Geometrie ist, etwas salopp ausgedrückt, das Studium von "Abständen". Aus dem Mathematikunterricht kennen wir die Geometrie der Zeichenebene (auch euklidische Ebene genannt): Wir wissen, was der Abstand zweier Punkte ist (daher haben wir einen Begriff von der Länge einer Strecke und der Bogenlänge einer Kurve), und wir kennen einige elementare Sachverhalte, die in geometrischen Figuren wie Dreiecken, Vierecken oder Kreisen auftreten: etwa den Satz über die Winkelsumme im Dreieck, den Satz von Pythagoras oder die Beziehung u = 2pr zwischen Umfang und Radius eines Kreises. (Falls Sie jetzt fragen, was Winkel mit Längen zu tun haben: Der Winkelbegriff ist aus dem Längenbegriff abgeleitet. In einem Dreieck mit gegebenen Seitenlängen sind alle Winkel eindeutig bestimmt. Dies - oder die bekannte Geschichte mit der Bogenlänge des Kreissektors - kann man dazu benutzen, um zu definieren, was ein Winkel ist). Um derartige Beziehungen besser studieren zu können, benutzen wir Koordinatensysteme. Sind etwa zwei Punkte A und B in der euklidischen Ebene gegeben, und ist ein (kartesisches) Koordinatensystem gewählt, so werden jedem Punkt zwei Koordinaten zugeordnet. Sind (x1, y1) die Koordinaten von A und (x2, y2) die Koordinaten von B, so spielen die Koordinatendifferenzen Dx = x2 - x1 und Dy = y2 - y1 eine wichtige Rolle. Hier ein Diagramm zur Erinnerung: Wird der Abstand zwischen den Punkten A und B (d.h. die Länge der Strecke AB) mit Dl bezeichnet, so gilt die Gleichung
Das folgt aus dem Satz von Pythagoras und wird beim Lösen von Mathematikaufgaben tagtäglich verwendet. Der Abstand Dl ist die (positive) Quadratwurzel dieses Ausdrucks. Die Vorschrift (1) ist äußerst wichtig - sie trägt auch die Bezeichnung Metrik (oder euklidische Metrik): Man kann sie als Grundlage für die gesamte Geometrie der euklidischen Ebene ansehen und dazu benutzen, um den Abstandsbegriff (und auch die Begriffe der Länge einer Strecke und der Bogenlänge einer Kurve) formal ganz präzise zu definieren. Sie besitzt eine phantastische Eigenschaft, die wir die "Invarianz unter Koordinatentransformationen" nennen: Falls wir uns entschliessen, ein anderes, gegenüber dem obigen verdrehtes (kartesisches) Koordinatensystem zu verwenden, so sind die Koordinaten derselben Punkte nun durch andere Zahlen gegeben. Wir bezeichnen sie mit (x'1, y'1) für A und (x'2, y'2) für B. Das ist im nächsten Diagramm illustriert: Die Methode, das
Abstandsquadrat zu berechnen, ist aber dieselbe wir in (1), denn
der Satz von Pythagoras gilt ja auch in dieser Situation:
Das ist die mathematische Rechtfertigung dafür, (1) als vom Koordinatensystem unabhängige geometrische Größe, eben als Abstandsquadrat, zu interpretieren. Aber auch dem dreidimensionalen (euklidischen) Raum geben wir einen Abstandsbegriff, indem wir einfach eine Koordinate hinzufügen. Die Metrik, die räumliche Abstände durch Koordinatendifferenzen ausdrückt, ist durch
gegeben, und die dreidimensionale Version von (2) heißt nun Dx 2 + Dy 2 + Dz 2 = Dx' 2 + Dy' 2 + Dz' 2 , wobei sich die gestrichenen Koordinaten auf ein beliebiges räumlich verdrehtes (kartesisches) Koordinatensystem beziehen. Verallgemeinerungen auf höherdimensionale (euklidische) Räume können wir uns zwar nicht vorstellen, aber von den Grundgleichungen her funktionieren sie nach demselben Muster. Gleichung (2) und ihre dreidimensionale Schwester (3) drücken die Freiheit aus, zur Darstellung der Lage von Punkten beliebige (kartesische) Koordinatensysteme zu verwenden. Das ist insbesondere dort wichtig, wo wir die Geometrie auf die Physik anwenden: Da es keine ausgezeichnete Richtung im Raum gibt, kann es auch kein ausgezeichnetes Koordinatensystem geben, und es muss uns freistehen, die Koordinatenachsen beliebig zu orientieren (solange sie aufeinander normal stehen). Mit den Vorschriften (1) und (3) ausgerüstet, sind wir in der Lage, geometrische Sachverhalte durch Berechnungen zu analysieren. Auch die Vektorrechnung, die eine mächtige Methode zur Problemlösung darstellt, kann aus ihnen begründet werden. Die aus diesen Vorschriften (und der ihrer höherdimensionalen Verwandten) folgenden mathematischen Gesetzmäßigkeiten werden unter dem Sammelnamen "euklidische Geometrie" zusammengefasst. (1) und (3) zeigen,
dass wir in der Mathematik die Freiheit haben, innerhalb einer Menge
einen Abstandsbegriff zu definieren. Wir können aber auch
anderen Mengen einen Abstandsbegriff geben, und eine dieser Mengen ist
unser eigentliches Thema: die Raumzeit.
In der Geometrie der (euklidischen) Ebene oder des dreidimensionalen (euklidischen) Raumes bedeuten Abstände immer Längen. Die Spezielle Relativitätstheorie legt es nahe, der Raumzeit eine Struktur geben, die durchaus auch als "Abstandsbegriff" bezeichnet werden kann, und die sich auf Längen und Zeiten bezieht. Zunächst lassen wir die zwei räumlichen Koordinaten y und z weg (d.h. wir betrachten das zweidimensionale Modell der Raumzeit) und fixieren ein Inertialsystem. Sind zwei Ereignisse A und B gegeben, so werden ihnen Raumzeit-Koordinaten zugeordnet. Sind (t1, x1) die Koordinaten von A und (t2, x2) die Koordinaten von B, so spielen die Koordinatendifferenzen Dt = t2 - t1 und Dx = x2 - x1 eine wichtige Rolle. Hier das zugehörige Raumzeit-Diagramm: Wenn wir im Fall der euklidischen Geometrie die Freiheit haben, ein beliebiges (kartesisches) Koordinatensystem zu verwenden, haben wir in der Speziellen Relativitätstheorie die Freiheit, ein beliebiges Inertialsystem zu verwenden. Über den Zusammenhang zwischen den Raumzeit-Koordinaten eines Ereignisses in zwei verschiedenen Inertialsystemen haben wir im Abschnitt über die Lorentztransformation gesprochen. Stellen wir gegenüber:
Lorentztransformationen spielen daher eine zu Drehungen des Koordinatensystems analoge Rolle. Wie jene erlauben sie es, bei der Beschreibung eines Sachverhalts zwischen verschiedenen Bezugssystemen zu wechseln.
Wenn wir neben dem ursprünglichen auch ein anderes bewegtes Inertialsystem betrachten, bekommen dieselben Ereignisse andere Raumzeit-Koordinaten, sagen wir (t'1, x'1) für A und (t'2, x'2) für B. Zwischen