelfaktoren wir Religion, Wirtschaft oder Politik. Aber keine dieser Sichtweisen hat uns bisher eine angemessene Perspektive der Menschheitsgeschichte als eines kaleidoskopischen Ganzen gegeben. Die alte Periodisierung der Geschichte in den Begriffen von Altertum, Mittelalter und Neuzeit ist auch dann überholt, wenn sie nur auf die Geschichte des Westens angewandt wird; und zahlreiche Versuche, andere Kulturen in den traditionellen Rahmen der europäischen Geschichte zu zwängen haben zu vielen Verzerrungen im Gesamtbild der Geschichte von Kulturen und Zivilisationen geführt. Selbst die Trennung von "Ost" und "West" trifft die Tatsachen überhaupt nicht.

Wir können nicht mehr Periodisierungen vorschlagen, die nicht alle historischen Fakten einschließen, auch die Kunst, Literatur und Musik; und gewiß ist auch die Bedeutung von Transport und interkultureller Kommunikation in der Entwicklung aller Zivilisationen stark unterschätzt worden. Daher hoffen wir, die Notwendigkeit für eine multi-dimensionale Zugangsweise zur allgemeinen Geschichtsphilosophie ebenso wie zur Weltgeschichte selbst zu unterstreichen.

Die Diskrepanzen zwischen allen geläufigen Periodisierungen der Weltgeschichte machen es zu einer dubiosen Frage, ob eine für alle annehmbare Periodisierung überhaupt möglich ist. Jedoch ist es angesichts der allgemein üblich gewordenen Verzerrungen notwendig, als einen modus vivendi etwas anzustreben, womit man eher arbeiten kann als mit dem, was bisher angeboten wurden, etwas, das kommenden Generationen helfen kann, sich von dem Provinzialismus, den kulturellen Fanatizismen und Ethnozentrismen freizumachen, welche die Menschheit bis heute geplagt haben.

Unsere Periodisierung setzt sich hauptsächlich drei Ziele. Erstens, die Möglichkeiten für ein eher anwendbares Schema zu erkunden, wie wir gerade sagten. Zweitens, die Weltgeschichte der Philosophie enger mit der allgemeinen Weltgeschichte zu verbinden, als dies bislang geschehen ist. Wenige bisher vorgeschlagene Periodisierungen, wenn überhaupt welche, haben philosophische Entwicklungen auch nur als ein untergeordnetes Kriterium für die Abgrenzung von historischen Perioden genommen, obwohl man behaupten könnte, daß von etwa 500 v. bis zur Gegenwart der wirkliche Schlüssel für alles andere in der Periodisierung der Weltgeschichte der Philosophie ist, vor allen anderen kulturellen und zivilisatorischen Aspekten, wenn auch nicht getrennt von ihnen. Wenn eine solche These auch einigen als zu extrem erscheinen mag, so muß doch sicherlich jede Periodisierung der Weltgeschichte, die der Philosophiegeschichte nicht zumindest soviel Bedeutung zuschreibt wie etwa der Geschichte der Religion, der Wirtschaft oder der Politik, als unzulänglich für eine umfassende Periodisierung der Kulturen angesehen werden. Natürlich dürfen wir nicht annehmen, daß Entsprechungen zwischen Entwicklungen philosophischer Traditionen und Systeme einerseits, der allgemeinen Kulturgeschichte andererseits, zu allen Zeiten und an allen Orten bestehen. Gewiß gibt es (global) historische Verläufe, wo Philosophie dem Anschein nach in einer gegenüber den anderen Faktoren untergeordneten Position ist, die für eine Periodisierung der allgemeinen Weltgeschichte in Betracht gezogen werden müssen.

Drittens wird unsere Untersuchung, auch wenn die vorgeschlagene Periodisierung möglicherweise als ebenso unangemessen wie jede andere gefunden wird, schon dann ein Erfolg sein, wenn wir dazu beigetragen haben, jene Fragen zu klären und/oder auf jene Verwirrungen genauer hinzuweisen, die in jeder Periodisierung der Weltgeschichte zu bedenken sind. Wir hoffen, die betreffenden - auch die Philosophie betreffenden - Probleme klarzumachen.

Jede Periodisierung mag ganz willkürlich und bestenfalls pragmatisch oder pädagogisch brauchbar, keineswegs unbestreitbar sein. Tatsächlich befinden wir uns hier vor einer Art kantischer Antinomie: selbst wenn jede mögliche Periodisierung Gefahr läuft, willkürlich oder sogar dogmatisch zu sein, können wir ohne eine Periodisierung doch gar keine historische Erkenntnis haben.

Die Achsenzeit

(750-250 v.)

Einleitung

Arnold Toynbee, Karl Jaspers und andere stimmen darin überein, daß um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung eine große Durchbruchsperiode stattfand. Aber was ist mit den Perioden vor dieser Zeit? Wir vergessen gewöhnlich zu leicht, daß damals Kulturen bestanden, die bereits eine längere Vergangenheit hatten als den Zeitraum, den wir seit der Achsenzeit betrachten.

Eines der ersten Probleme beim Versuch einer Periodisierung liegt darin, die "Anfänge" zu kennzeichnen. Das Jahr 5969 v. wird, natürlich in spekulativer Weise, mit noch einigen anderen, die vor allem byzantinischen oder alexandrinischen Ursprungs sind, für den Zeitpunkt der Erschaffung der Welt vorgeschlagen. Solche Vorstellungen würden natürlich kaum den Beifall von Hindus, Buddhisten und Jainas finden, da diese nicht nur jede Vorstellung von einer creatio ex nihilo verwerfen, sondern auch eine weit ausgedehntere Zeitskala haben, wie man leicht aus solchen wohlbekannten Texten wie der Bhagavata Purana sehen kann, worin ein yuga sich über mehr als eine Million Jahre erstrecken kann. Eines der vorgeschlagenen Daten für den Beginn des Kali yuga ist das Jahr 3102 v. Ist dies denn seltsamer als Al Birunis Festsetzung des Jahres 3760 für Adam, denn damals war das Jahr 4077, erschlossen aus einem 2700-Jahre-Zyklus, nach kashmirischen Quellen dem Beginn des Saptarsi-Kala zugeschrieben worden?

Nicht nur sind nicht-mythologische Anfänge schwer zu finden, aber selbst wenn wir sie fänden, müßten wir immer noch wissen, wie es von ihnen weitergeht. Das Jahr 2700 v. wird als der Beginn der chinesischen 60-Jahre-Zyklen angegeben, wogegen heutige westliche Praxis alles in das dezimale 100-Jahres-System zwängt (wenngleich wir ein anderes System für die Tageszeiten beibehalten, also 60 Sekunden, 60 Minuten etc.). Der Sinn für die zyklische Zeit war anscheinend durch die ganze lange Geschichte der beiden Kulturen hindurch bei den Chinesen weit stärker als im Westen. Tatsächlich mag in der Gesamtperspektive der Menschheitsgeschichte die neuzeitlich-westliche, nicht zyklische Sichtweise unterlegen sein. Es gibt schließlich Zyklen in fast allem, was wir kennen, von den astronomischen Phänomenen bis zu den psycho-physischen biologischen Rhythmen. Nach traditioneller chinesischer Ansicht sind all diese Zyklen vollkommen natürlich, Fluktuationen von yin und yang, wie vergleichsweise auch in den Kosmologien der Hindus und Jainas sparsa und vimarsa (Evolution und Involution) als Grundmuster der gesamten "geschaffenen" Wirklichkeit betrachtet werden, die "Buddhas Nacht" unterbrechen wenn im Pralaya alles für eine Zeitlang in verborgener Potentialität verbleibt. Darum können die Rhythmen zwischen den grundlegenden Polarisierungen aller Wirklichkeit uns wohl auf die zyklische Zeitauffassung vorbereiten.

Das Phänomen der Polarisierung und die daraus sich ergebenden Muster berühren unser Periodisierungsproblem sehr, da eine Periodisierungsweise (der wir nicht unbedingt folgen) darin besteht, Periodengrenzen dort anzusetzen, wo diese Polarisierungen am deutlichsten hervortreten, ob sie nun mit anderen Faktoren korrelieren oder nicht - wenngleich sie dies zweifellos tun werden.

Die Polarisierung zwischen dem antiken Assyrien und Babylon ist nicht sehr evident, weil beide zusammen sich wieder gegen Ägypten abgrenzen; und eine weitere Untersuchung mag durchaus zeigen, daß es interne Polarisierungen in Ägypten, Babylon, selbst in Mohenjo-Daro und Harappa gibt. Erwähnen wir einige klarere Polarisierungen: innerhalb Israels die Pharisäer gegen die Sadduzäer; im Hinduismus Vaisnavismus und Saivismus; im Buddhismus Mahayana und Theravada; in China zuerst zwischen Konfuzianismus und Taoismus, später beide zusammen gegen den Buddhismus oder sogar für kurze Zeit Buddhismus und Taoismus zusammen gegen den Konfuzianismus; in Japan Buddhismus gegen Shintoismus; im Christentum die frühen Polarisierungen zwischen Athanasius und Arius wie auch zwischen den griechischen und lateinischen Formen, dann zwischen diesen beiden mehr oder weniger gemeinsam gegen den Nestorianismus und/oder die monophysitische koptische Tradition, wie auch viele Jahrhunderte später sich die lateinische Kirche in Katholizismus und Protestantismus polarisierte, wie sich andererseits die griechische Kirche zwischen die Bogumilen und die Orthodoxen spaltete.

Auch der Islam entging diesem anscheinend unvermeidlichen Geschichtsgesetz nicht: schiitischer und sunnitischer Islam begannen bald, die Ökumene untereinander zu trennen, und wo sie sich trafen, finden wir Märtyrer auf beiden Seiten. Die Mystik "des Feindes" ist tatsächlich etwas schwer Verständliches, so grundlegend sie in menschlichen Dingen zu sein scheint. Denn selbst die Spiele von Menschen sind Angelegenheiten von "wir" und "sie" oder von "ich" und "mein Gegner". Toynbee gibt einmal zu bedenken, daß dies in der Weltgeschichte beinahe als Axiom gelten könne, sodaß Föderationen wahrscheinlich nur dann erfolgreich sind, wenn sie sich gegen einen gemeinsamen Feind richten! Aber verhält es sich auch in der Natur insgesamt so? Yin und yang wohl; aber notwendigerweise Konflikt? Gegner vielleicht; aber Feind? Muß Dialektik diese Form annehmen? Es hat den Anschein, daß heute das Erbe von Heraklit-Hobbes-Marx schwerer auf uns lastet als die taoistische Weisheit der Natur. Die Harmonie der Gegensätze - ist sie nicht stets möglich (ob sie verwirklicht ist oder nicht), ohne die Dialektik zu überspielen? Das Diagramm, das Chou Tun-i (1017-1073) vom letzten Grund gibt, schematisiert dies für eine universelle Anwendung und es mag sein, daß wir in der Weisheit des Vorsitzenden Mao ein Echo beider Überlieferungen finden, wenn er sagt: "Eines macht zwei" - Polarisierung ist so natürlich und daher so vorhersagbar wie die zweiseitige Symmetrie oder die Zweigeschlechtlichkeit bei Säugetieren. Daß es eine Polarisierung zwischen Kapitalisten und Kommunisten oder auch wiederum zwischen Moskau und Peking gibt - um nur ein Beispiel zu nennen - sollte uns daher nicht überraschen. Die Geschichte sollte uns gelehrt haben, dies zu erwarten.

Polarisierung findet ihre Anwendung auch in Begriffen von Nord-Süd (anstelle von Ost-West): in Indien der arische Norden und der dravidische Süden; in China die nördlichen und südlichen Sung-Dynastien oder die nördlichen "gradualistischen" und südlichen "schlagartigen" Schulen des Ch'an-Buddhismus; in Japan die buddhistische und die Shinto-Religion; in Europa der lateinische Süden und der germanische Norden; in Rußland das ukrainische Kiev und Moskau, später die Spaltung zwischen den Slavophilen und den "Westlern"; in Indonesien zwischen dem friedlichen Bali und dem aggressiven Java-Sumatra; im Theravada Buddhismus zwischen Burma und Thailand, später zwischen Thailand und Kambodscha; in den USA der Bürgerkrieg zwischen den nördlichen "damn Yankees" und den südlichen "Konföderierten". Die Teilung von Nord- und Südkorea, Nord- und Südvietnam liegt nicht gänzlich außerhalb der Logik der vorangegangenen Geschichte. Die Rivalität zwischen Mexiko und Argentinien um die kulturelle Vorherrschaft in Lateinamerika kann hier ebenso erwähnt werden, daber auch die Polarität zwischen Hispano-Amerika und Lusitano-Amerika (Brasilien) ist nicht zu übersehen. Diese Polarisierungen berühren nicht nur politische, militärische und wirtschaftliche Faktoren in der Geschichte, sondern auch die Philosophien selbst.

Der wesentliche Punkt, der uns im Zusammenhang mit diesen Problemen des "Anfangs" und mit der Frage, wie es von diesem aus "weitergeht", betrifft, besteht darin, daß wir eine Metaphysik hinter jeder möglichen wissenschaftlichen Periodisierung haben müssen.

Die Prä-Achsenzeit

Wir haben uns zu fragen, ob es eine "Achsenzeit" irgendwann um 3500 v. gegeben hat, denn es wird schnell ziemlich klar, daß es damals (welches Muster an Ursachen wir auch dieser "Periode" immer zuschreiben mögen) qualitative Sprünge in so grundlegenden Dingen wie Religion, Metallurgie, Produktionsmitteln, gesellschaftlicher Organisation, in astronomischer oder astrologischer Beobachtung und vor allem im Bereich der Transport- und Kommunikationsmittel gegeben hat.

Es scheint auch recht deutlich, daß in der Zeitspanne zwischen 3500 und 1600 v. jene grundlegenden Mythologien ihre gegenwärtige Form angenommen haben, die unseren unbewußten kulturellen Erbschaften in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt Sinn gegeben haben. Es stimmt, daß Mythen vielleicht nicht zuverlässig im Sinn der Geschichte oder auch nur der Proto-Geschichte sind; aber Mythen machen Geschichten: `heilige' Kriege, heilige Orte, heilige Personen, Tabus (positive wie negative), Reliquien und Tempelarchitektur, Kunst und Musik - die Liste wird langsam erschöpfend. All dies hat mythologische Ursprünge, aber sehr beständige Wirkungen; und das meiste davon tragen wir bis heute mit uns. Damals wurden unsere moralischen und rechtlichen Gesetzestafeln aufgestellt, wie diejenigen von Hammurabi, Moses oder "Manu", schließlich auch Solon und Shotoku in anderen Gebieten. Es wurden auch unsere ästhetischen Maßstäbe, die Grundmuster von Poesie und Drama gefunden; und vor allem haben sie unsere Begriffe von der Zeit und von der Stellung des Menschen im Universum, den Begriff von Geschichte selbst stark beeinflußt.

Unsere frühesten Betrachtungen dürfen Ägypten nicht übersehen, denn die Dauer der ägyptischen Kultur ist für uns extrem schwer zu verstehen. Obwohl wir solche Dinge wie die ägyptischen Hieroglyphen (Beginn: etwa 4000 v) und sumerische Keilschriftbibliotheken aus Tontafeln kennen, gibt es zweifellos nur recht wenige Menschen, die realisieren, welche Bedeutung diesen Dingen selbst heute noch zukommt. Wir haben erst noch auf das endgültige Urteil der Spezialisten darüber zu warten, ob es sich um unabhängige Entwicklungen oder um gegenseitigen Einfluß handelt, wenn die antiken Kulturen unterschiedliche Schriften erfunden und gänzlich verschiedene Berichte bewahrt haben, wie das in China, Mesopotamien, Mohenjodaro, Harappa, Phönizien und eben auch Ägypten der Fall ist. (Es wäre faszinierend, die Verwendung verschiedener Schriften als Periodisierungsmuster zu verfolgen. Gehen sie parallel zu anderen Periodisierungen? Natürlich können wir jetzt diese Frage nicht beantworten, aber wenn einmal das Periodisierungsproblem als solches gestellt ist, kann die ernsthafte Forschung beginnen.)

Der nächste Periodisierungspunkt oder Entwicklungsschub scheint um 1600 v. passiert zu sein. Außer der Erwähnung des "Stammvaters" Abraham, den Elamiten, Amalekiten, den Hethitern und ähnlichen Geschichten des Alten Testaments - gab es da irgendeine Verbindung zwischen den berühmten trojanischen Kriegen und dem gleicherweise berühmten und gleich halb-legendären Kampf des Mahabharata bis zur gegenseitigen Ausrottung, woraus Odysseus und Krishna als Heros und Avatar hervorgehen? Sagen (engl.: sagas) tauchen zusammen mit Weisen (engl.: sages) auf und die Mythologie beginnt zur Heiligen Schrift zu werden - heilig wegen ihrer Einzigartigkeit, aber auch, weil sie die "Seele" der Völker bewahrt. Vielleicht liegt dahinter ein Welt-Krieg und eine Völkerwanderung, nicht unähnlich derjenigen in späteren Zyklen der Geschichte Eurasiens. Wäre dem anders, so würden wir nicht so leicht von Indo-Europäischen Sprachen oder von anderen "indo-europäischen", "arischen" oder "kaukasischen" Menschen- und Kulturtypen mit ihren Haustieren und Pferden reden. Wäre dem nicht so, hätten wir dann jene Ethnozentrismen, welche die Menschheit bis heute verwirren?

Tatsächlich preisen Romantiker wie Kurt Schilling in dieser Periode die "vorphilosophische Weisheit" im Gegensatz zur Herausbildung von Wissenschaft und systematischer Philosophie bei den Primmitiven. Wir möchten hier lieber mehr Diskretion walten lassen, von der "Weisheit des mittleren Weges" zwischen dem Fortschrittsmythos und den Mythen von einem "Fall" oder eines Abstiegs der Menschen vom "Goldenen Zeitalter" der Urzeit ausgehend. Unser Interesse bleibt auch hier auf Zyklen, Epochen, Zeitalter und Geschichtsperioden zentriert, auf abgelaufene wie auf werdende.

Frühe Achsenzeit (750-500 v)

Eine der auffallendsten, weil dramatischsten Periodengrenzen ist diejenige um 500 v. mit manchen Anfängen etwa um 750 v. und weiterreichend bis gegen 250 v. Dies wurde von Karl Jaspers, Arnold Toynbee und anderen als "Achsenzeit" bezeichnet. Es handelt sich um jene Achsenzeit, in der Philosophie im technischen Sinn auftaucht.

Wenn wir den "Zusammenfall" einiger relativ gleichzeitiger Ereignisse nicht übersehen - die Berechnung der Olympiaden (776), die Ära des Nebuchadnezar (747), den Beginn der Eisenzeit in Etrurien (von anderen Hallstattzeit genannt, ca. 750), die Entwicklung des Feudalismus in der Chan-Dynastie … und die Verlegung der chinesischen Hauptstadt nach Loyang (ca. 722), wie noch ähnliche Entwicklungen - dann taucht ein zweites Muster als Vorspiel zu den dramatischen Entwicklungen um 500 v. auf, und dieses verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm bisher zugestanden worden ist. Wir nennen es die "Frühe Achsenzeit".

Mittlere Achsenzeit (500-325 v.)

Bezüglich der mittleren Achsenzeit kann man nicht übersehen, wie nahe die Daten beisammen liegen: Buddha Sakyamuni (566-486), Vardhamana Mahavira (599-527), Konfuzius (551-497), Zarathustra (660-583; obgleich er nach den meisten jetzigen Datierungen etwas früher anzusetzen ist), Sokrates (470-399), der am Höhepunkt der Begegnung zwischen der hellenischen und der persischen Kultur auftritt; die mögliche Herausbildung der japanischen Kultur (vgl. Jimmu, ca. 660) und das Zeugnis der besten alttestamentlichen Propheten.

Aber vielleicht der bedeutendste Periodisierungspunkt ist das Datum 544 v., das für das Nirvana des Buddha angegeben wird, von dem aus die allermeisten Kalender im buddhistischen Asien ihre Orientierung gewinnen. In Klammern könnten wir fragen: warum sollte es weniger bedeutsam sein als Christi Geburt? Es ist beispielsweise ebenso falsch, ägyptische Dynastien oder die chinesische Geschichte nach christlicher Zeitrechnung zu periodisieren, wie es falsch wäre, die gesamte menschliche Geschichte in Begriffen ägyptischer oder chinesischer Dynastien zu periodisieren. Tatsächlich würde sich das Jahr 544 v., wenn es möglich wäre, es universell zu akzeptieren, besser eignen, um die grundlegende Bedeutung der Achsenzeit zu betonen. Obwohl die Datierung "vor Christi" und "nach Christi" ohne Zweifel viele unserer Perspektiven verzerrt hat, ist sie so tief verwurzelt, daß wir sie nicht leichthin zugunsten einer neuen Datierungsmethode beiseite stellen können.

Späte Achsenzeit (325-250 v.)

Diese nächste Periodengrenze, die heute beinahe universelle Aufmerksamkeit gefunden hat, ist mit Alexander, dem Schüler des Aristoteles, verknüpft. Es ist tatsächlich eine Ironie, daß es Platons intellektueller Enkel war und nicht Platon selbst oder sogar Sokrates, der die Geschichte bewegt hat - wenngleich nicht notwendigerweise in Richtungen, wie sie in der Politeia oder in den Gesetzen idealisiert sind. 333 drang Alexander in Phönikien ein, … in Babylon; aber das dramatischste Datum ist …, wo er den Indus erreicht.

Alexanders Karriere ist von "achsenhafter" Bedeutung. Wir müssen uns beispielsweise daran erinnern, daß Aristoteles Wissenschaftler mit Alexanders Armee sandte und müssen feststellen, daß es vor dem griechischen Einfluß in Indien keine Bilder Buddhas gegeben hat. Es ist auch sehr signifikant, daß Pyrrho aufgrund seiner Reise mit Alexander nach Indien zum Skeptiker und nicht zum Mystiker wurde. Wie weit das voralexandrinische Griechenland von Persien und Indien beeinflußt war, ist erst noch zu untersuchen; aber die einfachste und plausibelste Annahme ist, daß es eine ganze Menge gewesen sein muß, genug jedenfalls, um Alexander und Aristoteles so neugierig zu machen, daß die Expedition den Aufwand lohnte. Die Tatsache, daß der Erfolg der politischen Verwaltung in den Satrapien, die nach dieser militärischen Eroberung eingerichtet wurde, nicht besonders groß war, ist weitaus weniger bedeutsam als die Tatsache, daß offensichtlich Kommunikationswege bereits geöffnet waren und in steigendem Ausmaß dank der ausgezeichneten persischen Straßen und Postwege offen blieben, bis hin zum Aufstieg der baktrischen Königreiche und der Öffnung der Seidenstraßen nach und von China.

Inmitten dieser pan-eurasischen Kommunikationen entstanden später die größten der Weltreligionen und philosophischen Synthesen und gelangten zur Blüte - der Mahayana Buddhismus, das nestorianische Christentum, der Manichäismus, schließlich der kaschmirische Shaivismus. Sie alle sind mehr oder weniger vom Neuplatonismus und von den Upanishaden beeinflußt. Darum ergibt diese Periode einer Dreiweg-Kommunikation zwischen Indien, Griechenland und China (aber auch mit Israel und Persien) das Datum von 325 v. Zugegebenermaßen könnte aufgrund der verfügbaren Daten die Folgezeit von 325 bis etwa 250 leicht als Teil der nächsten Periode statt als späte Achsenzeit gerechnet werden, aber es scheint uns ein vertretbarer Kompromiß zu sein, die Achsenzeit um 250 enden und dann eine neue Periode beginnen zu lassen, denn die Trennung zwischen zwei Perioden kann nie sehr streng sein und ein gewisses Maß an Überlappung ist zu erwarten.

Die Han-Hellenistisch-Baktrische Periode

(250 v.-325 n.)

Einleitung

Hinsichtlich der Periodisierung der Folgezeit bestimmt M. Mujeeb in seiner "World History, Our Heritage" die Zeitspanne von 600 v. bis 200 n als "The Spiritual Revolution" und 200 n. bis 900 n. als "The Religious Wold-State". Mujeebs Einteilungen umfassen jedoch einen Zeitraum, der für unsere Absichten zu lang ist. William H. McNeil hat dies in "The Rise of the West" nur leicht verbessert. McNeil unterteilt gewöhnlich seine größeren Perioden in passendere Einheiten und besteht nicht darauf, daß ein und dieselbe Gruppierung von Daten für alle Gebiete gleichzeitig anwendbar sein sollte, wenn auch einige darunter sich in dramatischer Weise überlappen. Er setzt zum Beispiel eine hellenische Periode zwischen 500 und 146 v. an, zugleich mit einer nicht-hellenischen eurasischen Kultur zwischen 500 und 100 v. Diese Periodisierung widerlegt nicht einen impliziten Eurozentrismus, sondern läßt den Einwand gegen McNeil zu, er habe das Hellenische über anderes gestellt, wenn dies auch sicher nicht in seiner Absicht lag. Dann setzt er eine Periode für Rom und Westeuropa von 336 bis 146 v. (? …) sowie die eurasische Hochkultur zwischen 100 v. und 200 n. an. Solche Periodisierungen entsprechen den Daten zweifellos genauer; aber sie sind bedauerlicherweise auch eher verwirrend, insbesondere aus pädagogischer Sicht. Aber zumindest versucht er, ebenso wie Jean Duché ("Histoire du Monde"), einen mittleren Weg zwischen einer sinnlosen, atomistischen Chronologie ohne jegliche Charakterisierung und solchen Neu-Mythologisierungen zu finden, wie wir sie von Aurelius Augustinus geerbt haben.

Man könnte vielleicht annehmen, daß uns die "History of Mankind" der UNESCO zu Hilfe käme. Aber sie tut das nicht; und wir haben den Verdacht, daß hier immer noch hegelsche Einflüsse die Fakten verdunkeln. Oder könnte es sein, daß dahinter noch immer Eusebius steckt, selbst wenn er sehr wenig über die "nichtgriechischen" Kulturen Eurasiens wußte - obwohl man vielleicht zutreffender von den "nicht-chinesischen" Kulturen derselben Zeit und derselben Gebiete sprechen könnte. Die Perspektive der UNESCO wie diejenige McNeils liegt darin, daß wir Griechenland und Rom immer noch in der leitenden Position finden. Überdies ist die Periodisierung von 500 v. bis 1 n. eher seltsam, diejenige von 1 n. bis 500 n. vollkommen willkürlich, wenn nicht überhaupt sinnlos. Hingegen vermeidet die UNESCO-History jenen anderen fatalen Irrtum, lediglich ein einziges Merkmal einer Epoche zur Periodisierung zu verwenden. Für jede chronologische Einheit berücksichtigt die UNESCO-History , wie dies auch Martin und Brunn im "Graphic Guide to World History" tun, gleicherweise ökonomische, politische, soziale, religiöse, künstlerische und auch philosophische, wissenschaftliche und technische Faktoren.

Daher schlagen wir unter Beachtung der Schwächen dieser Periodisierungen für den Zeitraum von 250 v. und 325 n. die Bezeichnung Han-Hellenistisch-Baktrische Periode vor. In der Kulturgeschichte kann man eine eindeutige Wasserscheide um 250 v. wahrnehmen, die das Ende der Achsenzeit markiert, während der die klassischen Kanones für die grundlegenden Religionen und Philosophien gesetzt und die Grundmerkmale jeder Kultur etabliert worden waren, worauf nun die han-hellenistisch-baktrische Periode beginnt. In der han-hellenistisch-baktrischen Periode sind in Religion, Kunstgeschichte und anderen Bereichen im besten Fall Synkretismus, im schlechtesten Fall Eklektizismus weit verbreitet. Faszination durch Esoterik und Übertreibung des Erotischen sind hervorstechende Merkmale dieser `sensate' … Periode.

In kultureller Hinsicht muß man bemerken, daß während der han-hellenistisch-baktrischen Periode Indien und China die hauptsächlichen Beiträge zu den Weltkulturen geleistet haben. Zum Beispiel entstanden in Indien die heute universell verwendeten "arabischen Ziffern" und lösten seither den schwerfälligen Gebrauch von Buchstaben als Ziffern ab, wie er bei Griechen und Römern üblich war; auch das Rechnen mit der Null und dem Dezimalsystem entstand in Indien; von überallher kamen Studenten nach Taxila, nicht nach Athen oder Alexandrien, um Medizin zu studieren, ebenso wie man in Nalanda Mönchsgelehrte aus ganz Asien in einer Zahl finden konnte, wie sie von keiner Schule im Mittelmeerraum übertroffen wurde. Die Astronomie war in China hoch genug entwickelt, um das Erscheinen des halleyschen (?)  Kometen aufzuzeichnen; und natürlich kamen viele der Dinge, die wir selbstverständlich finden, in dieser Periode in China in Gebrauch: Papier, Porzellan, Seide, die Konstruktion von Kanälen sowohl zum Zweck des Transports wie zur Bewässerung, Windmühlen und Schubkarren.

Im Gegensatz zu Cäsars Gallien läßt dieser lange Zeitraum nicht "in drei Teile einteilen"; aber er ist insgesamt doch zu ausgedehnt, um ihn unter einer einzigen Überschrift abzuhandeln. Wir haben daher die han-hellenistisch-baktrische Periode unterteilt in eine frühe und eine späte han-hellenistisch-baktrische Periode parallel zur Trennung zwischen der frühen und der späten Han-Dynastie und mit dem Übergang des intellektuellen Zentrums von Athen auf Alexandrien.

Die frühe han-hellenistisch-baktrische Periode (250 v. - 50 n.)

Den Anfang der frühen han-hellenistisch-baktrischen Periode markiert im Bereich des Politischen Asoka Maurya (regiert ca. 272-ca.232), der Indien einigte und Friedensgesandtschaften nach Griechenland, China und in andere Länder schickte. In diesem Zusammenhang muß die unterbewußte Vorstellung korrigiert werden, Indien sei stets nur Empfänger kultureller Einflüsse gewesen, denn die indische Kultur hat sich sowohl absichtlich wie auf natürliche Weise eher weit ausgebreitet, sicherlich ab der Zeit Asokas, wenn nicht noch viel früher, und dies hat sich fortgesetzt bis in die Zeit des britischen Raj herauf. In China beginnt, verdunkelt durch die "Zeit der Streitenden Reiche", ein neuer Kulturzyklus mit der Reichseinigung (221 v) unter Shi Huang-ti (259-210 v.). Die große Akademie von Hien-yang wird 124 v. eingerichtet. Die Große Mauer war 204 v. fertiggestellt und die "westliche" oder "frühe" Han-Dynastie besteht von 202 v. bis 9 n. (Nach Jean Duché teilen der chinesische Drache und die römische Wölfin um 200 v. die Welt unter sich auf.) Ebenfalls in dieser Zeit scheint Südostasien aufzutauchen und das hellenistische Judentum tritt mit der Septuaginta (um 170 v.) auf.

Auch wenn die Trends innerhalb der frühen han-hellenistisch-baktrischen Periode keineswegs einheitlich sind, haben die Polarisierungen, die hier stattfinden, doch eine implizite Einheit, innerhalb derer sie auftreten. Der Buddhismus spaltet sich in Mahayana und Hinayana, wobei die stark hellenisierten "Fragen des Milinda" (Menander, ca. 155 v.) noch zwischen ihnen debattiert werden. Es gibt auch eine wachsende Polarisierung zwischen Konfuzianismus und Taoismus, wogegen andere chinesische Schulen in Vergessenheit geraten (außer vielleicht der Legalismus, der in der Praxis immer vorherrschte, obwohl der Konfuzianismus nominell im Aufstieg war). Gleicherweise bildet sich die Polarisierung zwischen Herodianern und Zeloten in Israel deutlich heraus, ebenso diejenige zwischen Platonikern (die sich wieder in Skeptiker und Neuplatoniker aufspalten) und Aristotelikern, aber auch zwischen Stoikern und Epikureern. Aber solche Polarisierungen sollten eher als Hinweise auf Lebendigkeit denn auf Schwäche genommen werden.

Insgesamt trägt die frühe han-hellenistisch-baktrische Periode mit der Herausbildung des Mahayna-Buddhismus, des Neo-Taoismus und Neo-Konfuzianismus die Ursprünge der kulturellen Trends in sich, welche den Übergang vom Skeptizismus über Eklektizismus und Synkretismus zur Faszination durch Mystizismus, Esoterik und Erotik markieren. In dieser Periode ereignet sich der politische, militärische und kommerzielle Niedergang Griechenlands verbunden mit dem Aufstieg des römischen Imperiums, der volle Kreislauf der frühen Han-Dynastie, der Niedergang des Maurya-Reiches nach Asoka, das Entstehen und der Aufstieg von Baktrien und Sogdiana als Angelpunkt zwischen den drei Kulturen Roms, Chinas und Indiens.

Späte han-hellenistisch-baktrische Periode (50-325 n.)

Was Daten und Ereignisse betrifft, die den Beginn der späteren han-hellenistisch-baktrischen Periode betrifft, so können wir unter anderem das Jahr 45 v. als den Anfang des julianischen Kalenders nennen; 38 v. als spanisches Zeitalter; 31 v. als die Ära Makedoniens nach Aktium; 37/36 v. als die Ära Kleopatras in Syrien; 57 v. als die Malava (Malwa) oder Vikramaditya-Ära. Loyang wird Hauptstadt Chinas um 25 n., das Jahr 9 n. das Datum von Wang Mangs Staatsstreich. Es gibt noch einige andere Unterscheidungsdaten wie etwa das Jahr 9 v. für die äthiopische Ära und 78 n. für die Saka-Ära. Die Saka-Ära fällt sehr eng mit der Adi-Saka-Ära in Bali zusammen und liegt sehr nahe bei der Ära des Commagenius (Samosatus), während 7 oder 8 n. als Beginn des Hungrvrka-Kalenders von "Irland" betrachtet wird.

In der Philosophie ist die späte han-hellenistisch-baktrische Periode die Zeit von Nagarjuna (ca. 100), Philo (20 v. bis 50 n.) und Seneca (4 v. bis 65 n.); in China Pan Ku (32-92) der Historiker, aber auch Wang Ch'ung (27-107) der Skepktiker und Aufdecker leerer Traditionen, die Neo-Taoisten Wang Pi (226-249), Wie Po-yang (blüht 147-167) und andere wenig später mit dem Motiv des "zurück zur Natur" (obgleich ihnen der große Tung Chungshu voranging (ca. 179-104 v.), der, seinen Gegnern zufolge, heuchlerischerweise den Konfuzianismus zur Staatsreligion machte). Man darf aber natürlich auch Wang Mang (herrscht 9-23 n.) nicht übersehen, von dem gesagt wird, er sei ein sozialistischer Diktator gewesen beziehungsweise einer der größten bisher bekannten Versager des Sozialismus. Währenddessen taucht in Südindien die dravidische Kultur (wieder) auf, nach einer zeitweisen Unterwerfung unter die Arier. Die spätere han-hellenistisch-baktrische Periode umfaßt sowohl den Aufstieg als auch den den Niedergang des "heidnischen" Rom und das Auftauchen der iberischen Kultur. Sie wendet sich an ihrem Ende mit Mani (215-276) als Ergebnis sowohl des nestorianischen Christentums als auch des sassanidischen Zoroastrismus, nicht zu vergessen seine Verbindungen auch mit Indien, denn Mani war der "Supersynkretist" aller Zeiten und charakterisiert damit seine Epoche. Zumindest müssen wir dem Wunder, das Griechenland und der Größe, die Rom war, das "Wunder Indien" und den "Glanz und den Abstieg Chinas" hinzufügen, um Duchés Ausdruck abzuwandeln.

Bei dieser Gelegenheit ist das Thema von einer Fülle der Zeit zu hinterfragen, das zur Einführung der christlichen Jahreszählung geführt hat. Diese Periode könnte auch aus einem nichtchristlichen Gesichtspunkt als "Erfüllung der Zeit" betrachtet werden, denn damals waren die trans-eurasischen Kommunikationswege in einem Ausmaß offen, wie sie es bis in unsere Zeit selten gewesen sind. Es liegt jedoch die Gefahr einer Bigotterie oder sogar eines Ethnozentrismus in der Interpretation einer "Ära der Inkarnation". Denn wie Toynbee beobachtet hat, gab es noch viele andere "Erfüllungen der Zeit", sowohl im ersten christlichen Jahrhundert als auch in anderen "Achsenzeiten", es gab andere Avatare, andere Inkarnationen, andere Propheten. Deshalb sollte man für die christliche, muslimische, hinduistische und andere Neo-Orthodoxien eher die Universalität als die Einmaligkeit betonen, besonders in dieser Periode, als ein Synkretismus ganz Eurasien beherrschte, dem bald die Faszination am Esoterischen folgte, sei dies nun ein Hinweis auf "Dekadenz" oder auf eine Erweiterung der Horizonte.

Patristik-Sutra-Periode (325-800)

Einleitung

Im Gegensatz zu den meisten traditionellen europäischen Philosophiehistorikern, die die patristische Periode gänzlich ignorieren und den gesamten Zeitraum zwischen Augustinus und der italienischen Renaissance als "Mittelalter" abhandeln, benennt Paul Deussen in seiner "Allgemeinen Geschichte der Philosophie" den Zeitraum zwischen 500 und 800 als Spätpatristik - wenn er auch keine Synchronisierung mit anderen Kulturen hier vornimmt. Kurt Schilling folgt ihm in seinr "Weltgeschichte der Philosophie" sehr eng, er und Deussen sind hier sehr ähnlich unserer Perspektive. Der Band III der UNESCO-History war viel zu anspruchsvoll ohne eine angemessene Periodisierung, indem dort versucht wurde, alles zwischen etwa 400 und 1300 als die Periode des "Mittelalters" zu behandeln. Es ist wirklich bedauerlich, daß die Autoren dem traditionellen europäischen Periodisierungsmuster folgten, denn gerade dieses stellt den Rest der Welt überhaupt nicht genau dar. Die "Columbia History of the World" entspricht unseren Bedürfnissen ebensowenig, denn sie zwängt nicht nur die gesamte Abfolge von 500 bis 1500 in eins zusammen, sondern handelt auch noch die geographischen Einheiten gesondert ab.

Unsere Bezeichnung einer Patristik-Sutra-Periode leitet sich von den grundlegenden Trends in Religion und Philosophie her, die bereits fast ganz verschmolzen waren. Es war aus diesem Blickwinkel eine sehr fruchtbare Periode und keineswegs ein "dunkles Zeitalter", wenngleich es zugegebenermaßen keinen Fortschritt in den angewandten oder theoretischen Wissenschaften gab, außer vielleicht in Byzanz und in Nordindien, wo Aryabhatta (Blütezeit um 476) einige neue Entdeckungen in Mathematik und Astronomie machte.

Da die Patristik-Sutra-Periode nicht notwendigerweise die "Barbaren" einschließt, klingt "Gotik-Gupta" zwar gut, ist aber nicht umfassend genug, da es Byzanz ausläßt, Persien/Sogdiana übergeht und keine Notiz von Südindien, Japan oder Südostasien nimmt. Indem wir unter dem Wort "Patristik" die trans-eurasische Ausbreitung des nestorianischen und monophysitischen Christentums, aber auch der griechischen und lateinischen "Väter" verstehen und mit "Sutra" die ganze Hindu- und Mahayana-Literatur meinen, die sich über ganz Asien von Damaskus bis Kyoto, von Korea bis Bali ausbreitet, schlagen wir "Patristik-Sutra-Periode" als die immer noch beste, wenn auch unvollkommene Bezeichnung für den Zeitraum zwischen 325 und 800 vor.

Eines der herausragendsten Merkmale der Patristik-Sutra-Periode ist die Vorherrschaft der Theologie. Es scheint dies das Zeitalter der Avatars, Boddhisattvas und Dreifaltigkeiten zu sein, wobei Buddhologie und Christologie Seite an Seite stehen (und sogar, wie in der Geschichte von Barlaam und Josaphat, miteinander vermengt sind). Ein entschieden theologisches System beginnt sich um die Figuren von Visnu-Krsna und Siva zu formen. Die Vorstellung von der Gebenedeiten Mutter breitet sich über ganz Eurasien aus, zusammen mit dem Heiligenschein. Tatsächlich wird das byzantinische Beiwort Hagia Sophia für die Theotokos gleicherweise anwendbar für Kuan Yin in China und Japan, für Saraswati und Parvati in Indien. Brahma, Siva, Visnu; Vater, Sohn und Heiliger Geist; Dharmakaya, Nirmanakaya, Sambhogakaya - sie alle werden "logifiziert", wogegen die empirische Wissenschaft fast gänzlich darnierderliegt. In dieser Zeit flüchtet sich die Kultur in Klöster, von denen sie wieder ausstrahlt - von Peking bis York, vom Berg Hiei in Japan bis Kandy in Ceylon, von der äthiopischen Hochebene bis zu den andalusischen Festungen, von den indonesischen Regenwäldern bis zur Wüste am Berg Sinai. Dunkles Zeitalter? Über ganz Eurasien hin gab es Kultivierung, mit einem Übergewicht des inneren Lichts.

Es war auch eine Zeit der Übersetzungen. Nicht nur übersetzt der heilige Hieronymus (ca. 340-420) die Bibel ins Lateinische, bemüht sich Boethius (480-542) die griechische Philosophie in Latein zu übertragen, sondern der ganze Kanon der griechischen Kultur und auch die christlichen Schriften wurden ins Syrische übersetzt, wobei Edessa das Zentrum dieser Tätigkeit war. (Tatsächlich waren es diese syrischen Übersetzungen, wodurch die Muslime, als sie später dem griechischen Erbe begegneten und hellenisiert wurden, sich der Bedeutung der griechischen Kultur bewußt wurden.) Aber noch wichtiger ist, daß die buddhistischen Klassiker aus dem Sanskrit wieder und wieder übersetzt wurden, zuerst ins Chinesische, dann ins Tibetische, Koreanische und Japanische, ebenso wurde der Pali-Kanon den Volkssprachen in Ceylon, Burma und allgemein in Südostasien angepaßt. In der Zwischenzeit brachte die Ausbreitung des Christentums in Nordeuropa - zunächst in der arianischen, später in der irischen Form - einen bemerkenswerten Übersetzungseifer mit sich. Und zweifellos gab es noch andere Gebiete, in denen übersetzt wurde, so im Auftauchen koptischer Übersetzungen und eigener Literatur in Ägypten und Äthiopien, wie auch den Beginn der slawischen Kultur mit Kyrill (827-869) und Method (815-885).

Ein anderes Hauptmerkmal dieser Periode, wie es sich vor allem in der Kunst, der Sprache, Religion und Philosophie zeigt, ist der Triumph des Mystizismus, sei es in neuplatonischer (sowohl "heidnischer" als auch "christlicher") Form oder auch in den vielfachen Versionen des Mahayana-Buddhismus auf seiner Wanderung durch Zentralasien nach China - dies war nicht mehr nur die Philosophie der intellektuellen Eliten, sondern die Religion der Massen. In den Evangelien des Neuen Testaments (den kanonischen wie den apokryphen) wie im Lotus Sutra wird die Erlösung gleicherweise für alle versprochen und nicht mehr nur für wenige Auserwählte. Diese Versprechungen einer besseren Zukunft ersetzten die Kultivierung eines idealen Altertums und die Idee einer Umgestaltung der menschlichen Natur lösten das frühere Philosophieren über die menschliche Natur als etwas Naturgegebenes ab. Es scheint, daß ein Übergang vom Eklektizismus und Synkretismus der vorangegangenen Periode zur via negativa, zur Faszination durch Esoterik und nicht selten von echter Disziplin zu mystischer Erleuchtung stattfand (ein teilweise verzweifeltes und manchmal erfolgreiches Bemühen, die Degeneration zu beseitigen, in die alle älteren Kulturen abgefallen waren). "Jenseitigkeit" triumphierte und dies ist auch die Zeit, in der wir den "mystischen Osten" finden - aber er breitet sich überall aus, den "Westen" eingeschlossen.

Die Welt war nicht mit Mani zu einem Ende gekommen, der schließlich offensichtlich auch nicht die zweite Wiederkunft Christi war. Vielmehr blühte, zumindest in Zentralasien, Handle und Wirtschaft, Kapitalisten und Proletarier - damals ziemlich international - scheinen nicht nur in Byzanz, sondern auch in Edessa, Alexandrien, Babylon, Nisibis und anderen Zentren entlang der sogenannten Seidenstraßen ihre boom-and-bust-Zyklen wie in anderen Jahrhunderten auch gehabt zu haben. Die Byzantiner setzten auf die Seefahrt, die sie den teureren Landrouten nach China vorzogen, was zum Ergebnis hatte, daß die Araber wie die Perser zu Wohlstand gelangten. Das dravidische Südindien und Indonesien bekamen ebenso ihren Anteil an der internationalen Kommunikation, teilweise dank verbesserter Navigationstechniken, die es erlaubten, die Monsunwinde zum Nutzen der Menschen auszunutzen.

Byzanz bleibt in Pomp und Glanz; China, sagt Duché, "erneuert sich immer selbst", während "Persien am Kreuzweg" einen "heiligen und törichten Krieg" mit Byzanz führt, wobei es versucht, einen größeren Profit aus dem Seidenhandel herauszuschlagen, der über seine Grenzen laufen mußte, um die luxusliebende byzantinische Aristokratie zufriedenzustellen. Die "Barbaren" hatten alle Laster jeder Kultur ihren eigenen noch hinzugefügt und waren selbst "zivilisiert" und "christianisiert" geworden; oder besser, wie es Duché ausdrückt: "der Westen war barbarisiert und christianisiert" worden.

Wir werden die Patristik-Sutra-Periode in zwei Einheiten unterteilen, nämlich die Frühere Patristik-Sutra-Periode (325-625) und die Spätere Patristik-Sutra-Periode (625-800).

Frühere Patristik-Sutra-Periode (325-625)

Die Frühere Patristik-Sutra-Periode wird oft als Frühmittelalter bezeichnet. Wir könnten auch weiter den Begriff "mittelalterlich" verwenden, indem wir ihm eine neue Bedeutung geben; wir ziehen es jedoch vor, "mittelalterlich" überhaupt nicht zu verwenden, es sei denn als gelegentliches Zugeständnis an den gängigen Sprachgebrauch in verwestlichten Kreisen. Stattdessen verwenden wir lieber den Begriff "Scholastik" für die Periode, die gewöhnlich als "Mittelalter" bezeichnet wird, aber diese kommt erst um 800 tatsächlich zur Geltung. Das traditionelle Wort "Mittelalter" ergibt tatsächlich weder in der buchstäblichen noch in einer übertragenen Bedeutung irgendeinen Sinn für eine Universal- oder Weltgeschichte.

Für das Jahr 325 als Datum der Trennung zwischen der Späteren Han-Hellenistisch-Baktrischen und der Frühen Patristik-Sutra-Periode gibt es unter anderen folgende Daten: der Übergang der chinesischen Hauptstadt von Loyang (Westchina) nach Nanking (Ostchina) findet ca. 317 statt; der Beginn der Guptazeit (320-ca.535) in Indien; der Beginn des Mayakalenders in Zentralamerika (ca. 330); das Konzil von Nicäa (325 - markiert den Triumph Konstantins); die Lankavatara Sutra (ca. 333) und das Kojiki in Japan (ca. 300).

Häresie und Orthodoxie werden zu den Hauptthemen in der christlichen wie in der buddhistischen Welt und dies hat Wirkungen auch in politischen und wirtschaftlichen Belangen. Wir brauchen nicht all die christlichen Konzilien und ihre Ergebnisse beim Definieren von "Häresien" aufzuzählen, auch ist es unnötig, all die Mahayana und Hindu-Sutren im Detail aufzulisten; doch können wir auf die globale Bedeutung solcher Charaktere wie Buddhaghosa (Blütezeit 412-434) und Nestorius (380-451) verweisen und wir sollten aufmerksam sein auf die Übersetzungstätigkeit von Boethius (480-524) in der lateinisch-christlichen Welt sowie von Kumarajiva (344-413) in der chinesisch-buddhistischen Welt, wo der Ch'an (Zen) Buddhismus mit Bodhidharma (Blütezeit 429-479) Form annimmt. Es ist allgemein bekannt, daß Proklos (412-485) der letzte der großen "heidnischen" Philosophen und Augustinus (354-430) der erste wirklich einflußreiche christliche Philosoph im lateinischen Westen war; aber es wird oft vergessen, daß sie, zusammen mit anderen, weniger Berühmten, in diese Periode gehören.

Die Frühere Patristik-Sutra-Periode war keine gute Zeit für die Bewohner der alten etablierten Kulturen; aber es war eine gute Zeite für die sogenannten Barbaren. (…)

War es aber ein "Fall" der alten Kulturen oder der Aufstieg der nordeuropäischen und zentralasiatischen Kulturen? Sie waren nicht als "zivilisiert" anerkannt worden, erstens aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten und zweitens weil sie schnelle Pferde hatten und alles aus Holz fertigten, das in Fülle vorhanden war, wenig beständige Zeugnisse ihrer Kultur hinterließen. Aber sie waren hochmobil; und vor allem hatten sie eine sehr gute soziale und politische Organisation. Ihre Mythologie beispielsweise war sicher nicht primitiver als diejenige anderer Kulturen. Der mythologische Feuervogel, der Coq d'or oder Phönix, zyklisch unserblich aber schrecklich und auch von schrecklicher Schönheit, die Walküren, Thor und die anderen germanischen Götter - waren sie in irgendeiner Weise "barbarischer" als die Götter Griechenlands und Roms? Oder waren sie irgendwie weniger "real" als Siva und Visnu? Es muß noch viel geforscht werden, um die wahre Rolle dieser "Barbaren" zu erkennen.

Aber das Phänomen dieser Völkerwanderung (dt. im Original) war keineswegs einmalig; und die Nähe dieser "barbarischen" Invasionen zur islamischen Eroberung der eurasischen Ökumene stellt, wenn irgend eine Ereignisfolge dies tut, eine weltgeschichtliche Periode dar.

Spätere Patristik-Sutra-Periode (625-800)

Es erübrigt sich der Hinweis, daß wir das Jahr 500, das so häufig als Periodengrenze verwendet wird, hinter uns lassen. Es gibt einfach keinen Sinn, wogegen das Jahr 622 (oder: das Jahr 1 der islamischen Zeitrechnung) sehr wohl einen ergibt. Darum benennen wir die Jahre um 625 als den Übergang von der Früheren zur Späteren Patristik-Sutra-Periode.

Für unsere Wahl des Jahres 625 sprechen unter anderem folgende Daten: der Aufstieg des Islam (625); die Ära des Yezdegerd (632); die "Zweite Nationale Ära Japans" (644-45); die Ära der Magi in Sogdiana und Khorem (Persien) (652); der Beginn der T'ang-Dynastie (618) und die Wiederherstellung der Großen Mauer (608); Buddhismus erfährt in China offizielle Unterstützung mit Denkern wie Huineng (638-713) und Chi-tsang (546-523); Prinz Shotoku (573-622) veröffentlicht seine berühmte 17-Artikel-"Verfassung" in Japan; Hsüan-tsang (596-664) und andere buddhistische Mönche machen große Pilgerfahrten nach Indien, wobei sie bei der Rückreise in Indonesien haltmachen; unter Harsavardhana in Indien spaltet sich die Mimamsa-Schule der Hindu-Philosophie zwischen Kumarila Bhatta (Blütezeit um 600) und Prabhakara (stirbt 600); das nestorianische Christentum und der Manichäismus werden zusammen mit dem Buddhismus, Taoismus etc. in China offiziell toleriert; Maximus Confessor (580-622) entwickelt in Byzanz den christlichen Neuplatonismus; in Sumatra blüht das Malaja-Königreich (644); die Ära von Sri-Harsa in Indien (605-7); in Burma beginnt die Sakkaraj-Ära (638) und in Chittagong die Magi-San-Ära (638); die Synode von Whitby (ca. 618) regelt die Angelegenheiten zwischen Rom und der irischen Kirche (d.h. zwischen der lateinischen und der keltischen Kultur); auch Korea tritt ernsthaft mit der Silla-Dynastie auf die Szene, die zur vollen Macht gelangt (670-780); das Reich von Krhi-lde-srong-bcon in Tibet (620-650) markiert den Baiduryakarpo-Zyklus als Eintritt Tibets in die Weltgeschichte. Viele andere Details könnten noch angeführt werden, um dieses Jahrhundert als einen Angelpunkt zu kennzeichnen, selbst ohne die prophetische "Explosion" des Islam. Tatsächlich kann die Hedschra (Jahr 1 islamischer Zeitrechnung oder 622 christlicher Zeitrechnung) durchaus als eine andere "Erfüllung der Zeit" bezeichnet werden, vergleichbar dem Jahr 1 nach Christi Geburt.

Zugegebenermaßen war vor dem Jahr 622 (1 A.H.) die Akademie von Athen geschlossen worden (529); der Kodex des Justinian war 534 erlassen worden; die Hagia Sophia-Kathedrale war 537 fertiggestellt worden. Aber diese Daten markieren eher die Vollendung des vorigen Zyklus als die Eröffnung eines neuen, und auch das nur mit Bezug auf Byzanz. Daher denken wir, daß das Jahr 622 (1 A.H.) viel eher als der Punkt des Umschwungs zwischen der Früheren und der Späteren Patristik-Sutra-Periode anzusetzen ist.

Unsere Datierung mit 625 soll vor allem nicht den Beginn des Islam vergessen lassen, wie das oft geschieht. Denn der Aufprall des Islam war zu katastrophal, um von irgendjemand, ausgenommen vielleicht die Japaner, ignoriert zu werden. Auch Christentum und Buddhismus hatten sich beinahe über ganz Eurasien verbreitet, aber sie hatten nicht dieselbe Einschlagskraft auf die Gesamtordnung der Dinge. Eine neue "Achsenzeit", ein neuer Kulturzyklus begann mit dem Propheten Mohammed, und Eurasien wurde geeint wie kaum je zuvor oder seitdem. Es scheint auch, daß bis zum Aufstieg des Islam die "Offenbarung" nicht ein derart prominentes Thema war, und Scholastizismen begannen nun über ganz Eurasien hin bemerkenswert ähnliche Formen anzunehmen. Man begann die Bibel, die Veden, den Koran, die konfuzianischen Klassiker, sogar Kojiki und Nihongi, nicht zu vergessen die Mahayana-Sutren als ewig und göttlich anzusehen. Nichtsdestoweniger sollten, wie wir schon gesagt haben, Religion und Philosophie als solche nicht der einzige Schlüssel für die Periodisierung sein, jedenfalls nicht mehr als Kunst oder Technologie, ökonomische Produktionsweisen oder auch Muster von Transport und Kommunikation. Und doch ist gerade dies der Punkt im Zusammenhang mit dem Islam: er erlaubt keine solche Fragmentierung der verschiedenen Aspekte des Lebens, ist vielmehr eine vereinheitlichende Gesamtordnung aller Dinge.

Die Ära der islamischen Expansion - oder, wie Duché es nennt, "Das Paradies unter dem Schatten der Schwerter" mit dem "Aufgang des Halbmonds", wofür er den Zeitraum zwischen 622 und 842 ansetzt - geht parallel zu T'ang China (649-907), einer Zeit, für die Duché Japan als "sinisiert, buddhisiert und verweiblicht" nennt, während "Byzanz im Bilderstreit aufgeht (642-843)". Duché registriert auch den "Verfall der Mayas" und charakterisiert die Aktivitäten Karls des Großen als "Zufallsimperium (714-843)" und "Ein Imperium der Frömmigkeit", in dem Europa geboren wird.

Bezüglich des Endes der Späteren Patristik-Sutra-Periode um 800 haben wir folgende Daten: die Ära von Chola (oder Kolamba oder Parasuama) in Malabar und Travancore (825) wie auch die Ganga-Dynastie etwa zur selben Zeit; die Nara-Zeit in Japan (710-794); das Dritte Ältere Imperium der Maya (731-987), wobei um 830 ein ernsthafter Niedergang stattfindet. Wie die vorherige Periode die Hellenisierung, Sinisierung und Nipponisierung des Buddhismus einschloß, so schließt diese Periode die Hellenisierung, Iranisierung und Indisierung des Islam ein. Daß diese Begegnungen Zweiwegprozesse waren, ist schwerlich zu leugnen.

Periode der Scholastik

(800-1350)

Hinsichtlich der Erstreckung dieser Periode ist uns Mujeeb keine große Hilfe, denn nachdem er die Zeit zwischen 200 und 900 als "Religiösen Weltstaat" benannt hatte, nennt er die Folgezeit von 900 bis 1450 einfach "Das Mittelalter", indem er sich der gedankenlosen euroamerikanischen Tradition anschließt, die anscheinend vom "Mittleren" als einem folgenlosen Übergang von einer zusammengebrochenen "Antike" zur "Neuzeit" denkt. Duché, der seine vorangehende Periode zwischen 616 und 907 ansetzt, nimmt hier eine kleine Überlappung vor, sodaß seine nächste Periode von 850 bis 1050 reicht, was mit unseren bisherigen Funden viel besser übereinstimmt. In einem mehr technischen Sinn müssen wir uns jedoch fragen, ob er überhaupt periodisiert hat, denn man muß in systematischer Weise unterscheiden zwischen den Typisierungen von Trends und der Substanz einer wirklichen Gruppierung von Abfolgen in sinnvolle Muster. McNeil liefert uns in einem Streich unannehmbare Perioden von 600 bis 1000 und dann von 1000 bis 1500 ohne Unterbrechung; wir neigen jedoch eher zu McNeils ursprünglicher Einsicht in "The Rise of the West", wo er in vielen, wenn nicht allen Hinsichten anerkennt, daß das lateinische Europa bis lange nach Columbus nicht wirklich mit dem Rest der Welt mithalten konnte. "A History of Asia" von Bingham, Conroy und Ikl nimmt im ersten Band Zentralasien zur Gänze von den ersten Anfängen bis 1600 durch und behandelt dann Indien, China und schließlich Japan in derselben Blockdarstellung. Selbst wenn ihre Unterteilungen für jedes dieser Gebiete mehr Sinn machen als viele andere, verhelfen sie uns doch nicht zu einer allgemeinen Periodisierung der Weltgeschichte.

Wie wir schon früher angemerkt haben, periodisieren die Autoren beziehungsweise Herausgeber von Band III der UNESCO-History überhaupt kaum, wodurch ihr Werk weniger wertvoll wird, als es hätte sein können, wenn sie irgendwelche Unterteilungen innerhalb der großen Entwicklungen zwischen 400 und 1300 getroffen hätten. Dieser Band der UNESCO-History hat auch eine starke Neigung zu europäischem Ethnozentrismus. Selbst die Einwände der sowjetischen Beiträger scheinen uns noch schwer daneben, wenn sie schreiben, als wäre die ganze Absicht der mongolischen Eroberungen darin gelegen, die "Geburt" Europas (wie sie im Vorwort sagen) zu erleichtern. Demgegenüber sind die Fakten nicht nur augenscheinlich, sondern brillant: die kulturelle Höhe Bagdads und seine kataklysmische Zerstörung durch die Mongolen lassen den "Fall" Konstantinopels wie eine Sandkastenparty von Kindern erscheinen. Arnold Toynbee merkt irgendwo an, daß er, hätte er die Wahl gehabt, am liebsten in T'ang oder dem Südlichen Sung-China gelebt hätte, denn unter den meisten Rücksichten war damals die Menschheit am meisten "zivilisiert" im Sinn kultureller Verfeinerung, selbst wenn die ökonomischen, politischen, militärischen und technologischen Errungenschaften nicht so überwältigend waren, wie es manche Nordamerikaner für ihre Definition eines "zivilisierten" Lebens gerne hätten. Was Indien angeht, so wird die dravidische Kultur unterschätzt, die sich in solchen Dingen wie der Kunst, Architektur, Literatur und Philosophie manifestiert. Dieser Zug ist sogar noch bedeutender als die darübergelegten Eroberungen der Muslime, denn diese waren kaum mehr als sporadisch durchgeführte Streifzüge, die wohl eine Menge von großer Kunst und Architektur betraf, aber in Wirklichkeit die einheimische Tradition praktisch auf der Dorfebene nicht berührten. Dieser Aufstieg von Südindien ist nicht weniger phänomenal als der Aufstieg Europas, denn er war entschieden parallel zur Indisierung von Südostasien. Selbst wenn wir die Indisierung des restlichen Asien durch den Buddhismus übergehen, so verlangt doch die Tatsache, daß der Islam selbst sehr schnell und fast gänzlich indisiert wird, anscheinend mehr Betonung als die Tatsache, daß die Muslime Indien "eroberten".

Neben solchen Dingen wie Pilgerfahrten, Kreuzzügen und Mönchsphilosophen, die zu Fuß und auf Pferden wandern, gibt es Belege für den andauernden Handel entlang der Seidenstraßen, sowie die Anwesenheit von Christen nestorianischer und monophysitischer Überzeugung überall in Eurasien. (Übrigens hatten es die Leute in jenen Zeiten nicht so eilig wie heute und sie lernten, indem sie unterwegs mit Hinz und Kunz verkehrten, wahrscheinlich viel mehr als die modernen Reisenden des Jetzeitalters, die "einen Blick draufwerfen und ein Buch darüber schreiben" und selten mehr sehen als Flughäfen und Bars in Hotels im euroamerikanischen Stil.) Die Schnelligkeit und Leichtigkeit der muslimischen, türkischen und mongolischen Eroberungen, überdies die Tatsache, daß in diesen Jahrhunderten das Papier, das Schießpulver, bewegliche Lettern, Navigationskenntnisse und viele andere wesentliche Bestandteile der Zivilisation zusammen mit der indischen Mathematik von China nach Europa gelangten - all dies bestärkt die Ansicht, daß die Kommunikationswege in bemerkenswerter Weise offen waren und zu einer grundlegenden kulturellen Einheit in der Periode der Scholastik über ganz Eurasien hin beitrugen. Selbst wenn bald danach schon Fälle von Nationalstolz auftreten, weitgehend als Verteidigung gegen die übertriebenen Behauptungen und Forderungen der westeuropäischen Entdecker, Seeräuber, Konquistadoren und Missionare, so sind solche Fälle zwischen 800 und etwa 1350 kaum auszumachen.

Die Ausdrücke "mittelalterlich", "scholastisch", "feudal" und "mongolisch", das Vorherrschen von "Kreuzzügen", "heiligen Kriegen" und "Pilgerschaften" wurden so sehr zur Charakterisierung des Zeitraums von etwa 800 bis 1350 verwendet, daß es uns sehr schwerfällt, einen gangbaren, umfassenden Ausdruck zu finden. Dennoch ziehen wir es vor, den Begriff "Scholastik" zu verwenden, um alle anderen Faktoren und Variablen einzubeziehen, denn dies ist eine Periode, in der ideelle Werte über ganz Eurasien hin den Vorrang vor sinnlichen Werten haben.

Während dieser Periode entwickelten Philosophie und Theologie eine sehr weit ausgebildete Technik des Abwägens von Argumenten und Gegenargumenten, von Einwänden und Gegeneinwänden, bevor man eine Meinung im Sinne einer "conclusio" vorschlug, wobei die meisten dieser architektonischen Strukturen in Form von Kommentaren zu grundlegenden Handbuchtexten vorlagen, die als autoritative Schriften aus dem Altertum oder zumindest aus dem Neuen Testament, den Puranas und dem Koran weitergegeben wurden. Aus diesen und vielen anderen damit verbundenen Gründen schlagen wir den Ausdruck "Scholastik" als allgemeine Typisierung des ganzen Zyklus vor, der vor und nach der transeurasischen Eroberung liegt und die Einigung unter den Mongolen überlagert. Der Ausdruck bezieht sich nicht nur auf muslimische, jüdische und christliche Entwicklungen, sondern auch auf die Kompendien der Hindus, Buddhisten, der chinesischen Neokonfuzianer und sogar der Jainas. Aber nicht nur das; diese Kommentare beginnen Subkommentare und sogar Kommentare zu Kommentaren zu Kommentaren zu entwickeln, was bis ins 15. und 16. Jahrhundert andauert, wo dann die individuelle, angeblich originelle, kürzere Essays diese architektonischen, theologischen wie philosophischen "Kathedralen gelehrter Exegese" oder "Summen", wie sie oft genannt wurden, ablösen.

Wir wählen den Ausdruck "Periode der Scholastik" zur Bezeichnung dieses Zeitabschnitts, um zu betonen, daß die scholastische Methode mit ihrer Betonung von These und Antithese und dem Bemühen um Synthese in Eurasien universell entwickelt wurde. Aus der Fülle von Daten im Verlauf der Periode der Scholastik ergeben sich zugegebenermaßen keine endgültigen Einteilungspunkte für ganz Eurasien - zumindest nicht für die äußere Welt. Und doch scheint uns, daß im kulturellen und intellektuellen Bereich sich ein Muster herausbildet. Die monistischen Trends des 9. und 10. Jahrhunderts erweitern und entfalten sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts und geraten in Verfall, als die mongolische Völkerwanderung die früheren Zyklen "barbarischer" Invasionen wiederholt. Wir möchten die Ansicht betonen, daß dieser Periodenzyklus zwischen 800 und 1350 eine zweite "Achsenzeit" darstellt und auch, daß die grundlegende Einheit der "mittelalterlichen" in der Universalgeschichte nie angemessen beleuchtet worden ist.

In dieser Periode hatte die Philosophie überall einen Ehrenplatz in der Wertehierarchie, sie stand höher als jeder andere Kulturbereich. Zumindest kann man dies für das 12. und 13. Jahrhundert sagen, denen eine zweite "vorsokratische" Entwicklung vorangegangen war, die zu Synthesen führten, wobei auf die Synthesen so etwas wie ein "han-hellenistisch-baktrischer" Nachglanz folgte, bis der Einfluß neuer Kräfte eine gewisse hybride Energie mit sich bringt. Wir sind uns durchaus bewußt, daß dies einer Neigung zu "Idealtypen" zu nahe kommen könnte, und bringen diese Spekulationen daher mit großer Vorsicht vor. Jedenfalls scheinen die Enwicklungen von Scotus über Anselm und Abailard zu Thomas von Aquin und Bonaventura, von Al-Kindi zu Ibn Rushd (Averroes), von Sankara zu Ramanuja und Madhva sowie dessen Nachfolgern, von Han Yu und Li Ao zu Chu Hsi und Lin Hsiang-shan, von Kukai und Saicho zu Dogen - all diese Entwicklungen scheinen auffallend parallel zu gehen. Die Tatsache, daß die skandinavischen, die slawischen und die zentralamerikanischen Kulturen im wesentlichen demselben Muster folgen, erfordert gewiß noch weitere Erklärung und eine Ursache für diese gleichzeitigen Entwicklungen, die unsere Behauptung einer zweiten "Achsenzeit" weiter stützen, ist erst noch zu finden. Die indianischen Hochkulture jedoch stellen für den Philosophen und Historiker, wenn auch nicht für Archäologen und Anthropologen, ein wirkliches Puzzle dar, insbesondere in diesem Periodenzyklus, denn sie scheinen demselben Muster zu folgen.

Der Islam war in diesen wahrlich großen Jahrhunderten nicht nur eine Brücke zwischen Ost und West, sondern stellte in Eurasien eine positive Einheit her, wie sie nie zuvor und auch seither nicht bestanden hat. Tatsächlich könnten wir wohl auch von einer "Periode islamischer Einigung" anstatt von der Periode der Scholastik sprechen, obwohl dies natürlich vieles an den Entwicklungen in China, Japan, im dravidischen Indien und in Südostasien unterbetonen würde. Jene fantastische Episode menschlicher Gefühlsvermengungen, welche die Kreuzzüge der lateinisch-"christlichen" Welt darstellen, sollte aus der Sicht der Muslime neu untersucht werden, um solche Dinge in globaler Perspektive zu sehen. Zivilisiert und hochgebildet, in beträchtlichem Luxus lebend, aber auch die Wissenschaften, Kunst und Bildung fördernd, müssen die Muslime jener Zeit zunächst belustigt, dann alarmiert, schließlich provoziert gewesen sein von diesen plumpen "Franken", die in ihre Territorien zogen, barbarische, aber schöne Melodien sangen, die auf jenseitigen romantischen Legenden beruhten, welche niemals zu verwirklichen waren. Es ist zuzugeben, daß Pilgerfahrten in Ost- und Südostasien oft kaum weniger fantastisch waren. Diese Periode brachte einige der größten bhaktas und Minnesänger der Welt hervor, aber auch Theologen und Philosophen. Es war, kurz gesagt und in den Worten Sorokins, eine überrragend ideelle eher denn eine sinnliche Zeit. …

Wir geben zu, daß wir nicht imstande waren, Unterteilungen für diese Periode zu finden, die uns zufriedengestellt hätten. Darum haben wir solche Unterteilungen benutzt, die für die Philosophiegeschichte passend erscheinen. Wir schlagen keineswegs vor, nur entsprechend philosophischer Entwicklungen zu periodisieren. Derartiges wollen wir lediglich hinzufügen und damit unterstreichen, daß es sich um etwas Bedeutsames inmitten eines sehr reichen und komplexen Zusammenhangs in einem Zyklus der eurasischen Kultur handelt. Für die Periode der Scholastik (800-1350) schlagen wir darum folgende Unterteilungen vor: die Frühe Periode der Scholastik oder "Monismus in vielen Formen" (800-900); die Mittlere Periode der Scholastik oder "Entfaltung und Ausarbeitung" (900-1150) und die Späte Periode der Scholastik oder die "Zeit der Großen Summen" (1150-1350).

Das herausragendste Merkmal im Zusammenhang des neunten Jahrhunderts ist ein auffallendes Vorherrschen von monistischen Philosophie - systematischem Monismus, nicht bloß synkretistische Vermengungen. Auch dasjenige, was gewöhnlich der "Mystizismus des Orients" genannt wurde, ist in erster Linie das Produkt dieses besonderen Zusammenhangs. Er ist nicht geographisch begrenzt, sondern eher das Produkt einer bestimmten Periode in der Weltgeschichte der Philosophie. Als Repräsentanten dieser Periode haben wir die überraschende Konstellation der folgenden Philosophen: Sankara (788-820), Han Yu (768-824), Li Ao (blüht 798), Kukai (774-835), Saicho (ca.767-822), Ennin (Blütezeit: ca.847), al-Kindi (801-873), al-Hallaj (858-922), Bayazid Bistami (stirbt 874), Photius (820-891), Kyrill (827-869) und Scotus Erigena (810-877). Dies ist eine der bemerkenswertesten Zeiten in der Weltgeschichte, eine Zeit, in der sich in ganz Eurasien sehr ähnliche Trends zeigen.

In jeder Kultur haben sich in der Früheren Periode der Scholastik die Themen des Philosophierens deutlich der Theologie zugewandt. Ihre Grundlinien verliefen auffallend parallel, umfaßten Erkenntnistheorie, Ontologie und Argumente für das Transzendente, Askese für spirituelle Erfüllungen, rituelle Praktiken zusammen mit den Gründen dafür und den daraus erhofften Ergebnissen, und eine Eschatologie mit impliziter Ästhetik in Form gefühlshafter Frömmigkeit und einem tiefsitzenden Sinn für Wunder und Mysterien. In der Zwischenzeit werden Fähigkeiten und Techniken in der Logik zur hohen Kunst entwickelt, was mit anderen Trends zu Verfeinerung und Ausarbeitung parallel geht. Die via negativa, aus der vorhergehenden Periode übernommen, überwiegt grundsätzlich; Analysen werden von Analogien überwuchert. Emanationstheorien herrschen im allgemeinen vor einfachen Schöpfungstheorien vor.

Am Ende des 9. Jahrhunderts haben wir gut ausgebildete Monismen und auch oft offen dualistische und pluralistische Trends. Aus der Vereinheitlichung im Islam in der äußeren Welt taucht eine neue Einheitsmetaphysik auf, die beinahe monolithisch ist; wie jedoch die politische und theologische Einheit des Islam zerfällt, so ging dieser monistische Trend bald in der Ausbreitung der Distinktionen und Subtilitäten scholastischer Argumentation verloren, bis wir bei den "Großen Summen" (1150-1350) anlangen. Dieser Trend von monistischer Einfachheit durch die Ausarbeitung hin zu exzessiver Komplexität und Ornamentik hat seine auffallenden Parallelen in der Architektur im Übergang von der Romanik zur ausgebildeten Gotik in Europa und im dravidischen Indien von der Solidität von Tanjore zu den filigranen Steingebilden von Belur und Halebid. In gleicher Weise können wir im Islam im wesentlichen denselben Übergang von den frühen, puritanisch kahlen Moscheen zur ausgebildeten und sogar üppig ornamentieren Moscheen späterer Jahrhunderte sehen - wofür Cordoba nur ein Fall von vielen ist. In der buddhistischen Welt beginnt der Heiligenschein mit der reinen Einfachheit des frühen Guptastils, umgreift aber schließlich in China, Japan und Indien das ganze Universum. Ähnliche Entwicklungen des Heiligenscheinmotivs finden in Byzanz und sogar im gotischen Europa statt. Während der Späteren Periode der Scholastik treten die größten Werke von Bonaventura und Thomas von Aquin, al-Ghazali und Ibn Rushd (Averroes), Ramanuja und Madhva, Lu Hsiang-shan und Chu Hsi, Dogen und Nichiren auf und entwickeln sich aus zuvor samenhaft angelegten Einsichten und Formulierungen wie den "Sentenzen" des Petrus Lombardus, den Brahma-Sutren und den Spekulationen über das Ultimativ-Höchste. Sie markieren zweifellos den Höhepunkt dieses Zyklus hinsichtlich der Systematisierung auf eine Weise, die selten erreicht worden ist.

Die Periode der Begegnungen (1350-1850)

Einleitung

Das Problem der Periodisierung des gesamten Zeitraums von etwa 1300 bis 1750 war für alle, die sich damit befaßten, verwirrend, einschließlich für die Beiträger und Herausgeber des vierten Bandes der "History of Mankind" der UNESCO. Tatsächlich findet sich in der einleitenden "Note on the Preparation and Editing of Volume IV" auf Seite XVIII folgende Diskussion des Problems durch Prof. Roland Mousnier …

Natürlich bringen Prof. Gottschalk und dessen Kollegen einige Einwände dazu vor (S. XIX) - die nicht unbedingt unsere Zustimmung haben - indem sie betonen, daß unterschiedliche Autoritäten nicht eine wirklich verschiedene Auswahl getroffen hätten; aber er beantwortet nicht direkt die Frage der Periodisierung, zumindest nicht in diesem Kontext, und die Einteilungen im Band IV der UNESCO-History bleiben grundsätzlich 1300-1500 und 1500-1755 mit einer lediglich geringfügigen Abweichung im Abschnitt über die Naturwissenschaft, wo eine Periode zwischen 1530 und 1775 angesetzt wird. Wir müssen gestehen, daß diese Einteilung durch die Herausgeber der UNESCO-History so brauchbar ist wie irgendeine andere; die Einteilung ist jedoch immer noch zu willkürlich und beantwortet nicht die Forderung Mousniers nach Gliederungsmerkmalen - die wir nachdrücklich teilen.

Jean Duchés dritter Band unter dem Titel "L'Age de Raison" umfaßt die Zeit von 1500 bis 1660 und dann von hier direkt bis 1815, obwohl er einige sehr genaue Beobachtungen über Unterperioden innerhalb dieser `Perioden' macht während er den Drahtseilakt zwischen Kunst und Chronologie durchführt. Die Kürze dieser Sub-Perioden erinnert uns an die Gefahr des Abstiegs in das Labyrinth der Kurzsichtigkeit, je näher wir dem 20. Jahrhundert und damit "nach Hause" kommen; denn die Zeitwahrnehmung ist, wie die Raumwahrnehmung für uns Menschen ziemlich trichterförmig ist, obwohl es scheinen sollte, daß jedes Jahrhundert in derselben Länge, wenn nicht auch in derselben Bedeutung gesehen werden sollte.

Wachsende Begegnungen: Synthese und Verfeinerung (1350-1550)

Auch in diesem Fall schienen uns die kulturellen Entwicklungen - und insbesondere das Muster des Auftretens oder Nichtauftretens von Philosophie - von größerer Bedeutung als die politischen und ökonomischen, erst recht als die militärischen Faktoren, weshalb wir für den Abschnitt von 1350 bis 1550 von Synthesen und Verfeinerung sprechen. Sollte jemand hier lieber von "Renaissance" sprechen, so haben wir dagegen nur den einen Einwand, daß diese Bezeichnung leicht mißverstanden wird, obwohl Arnold Toynbee eine lange Listen von "Renaissancen" in der Weltgeschichte anführt, indem er darunter jeden Prozeß versteht, wo ein Übergang von einer ideellen zu einer sinnlichen Kultur (Sorokin) stattfindet, zur Befreiung vom "Dunkel des Mittelalters", sowie das Auftauchen eines kompetitiven Kapitalismus und Kommerzialismus mit gleichem Wettbewerb. Unter anderen hat Duché folgende suggestive Themen während dieser Jahrhunderte: "Seigneur Dieu, es-tu l^?"; "La douloureuse danse"; "La marche turque"; "L'Asie s'endort"; "Le Japon choisit les plaisirs de la guerre"; "A l'Ouest: vers les morarchies absolues"; "A l'Est:: des monarchies fodales"; "Terre des hommes".

Für einen Anfangspunkt um 1350 sind folgende Daten von Bedeutung: die Ming-Dynastie (1368); Thailand etabliert seine Identität (1350); Beginn der Ashikaga-Zeit in Japan (1336); das Reich der Timuriden und der Aufstieg der Usbeken in Zentralasien (um 1350); Kasimir III. der Große in Polen (1333-1370); Ende der Mongolenherrschaft in Persien (1334); Beginn der Muromachi-Zeit in Japan (1336); Begründung des Reiches von Vijayanagar in Indien (1336); Beginn des sogenannten "100-jährigen Krieges" in Europa (1339); Begründung der Bahmanidendynastie in Indien (1337); die heilige Bridgit von Schweden geht nach Rom (1349); Aufstand Südchinas gegen die Mongolen (1350); Nanjing wird den Mongolen weggenommen (1356); Murad, erster Sultan der Osmanen (1359-1389), macht Adrianopel 1366 zur Hauptstadt; Tamerlan beginnt mit der Eroberung von Zentralasien (1363).

Nach der Periode der Scholastik finden wir anstelle von Kreativität, Originalität oder durchgehender Systematisierung lediglich eine Serie von Kommentaren zu Kommentaren in Europa, der islamischen Welt, Indien und China; und selbst in Japan und Byzanz finden wir nicht viel mehr als eine weitere Verfeinerung dessen, was bereits errreicht worden war. Daher ist die Zeit von 1350 bis 1550 ein Zeitalter der Überfeinerung.

Obwohl man tatsächlich auf Pletho und Bessarion in der byzantinischen Welt als auf einen Höhepunkt in der humanistischen Philosophie verweisen könnte, worin eine Hauptanregung für die italienische Renaissance lag, so liegt doch ein anderer Aspekt auch ihres Werks darin, daß es nicht so sehr kreativ und originell als vielmehr eine Aufarbeitung des gesamten Erbes der Vergangenheit ist, ausgeführt in einem sehr verfeinerten (wenn nicht überfeinerten) Stil. Was einem jedoch früher oder später in bezug auf die Geschichte vom sogenannten "Fall" Konstantinopels an die "Türken" klar wird, kann ebenso weitgehend von ihnen gesagt werden: insgesamt zu elitär - der Preis der Verfeinerung könnte zu hoch gewesen sein. Die Muslime wurden von den Massen als Befreier von der Unterdrückung durch die Aristokraten, die Klöster und die beinahe gänzlich korrupte Regierung begrüßt, welche allen Unterprivilegierten ungeheure Steuern auferlegte.

Im lateinischen Europa mögen manche in den Werken von Ockham (1280?-1348) und den sogenannten "Positivisten von Paris", nämlich Johannes Buridanus (stirbt 1360), Nikolaus von Autrecourt (1300?-1350?) oder Nikolaus von Kues (1401-1464) und anderen wirkliche Größe sehen, insofern diese Denker in der Logik und der Erkenntnistheorie einen Stand erreichten, wie er selten zuvor oder danach erreicht wurde - außer, natürlich, in Indien bereits sehr viel früher mit Dingnaga, Dharmakirti, Santaraksita und Kamalasila im 5. bis 8. Jahrhundert, oder bei den Muslimen in der Zeit des Ibn Sina (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroes), aber auch schon viel früher bei Ibn Hasm oder sogar al-Farabi. So brillant diese Errungenschaften aber auch auf ihre Art waren, so bleibt doch sehr wenig an Kreativem und Originellem übrig, nachdem einmal Francis Bacon und andere Begründer des wohlbekannten Zyklus der neuzeitlichen euramerikanischen Philosophie logischen Fertigkeiten geringere Bedeutung zuschreiben. All dies, oder doch fast alles, wird zum Überbau. Auch Nikolaus von Kues kann großteils auf das reduziert werden, was bei Albertus Magnus (stirbt 1280) schon vorhanden war, mit Ausnahme eines Echos proto-renaissancehafter Anregung von seiner Reise nach Byzanz, während Marsilio Ficino (1433-1499) und Pico della Mirandola (1468-1533) viel eher Übermittler und Übersetzer byzantinischer Materialien sind (ganz abgesehen von ihrer vollkommen dekadenten Faszination durch Magie und Kabala) als wirklich schöpferische und eigenständige Philosophen.

Die deutschen Mystiker (Eckhardt, Tauler, Suso und andere) arbeiteten in einer Tradition, die sehr weit in die altgermanische Literatur zurückverfolgt werden kann; sie beeinflußten schließlich noch Luther, zumindest mittelbar. Dennoch kann man sich fragen, ob diese Zuflucht zur Mystik wirklich authentisch oder nicht vielmehr eine Art Rückzug von echter Philosophie im systematischen Sinne war. Mit anderen Worten: es kann sein, daß das yin und das yang, logische Fertigkeit und deren Gegenteil im intuitiven Mystizismus, einander nicht länger anregten und ergänzten, und in gegenseitiger Separierung schon bald beide dekadent wurden und zu unphilosophischer Sentimentalität entarteten.

Was die islamische Welt betrifft, so greift nach neueren Forschungen der Mythos vom Niedergang des Islam zu kurz, denn er entstand mit der sehr eigenartigen Auffassung, daß die muslimische Philosophie nichts zu bieten habe außer ihrem Beitrag zur Entwicklung der lateinischen Scholastik. Obwohl Ibn Khaldun (stirbt 1406) einer der größten Geister in der ganzen Geschichte der Philosophie ist, scheint es doch, daß die meisten anderen Philosophen der islamischen Welt in dieser Periode großteils zurückblickten und lediglich weitere Interpretationen und Anpassungen des schon einmal Erreichten in überfeinerter Weise anstrebten. Außerdem scheinen in der islamischen Welt, geradeso wie yin und yang sich im lateinischen und germanischen Europa polarisierten und trennten, die Sufis den Austausch mit den Scholastikern zu verlieren, und obwohl sie ebenfalls große Delikatheit und Anmut in ihrer Poesie erreichen, gehen sie nur allzu oft an die Grenzen der Wortspielerei und bloßer Verzierung, sind daher im Vergleich zu al-Hallaj "dekadent".

In Indien können Madhusudana Saraswati und Appeya Diksita als keineswegs "sterile" Synthesen angeführt werden, obwohl Madhusudana Saraswati die veraltetete advaitische Tradition gut ausflickte, wobei er versuchte, den Hinduismus so zu stärken, daß er Indien von der "islamischen Plage" reinigen könnte. Was Nanak und die Sikhs angeht, so erreichten sie wie die deutschen Mystiker eine großartige neue Offenbarung in der Religion, aber sehr wenig, was philosophisch von Bedeutung wäre. Tatsächlich hat Indien - mit der möglichen Ausnahme der Logikschule der Navya-Nyaya - bis zur Begegnung mit den Briten keinen wirklich großen Denker mehr hervorgebracht. Wir können hier die Spätscholastiker von Vallabha sowie die zweite und dritte Generation von Kommentaren über Kommentare in den Traditionen der Sankara Advaitin und der Ramanuja erwähnen.

Ausgenommen den neuen Zyklus, der mit Wang Yang Ming (1472-1529) zu beginnen scheint, haben wir in China in dieser Periode meist nur die sterile Scholastik von Kommentaren über Kommentare zu Chu Hsi. Und in Japan schließlich gibt es nach Dogen, Nichiren, Honen und Shinran sehr wenig neue Entwicklung im japanischen Buddhismus, wenngleich beachtenswerte Vertreter der jeweiligen Traditionen auftreten. Natürlich gibt es den Neo-Shintoismus von Kitbatake Chikafusa (1293-1354) und anderen nach ihm, die sich weiter um eine Versöhnung zwischen Nationalismus (oder: japanischen Ethnozentrismus?) und dem buddhistischen Universalismus bemühen. Um die Sache kurz zu machen: auch hier wieder Synthesen und Verfeinerungen.

Maximale Begegnungen: europäische Expansion, Entdeckung und Ausbeutung (1550-1750)

Den Abschnitt zwischen 1550 und 1750, der in Europa Renaissance und Reformation einschließt, die nun auf den ihnen gebührenden Platz in einer weltgeschichtlichen Perspektive reduziert sind, bezeichnen wir als das Zeitalter der maximalen Begegnungen: europäische Expansion, Entdeckung und Ausbeutung. Während der eher farblosen Übergangsperiode von der Hochscholastik (1150-1350) zu wachsender Begegnung im 15. und 16. Jahrhundert gab es offenbar wenig wirkliche größere Entwicklungen; sobald wir uns der Zeit um 1550 nähern, finden wir uns aber in einer traumatisch anderen Welt. Es waren nicht nur die Seereisen der Portugiesen und Spanier - die tatsächlich chinesische nautische Kenntnisse nützten, von den Muslimen nur geringfügig verbessert -, die den Unterschied ausmachen. Wir sollen und werden den Auswirkungen der europäischen Expansion und (angeblichen) Beherrschung des Restes der Welt viel Aufmerksamkeit schenken, aber wir vergessen viel zu häufig, die Rückwirkungen auf Europa zu untersuchen, unter denen viele das toynbee'sche "Gesetz" belegen, daß militärische Eroberer sehr wahrscheinlich von ihren Untertanen kulturell erobert werden. Noch eine andere Bemerkung ist hier angebracht: Wie wurde diese barbarische Auffassung der Europäer zum Gesetz, daß Entdeckung die Aneignung einschließt? Wer "entdeckte" was? Könnten jene Forscher nicht als Freunde anstatt als Eroberer, Piraten (denn viele von ihnen waren nichts weniger als dies), Missionare und Sklavenhändler gekommen sein? Zumindest ist zu sagen, daß der Begriff eines Zeitalters der "Entdeckungen" zu revidieren ist.

Jean Duché betont unsere Sicht, daß ab dem 16. Jahrhundert die Europäer beide Amerika, wenn nicht auch den Rest der Welt vergewaltigten. In seinem dritten Band formuliert er als Kapitelüberschrift: "L'Europe au Centre du Monde?" - er braucht nicht zu fragen, für wen, denn es war gewiß nie so für die Chinesen, die Japaner oder die meisten anderen (selbst wenn manche Leute in Indien und Afrika beinahe überzeugt waren, es sei so).

Der afrikanische Sklavenhandel und der Völkermord in Nord- und Südamerika waren nur einige der vielen Ausbeutungsprozesse, die mit der europäischen Expansion einhergingen. Unnötig zu sagen, daß nichts von dem Gold und Silber, das in holländische und britische Banken floß, jemals zurückkam.

Die kulturelle Entfremdung, die sich hier abspielte, zu beschreiben, würde viele Bände füllen. Neben dem Verbot der Spanier, in den Kolonien Bücher zu drucken, reicht der Hinweis auf die britische Politik - die tatsächlich im Vergleich mit der holländischen und portugiesischen liberal war -, ein Erziehungssystem aufzubauen, um "lauter kleine Engländer" mit brauner, schwarzer oder gelber Haut zu schaffen. Die Rolle der Missionare ist ein derart emotional besetztes Thema, daß man bezweifeln kann, es werde jemals möglich sein, ihr Werk objektiv einzuschätzen. Selbst dort, wo sie imstande waren, das von den Eroberern angerichtete Unheil zu mindern, war vielleicht ihr größtes Verdienst die Pioniertat der Übersetzung klassischer Schriften der "Eingeborenen" in europäische Sprachen, wenngleich sie damit auch den Mythos vom Osten als dem mystischen Gegenstück zum materialistischen Westen bestärkten. Und selbst sie verbreiteten manchmal mehr Haß als christliche Liebe.

Protestanten gegen Katholiken, Franzosen gegen Briten und Holländer gegen beide - die Europäer lernten, trotz christlicher Nächstenliebe in der Theorie, in der Praxis einander hassen aufgrund ihres Kampfes um Imperien. Nicht damit zufrieden, alle Nichteuropäer zu verachten, hat europäischer Haß es sogar fertiggebracht, mit Hilfe des klassischen "divide et impera" und dem Imperialismus, Feindschaft zwischen Japan und China, zwischen Hindus und Muslimen in Indien und Pakistan, zwischen Weißen und Schwarzen in den meisten Teilen Afrikas und, was vielleicht das Schlimmste war, zwischen China und Indien zu säen, die in Friede und Freundschaft viele Jahrtausende gelebt hatten. Zwischen Rousseaus unschuldigem und edlem Wilden und Hobbes' "nature red with tooth and claw" wurde die Wahrheit ausgelöscht: tatsächlich bildeten den Rest der Menschheit einfach Menschen wie sie selbst. Diese Einsicht aber kam zu spät.

Im Verhältnis zum Hof Akbars (1556-1605) in Indien war derjenige Elisabeths I. eine Puppenstube. Der chinesische Zeitgenosse von König Georg scherzte nicht, als er antwortete, China habe "keinen Bedarf an den Amuletten des Barbarenkönigs", denn er war nicht nur gänzlich unbeeindruckt, sondern zweifellos auch wirklich überrascht von der Weigerung der Briten, Vasallen des "Reiches der Mitte" zu werden und dadurch die Segnungen der Kultur anzunehmen. Später wendete sich das Blatt teilweise: die französischen Physiokraten und nicht wenige unter den "Philosophes", Leibniz (1646-1716) eingeschlossen, verlangten, der Hof müsse nach dem Muster der Chinesen umgestaltet werden - bis dann der Papst eingriff und der Sache ein Ende machte. Obwohl Portugal einige kulturelle Segnungen aus dem "Orient"handel bekam, drang kein Europäer nach Japan, Thailand oder in den Iran vor - zumindest nicht für sehr lange Zeit, denn diese Kulturen kamen schnell genug dahinter, um sich dem Los zu entziehen, Teil europäischer Imperien zu werden, die dem Papst in Rom verbunden waren. Sie hatten bereits ihre eigenen "Päpste". "Europa als Mittelpunkt der Welt"? - nur für die Europäer! So müssen wir den Abschnitt zwischen 1550 und 1750 neuerlich untersuchen, der so oft als die "Zeit der Entdeckungen" oder die "Epoche europäischer Expansion" benannt worden ist; und ironischerweise wird dabei durchaus fraglich, ob die wissenschaftliche und technische Revolution in Europa hätte stattfinden können ohne das angehäufte Vermögen, das aus dem Rest der Welt abgezogen wurde. Nichtsdestoweniger können Toynbees "Begegnungen zwischen Kulturen" entweder positiv sein (wie beim indischen Buddhismus in China) oder negativ (wie bei der islamischen Maxime: Wahrer Glaube oder das Schwert!) oder beides, wie im Fall der Briten in Indien.

Während dieser Periode können wir noch folgende Daten anmerken: es ist die Ära Akbars (1556); die kleine Ära von Azarias von Dschulfa in Armenien (1616); die Übernahme des muslimischen Kalenders in Java (1633); die Rajyabhiseka-Saka-Ära im hinduistischen Indien (1673); der Beginn des Tokugawa Shogunats in Japan (1600) und die Schließung Japans für alles bis auf die holländische Wissenschaft (1639); mit Pegu beginnt das moderne Burma (1550); Siam erringt neuerlich seine Unabhängigkeit (1567) und etwa zur selben Zeit dringen die Vietnamesen zum ersten Mal ins Mekongdelta vor, das bisher zu Kambodscha gehört hatte; der Aufstand der Sikhs besiegelt dasjenige, was man die "nachmuslimische" oder "protestantische" Reformation im hinduistisch-muslimischen Indien nennen könnte (1606); die Anfänge der Ch'ing oder Mandschu-Dynastie (1644); Ku Hsien Ch'heng (1550-1612) begründet die Akademie von T'ung lin; Shah Abbas von Persien nimmt Bagdad ein (1632); Anfänge des Maratha-Reiches unter Shivaji in Indien (1662); das Tadsch Mahal wird fertiggestellt (1653); die russische Expansion in Sibirien erreicht den Baikalsee (1634). Die Bedeutung solcher Daten führt uns zu der Frage, ob es nicht eine mögliche "Subperiode" gibt, die natürlicherweise etwa um 1660 anzusetzen wäre - obwohl es zu dieser Zeit noch nicht klar war, welche Europäer in den "Besitz" welcher Teile der Welt gelangen würden; und unabhängig von Einzeldaten kann man die Bedeutung der europäischen Expansion (die auf gewisse Weise vielleicht mit der Expansion zu Land durch die Hunnen, Türken und Mongolen verglichen werden sollte) nicht unterschätzen.

Die wissenschaftliche Revolution wurde zu einem sehr hohen Preis erkauft und wir wundern uns manchmal darüber, ob sie diesen Preis wirklich wert war. Ein weiser Mensch hätte damals wohl eine Art neues Zeitalter vorhergesagt - aber ein Zeitalter der Ungewißheit? Jedoch: mit der Wissenschaft mehr Gewißheit? Sicherlich nicht. Galileo löste mit seiner "kopernikanischen Revolution" in der Naturwissenschaft den Knoten der Tradition, und sogar die Engel zitterten. Jedoch: ohne den Reichtum aus den anderen Welten - wie hätte die Wissenschaft blühen können?

Rückzug von den Begegnungen: Nationalismus und Naturalismus (1750-1850)

Nach 1750 beginnt eine Reaktion. Nicht nur die USA versuchten von Europa unabhängig zu werden; niemand wünscht sich, kolonisiert oder als "Eingeborener" bezeichnet zu werden. Es hat ganze zwei Jahrhunderte gebraucht, bis begonnen wurde, dieses Ungleichgewicht zwischen dem lateinisch-germanischen Europa und den anderen Kulturen auszugleichen. Auf dem Gipfel des 18. Jahrhunderts war der Beginn der Gegenströmungen, der Rückzug von den Begegnungen schon zu sehen. Selbst die toleranten Chinesen mußten ihre Toleranzedikte zurückziehen, ebenso wie Japan dies in einer entschiedeneren Art schon einige Jahre zuvor getan hatte.

Es ist als Bestätigung unserer Charakterisierung der Epoche als eines "Rückzugs von Begegnungen" bemerkenswert, daß McNeil den Zeitraum zwischen 1700 und 1850 als Epoche eines "erschütterten Weltgleichgewichts" bezeichnet - was teilweise, wie Toynbee gesehen hat, durch die Tatsache bewirkt war, daß das Dampfschiff die Überlandrouten ersetzte, dadurch die Kommunikationswege quer durch Eurasien über Land verringerte und den Mythos von der Gesondertheit von "Ost" und "West" zur Blüte brachte.

Was wir mit dem Rückzug von Begegnungen meinen, wird in den Bereichen der Religion und der Philosophie sehr deutlich. Es gab beispielsweise in Indien, in scharfem Kontrast zum Synkretismus zwischen Hinduismus und Islam unter Akbar (1542-1605), Dara Sikoh (1615-1659), Ramananda (1299-1411), Kabir (1440-1518) und Nanak (1469-1538) eine "zurück-zum-Koran" Bewegung, insbesondere im Sufismus, aber auch im antihinduistischen Fanatismus der späteren Mogulherrscher. Im Iran neigten die Nachfolger von Mullah Sadra Shirazi (1571-1640) mehr und mehr dazu, von seiner Synthese Abstand zu nehmen und sich auf eine Art von Scholastik zurückzuziehen. Aus den Tatsachen sowie aus der relativen Sterilität der Philosophie unter den Osmanen ist der Mythos vom "Niedergang" des Islam während des 17., 18. und sogar noch des 19. Jahrhunderts entstanden; wir haben jedoch wachsende Belege dafür, daß dieser Mythos eher auf den Mangel an Kommunikation zwischen den europäischen Islamisten und der einheimischen Tradition zurückgeht.

Bei den Hindus gab es sowohl unter Sivaji wie in Vijayanagar und mit Madhusudna Saraswati und Appaya Diksita eine anti-muslimische "zurück-zu-den-Veden" Bewegung. Wir haben die "Schließung" Japans gegenüber europäischen Missionaren schon erwähnt und wir hätten auch erwähnen können, daß die Tolerierung des Buddhismus in sehr kritischem Maß zurückgenommen wurde. Der nationalistische Shintoismus setzte sich aggressiv als Staatsreligion in offen chauvinistischer Weise durch. Wir haben ebenso den Widerruf der Toleranzedikte in China erwähnt; noch entscheidender war die "Reformation" des Tai Chen (1723-1777) "zurück-zu-Konfuzius" mit ihrer puritanischen Moral, die eine Reaktion gegen die synkretistischen Tendenzen von Wang Yang Ming waren. Tatsächlich gingen alle Aktivitäten der Tung-ling-Akademie in diese Richtung. Wir brauchen die parallelen Bewegungen "zurück-zur-Bibel" sowohl in der katholischen wie in der protestantischen Christenheit nicht zu erwähnen; aber wir sollten betonen, wie die Unterdrückung der Jesuiten um die Mitte des 18. Jahrhunderts überall Auswirkungen hatte, denn sie - was immer ihre Laster gewesen sein mögen - hatten die Politik verfolgt, einheimische Wege zu ermutigen, wenn diese nicht offen im Widerspruch zum christlichen Glauben standen.

Nationalismus und Naturalismus sind Merkmale, die diesen Rückzug von Begegnungen nicht nur in Westeuropa zu begleiten scheinen, sondern auch in den meisten anderen Gebieten der Welt. Diese Trends können nicht mechanisch in genaue Jahres-Perioden eingeteilt werden, sondern stellen eher Überlappungen und Unterströmungen dar; dennoch kann man behaupten, daß sie sehr etwa zwischen 1750 und 1850 sehr offensichtlich sind oder zumindest dort ihre Anfänge haben. (Auch Mujeeb bemerkt dies, wenn er den Abschnitt zwischen 1750 und 1850 ein "Jahrhundert von Revolutionen" nennt.)

Tatsächlich scheint der Ausdruck Nationalismus eher das westeuropäische Phänomen zu bezeichnen, in kleinere Einheiten zu zerfallen, die wir heute Nationen nennen. Der Nationalismus wird oft - und zu Recht - verworfen, denn er ist zur krankhaften Aufteilunssucht, zum Haupthindernis für die globale Gemeinschaft geworden. Denn der Mythos der nationalen Souveränität ist der Nachfolger der älteren Ideologie vom göttlichen Recht der Könige. Offensichtlich hat unter den modernen ökonomischen Bedingungen, unter denen keine einzelne Nation auf der Erde autark sein kann, dieser Mythos wenig bis gar keine Realität hinter sich; und ohne die Kolonialreiche, welche die Europäer erwarben, würde der nationale Anspruch nie irgendeine Möglichkeit der Akzeptanz irgendwo gehabt haben.

Wir müssen die Frage aufwerfen, ob dieses Phänomen des Nationalismus wirklich in der restlichen Welt anwendbar ist, denn Nationalität war kein Thema, bevor die anderen europäisiert oder "verwestlicht" wurden. Worum es im Grunde ging, war die Erhaltung der Identität jeder Kultur in ihrer Ganzheit angesichts der erobernden und ausbeutenden Mächte. Würde "Nationalismus" sich tatsächlich weit genug in der Welt ausbreiten, so wäre das Endergebnis etwas, was von Europäern eine "Balkanisierung der Welt" genannt werden könnte. Indien, das viel mehr hinsichtlich der Sprachen und der allgemeinen Kulturtraditionen diversifiziert ist, wäre so sehr "balkanisiert" worden, daß es in keiner sinnvollen Bedeutung des Wortes mehr eine Einheit dargestellt hätte, außer vielleicht als geologische, aber schon viel weniger als geographische Einheit. Dasselbe träfe auf Zentralasien zu, sogar auf China und sicher auf das indonesische Inselreich, während der osmanische Rest der großen Einheit der islamischen Welt sich selbst bis zur Unkenntlichkeit "balkanisiert" hätte.

Und in einem erstaunlich hohen Grad ist gerade dies auch geschehen, wobei die große Ausnahme vielleicht die "pax iberica" in Hispanoamerika darstellt. Die Durchdringung Afrikas durch Europäer, die untereinander und auch mit dem Islam rivalisierten, führte gewaltsam zu einer schrecklichen künstlichen "Balkanisierung" des ganzen Kontinents. Die Landkarte Indiens wurde unter der britischen Herrschaft so komplex, daß kaum ein Experte mehr alle die Fürstentümer, Nawabtümer und pseudo-autonomen Regionen richtig aufzählen konnte. China bewahrte einen Anschein von Einheit bis zur "Balkanisierung" durch "Einflußsphären" der rivalisierenden Europäer, welche zur niedrigsten Phase in der chinesischen Geschichte führte.

Die sogenannte "Abschließung" Japans wird leichthin als "Nationalismus" interpretiert, obwohl dies nur mit einigem Vorbehalt gilt, denn es war im Grunde nur die Weigerung, Teil irgendeines europäischen Kolonialreichs zu werden. Es war jedoch auch eine Fortsetzung von chauvinistischem Ethnozentrismus, der zumindest auf Nichiren zurückreicht; und mit Leitfiguren wie Arai Hakuseki (1657-1725) war es sogar eine Zurückweisung des Buddhismus als etwas Importiertem und Ausländischem. Um die äußeren Erscheinungsformen dieses "Nationalismus" zu stärken, wurde der Neokonfuzianismus frisch eingeführt; aber mit Kamo Mabuchi (1697-1769) und anderen führte selbst dies zu etwas, was als National-Shinto im Vergleich zum Schrein-Shinto bekannt wurde. Shinto war bis dahin eher so etwas wie ein hochentwickelter polytheistischer Animismus gewesen, der sich auf synkretistische Weise an jede denkbare Neuerung anpassen ließ; der National-Shinto der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch nahm systematische Gestalt als nationaler Glaube an den Kaiserkult und den Begriff des "auserwählten Volkes" an, womit zugleich der Gedanke einer göttlichen Bestimmung verbunden war, England und den anderen europäischen Mächten auf jedem Gebiet von der Medizin bis zur Schifffahrtstechnik Paroli zu bieten. Nachdem sie herausgefunden hatten, daß Europa in solchen Dingen China überlegen war, lernten die Japaner in den "Rangaku"-Studien selektiv aber eindringlich alles, was sie nur finden konnten, und paßten es ihrem eigenen Gebrauch an. Um das mindeste zu sagen, stellt sich die "Öffnung" Japans durch den Commodore Perry am Ende dieser Epoche als wenig mehr denn ein Mythos heraus.

Im Falle Chinas ist die Lage nicht so dramatisch klar. Beispielsweise wurden die Jesuiten, die den christlichen Glauben an chinesische Kultur und Sitten anpaßten, nicht nur toleriert, sondern waren ziemlich lange willkommen - bis die Bettelorden kamen und praktisch alles Erreichte wieder rückgängig machten. Das Endergebnis war die Aufhebung der Toleranzedikte und die Beschränkung des ganzen Auslandshandels auf Kanton. Dies paßt offensichtlich zur Beschreibung mit Nationalismus und einem Rückzug aus Begegnungen. Es wird zugegebenermaßen kompliziert durch den Übergang von der Ming- zur Ch'ing-Dynastie - die ungeliebte Herrschaft der Mandschu war von der Art, daß viele sich weigerten, diesem barbarischen "ausländischen" Regime zu dienen. Wenn dies auch sicherlich als Beleg für einen hochgradigen Nationalismus (selbst innerhalb der Dynamik der chinesischen Kultur selbst) genommen werden kann, so bleibt unser Thema doch im Fall Chinas weiterhin kontrovers und als offene Frage für weitere Forschung und Diskussion. Es mag genügen, auf den Punkt zu verweisen, daß es diesen Trend gab und daß er ziemlich verwurzelt war - der sogenannte Boxeraufstand und die mißlungene Taiping-Revolution sind lediglich die offensichtlichsten Auswirkungen dieses Trends.

Aufgrund des gegenwärtig nur unzulänglich vorhandenen Forschungsmaterials müssen wir die Philippinen, das heutige Indonesien und Südostasien im allgemeinen überspringen, wobei wir uns jedoch daran erinnern, daß der Nationalismus Thailands stark genug war, um Kontrahenten gegeneinander auszuspielen und somit von allen Beteiligten das Beste zu bekommen. In gewissem Grade trifft dies auch auf Persien zu. Indem es seine Identität positiv geltend machte, suchte Persien von sich aus Bündnisse wo immer und wann immer es möglich war, die seinen eigenen nationalen Interessen dienen würden, insbesondere wurde es initiativ im Bemühen um eine Allianz mit Frankreich gegen das Osmanische Reich.

Bezüglich Rußlands ist der Sachverhalt so klar, daß er kaum erwähnt zu werden braucht. McNeil hat ihn in seinem "Rise of the West" mit der Zeichnung von Peter dem Großen als Janus dramatisch dargestellt, der nach Osten und nach Westen schaut, womit Rußland von Beidem das Beste zu haben behauptet. Der einzige Unterschied liegt darin, daß das russische Reich mit dem Mutterland verbunden war und immer noch zu einem Teil des Mutterlands wird, sodaß darauf der Vorwurf des Kolonialismus angeblich nicht so zutrifft wie bei den Imperien mit überseeischen Kolonien. Tatsächlich wäre schon das Auftauchen des Mythos von Moskau aus dem dritten Rom ausreichend, um unsere These zu belegen, wenn wir keine anderen Zeugnisse hätten.

Was Westeuropa und die beiden Amerika betrifft, sind die Fakten so allgemein bekannt, daß wir nicht näher darauf hinweisen müssen. Lateinamerika strebte nach Unabhängigkeit noch vor den Nordamerikanern, aber die spanische Zentralmacht war stärker als die Monarchie in London, sodaß der Erfolg sich erst später einstellte. Was die meisten immer noch zu wenig beachten ist der Umstand, daß der Nationalismus auf seiten jeder einzelnen dieser reichen und potentiell mächtigen Enklaven souveränder Nationen ständig so stark war, daß Bolivars Traum einer lateinamerikanischen Föderation ohne jede Verbindung mit den Vereinigten Staaten bis heute nicht möglich gewesen ist.

Der Naturalismus, ein anderes Merkmal dieser Periode, ist eng mit den Themen der Verwestlichung, Modernisierung und Säkularisierung verknüpft; weil man dies aber leicht übersieht, ist es nicht so einfach freizulegen, ohne das Gesamtmuster der Entwicklung zu zerstören.

Im Fall des Auftauchens des Naturalismus in Westeuropa zwischen der Zeit der Renaissance und der Gegenwart ist die Literatur so reichlich, daß wir sie nicht zu erwähnen brauchen. Das dramatische Auftreten der modernen Naturwissenschaften, verbunden sogar mit etwas, das man natürliche Theologie genannt hat, wird stets als Hauptmerkmal der letzten zwei oder drei Jahrhunderte der Weltgeschichte vorgestellt.

Nicht nur Galilei traf auf Widerstand; tatsächlich waren so viele der neuen Ideen so sehr umstritten, daß die Kontroversen um die spätere Dreiheit Darwin-Marx-Freud wirklich meistens frühere Argumente in unterschiedlicher Form enthalten. Die Kontroverse in der Geologie, beispielsweise um all die seltsamen Theorien über Fossilien, war ebenso traumatisch wie der Darwinismus im frühen 20. Jahrhundert. Es war jedoch nicht weniger schwierig, den gewaltigen Eindruck, den die Entdeckung der Errungenschaften der "Eingeborenen" im "Orient" machten, mit dem etablierten Dogma zu verbinden. Zum Beispiel fand es sogar der große Wissenschaftler Cuvier schwierig, den Umstand, daß die indische Kultur weiter zurückreichte als die griechische und römische Antike, mit seiner ethnozentrischen Sicht der Dinge zu vereinbaren; und außer daß er die traditionelle Datierung der Erschaffung der Welt um 4000 v. verwarf, verfiel er schließlich auf die Idee, daß vielleicht irgendwie einige der großen Errungenschaften sogar in der indischen Wissenschaft, wenn nicht auch in derjenigen anderer Kulturen, Überbleibsel aus dem überlegenen Zustand der Kultur vor der Sintflut seien, wobei Noah die Hauptrolle spielte.

Wir beginnen erst, die wirklichen Bedingungen der Wissenschaften in Indien und China im 18. Jahrhundert zu erkennen, aber die folgenden zwei Beispiele können als repräsentativ gelten: die Briten verboten die ayurvedisch Praxis der Pockenimpfung, weil sie glaubten, daß diese mit heidnischem Aberglauben verbunden sei; das Ergebnis war eine Epidemie. Erst viele Jahre später kamen die Europäer unabhängig davon zu einem sehr ähnlichen Verfahren. Ebenso war der britische Stahl dem indischen Stahl relativ lang so sehr unterlegen, daß England tatsächlich Stahl aus Schweden einführte, bis jemand von der indischen Technik erfuhr und sie zur Massenfertigung ausarbeitete. Wir könnten noch viele Beispiele für die Ungläubigkeit anführen, welche Europäer gegnüber den Errungenschaften auf jedem Gebiet, von der Astronomie bis zur wissenschaftlichen Linguistik, nicht nur im Fall Indiens, sondern auch Chinas hegten. Weil aber eine Vervielfachung von Beispielen lediglich die Tatsache deutlicher machen würde, daß der europäische Naturalismus erst viel später fortgeschrittener wurde, als allgemein angenommen wird, sollten wir eher den weniger bekannten Naturalismus des 18. und 19. Jahrhunderts in Japan, China, Indien, Rußland, den beiden Amerika usw. untersuchen.

Im Falle Chinas muß die Behauptung, daß die konfuzianische, speziell die neokonfuzianische Philosophie immer schon naturalistisch gewesen sei - und zwar in so hohem Grad, daß die Jesuiten große Schwierigkeiten hatten, die chinesischen Intellektuellen von ihrer Behauptung zu überzeugen, sie hätten eine "geoffenbarte" Religion -, sorgfältig geprüft werden. Natürlich hat der chinesische Buddhismus einige "übernatürliche" Themen entwickelt, und die Gnadentheologie in den Kulten von Tiantai und im Amitabhakult läuft bemerkenswert parallel zu ihren christlichen Entsprechungen; aber diese waren im 18. Jahrhundert vollständig überholt und offiziell verworfen von solchen führenden Denkern wie Yen Yuan und Dai Zhen. Überdies gab es eine Reaktion gegenüber dem Idealismus von Wang Yangming im 16. Jahrhundert, und die realistische (oder offen naturalistische) Schule des Neokonfuzianismus war im Aufstieg. Die Fälle von Gu Yanwu und Zhang Xuecheng unterstreichen das Ausmaß, bis zu dem selbst ein empirischer Naturalismus sich entwickelt hatte, denn sie besuchten oft die in den klassischen Texten erwähnten Orte und überprüften deren Genauigkeit, bevor sie die Geschichte Chinas für ihre eigene Generation neu schrieben. Kurz, man gewinnt den entschiedenen Eindruck, daß trotz der naturalistischen Trends, die zumindest latent vorhanden waren, seit Zhu Xi auf einer buchstäblichen Interpretation von ge wu als einer Untersuchung der Dinge bestanden hatte, dieser Empirismus, Pragmatismus und Naturalismus im 18. Jahrhundert zu frischer Blüte gelangten.

In Japan reicht es aus, die Namen von Ishida Baigen, Miura Baien und Kamo Mabuchi als Vertreter eines eindeutig naturalistischen Trends selbst in der verhältnismäßig konservativen Shingaku-Schule zu erwähnen, ganz abgesehen von dem Naturalismus, der die Rangaku-Studien motivierte. Dramatischer aber ist noch der Vergleich zwischen John Locke und Kaibara Ekiken durch Olaf Graf (Kaibara Ekiken, Leiden: Brill 1942), der hinreichend überzeugend sein sollte, um die seltsame Anschauung aus der Welt zu schaffen, daß nur das neuzeitliche Europa eine naturalistische Weltsicht entwickelt habe.

In Indien liegen die Dinge natürlich nicht so klar und werden es wahrscheinlich auch nicht sein, bis genauere Untersuchungen über die im 18. Jahrhundert entstehenden Landessprachen angestellt sind. Aber die Laufbahn von Ram Mohan Roy (1772-1833) ist hinreichend bekannt, sodaß sie hier nicht erzählt zu werden braucht; obwohl er später auftrat als die oben erwähnten chinesischen und japanischen Naturalisten, war er nicht ohne Vorläufer. Für das indische Denken gab es kaum einen Konflikt zwischen Naturalismus und Spiritualität, denn eine solche kartesische dualistische Dichotomie war nie von irgendeinem Einfluß in einer Tradition der Hindu, Jaina, Buddhisten oder Sikh.

Wer sehnsüchtig nach vorrevolutionären russischen Denkern und Schriftstellern auf der Suche nach einer verlorenen Spiritualität von Mütterchen Rußland Ausschau hält, übersieht leicht das Werk von Leuten wie Michael Lomonossow, Nikolaj Popovsky und die Erbschaft der Enzyklopädisten, die Katharina die Große aus Frankreich eingeladen hatte. Tatsächlich hatte Marx in Bakunin trotz aller zaristischen Autokratie und Zensur einen Rivalen, der revolutionärer war als er selbst. Man vergißt auch leicht, daß Mendeljev kein Westeuropäer war, sondern reiner Russe. Nicht, daß es hier nicht auch Spiritualität gegeben hätte; wir können vielmehr auf Skovoroda als eine Art russischen Ram Mohan Roy lange vor Tolstoj und Dostojewski verweisen.

Was die beiden Amerika angeht, so sind Benjamin Franklin und die Abenteuer Alexander von Humboldts in Lateinamerika hinreichend bekannt. Man könnte aber auch Cadwallader Colden in Nordamerika nennen; das Denken und die Forschungen von Jos Celstino Mutis, Francisco Eugenio Espejo und Benito Jeronimo Feijoo standen trotz der spanischen Inquisition in vollem Einklang mit der französischen Aufklärung und dem damit verbundenen Naturalismus. Der Umstand, daß Tom Paine in beiden Kontinenten außerordentlich populär war, würde als Beleg ausreichen, um zu zeigen, daß der Naturalismus in Lateinamerika im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht nur vorhanden, sondern sehr einflußreich war.

Die Frage, ob Naturalismus und Nationalismus notwendigerweise Hand in Hand gehen oder nur zufällig zusammen auftraten, müssen wir weiteren Untersuchungen überlassen.


Die vollständige Begegnung

Der Rückzug von Begegnungen setzt sich sogar heute dialektisch als Gegenströmung zur vollständigen Begegnung fort, was sich in den Unabhängigkeitsbewegungen und in der Kultivierung nationaler und ethnischer Ideen zeigt.

Wir sind in das 19. und 20. Jahrhundert gerast: die Beschleunigung der Zeit, der "Zukunftsschock" beginnt das vorherrschende Phänomen zu werden mit einer völligen Vermischung von Modernisierung, Industrialisierung, Säkularisierung und Verwestlichung. Dies ist am auffallendsten in der japanischen Meji-Restauration, aber auch in Indien und in vielen neuen afrikanischen Ländern selbst heute. Alles wird stromlinienförmig einer Instant-Generation angepaßt: elektrifiziert, kapitalisiert, sozialisiert, technisiert. Für Euramerika werden die Wörter "Imperium" und "Ausbeutung" Wörter der Zustimmung, nicht der Anklage.

Man beginnt sich zu wundern: war der Krieg von 1914-18 der erste Welt-Krieg oder gab es bereits einen solchen etwa um 1860, von dem der nordamerikanische Bürgerkrieg nur ein Teil war? Noch entscheidender aber ist der vollständige Wandel in der Natur der Kriegsführung selbst, der zu dem geführt hat, was Raymond Aron "Das Jahrhundert des totalen Krieges" nannte. Auch der Krieg wird zum Instant-Krieg - wobei er hoffentlich einer "Negation der Negation" unterliegt, aber das Endergebnis ist noch nicht klar. Wie schnell hat doch das "Jahrhundert des Fortschritts" seinen Namen gewechselt, ist zum "Jahrhundert der Angst", zum "Zeitalter des Overkill", zum "Atomzeitalter" geworden und könnte sich jetzt auf ein Zeitalter globaler Guerillakriege hinbewegen.

Revolution ist zu einem Hoffnungswort geworden, mit einer mystischen Aura, sodaß selbst Kant von seiner Philosophie als einer "kopernikanischen Revolution" dachte. Inzwischen hat vielleicht die größte aller Revolutionen stattgefunden, indem die Mittel der Kommunikation von den Transportmitteln getrennt wurden. Der interkontinentale Telegraph, Telefon, Radio und Fernsehen haben die menschlichen Einstellungen mehr verändert als irgend ein anderer Faktor in der Menschheitsgeschichte.

Die Beschleunigung der Zeit in unserer eigenen Lebenszeit war derart, daß wir Entfernungen nicht mehr in Meilen oder Kilometern messen, sondern in der Zeit, die für eine Reise erforderlich ist. Es ist auch nicht mehr die organische Sonnen- oder Mondzeit, sondern die mechanische Uhrzeit, die unser Leben regiert. Der Unterschied zwischen Nacht und Tag verschwindet und unsere biologischen Rhythmen werden ständig und so häufig unterbrochen, daß Neurosen zu einer verbreiteten Krankheit geworden sind. Schon längst haben wir den Sinn für astronomische Zeit, geologische Zeit oder selbst für historische Zeit verloren. Die Instant-Generation hat keine Wurzeln in der Geschichte und selbst die Philosophen sind für ihre Instant-Weisheit von Computern abhängig.

Bedauerlicherweise braucht es Zeit, um Zeit zu messen; und das Messen historischer Zeit braucht etwas Regulierung und Synchronisierung. Daher hören wir mit der Frage auf, mit der wir begonnen haben: Nach welchem Maß oder welchen Maßen, in welche Perioden können wir am besten die menschliche Zeit auf diesem Raumschiff Erde einteilen? Die Frage ist nicht rhetorisch.


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Letzte Bearbeitung: 22. März 1999
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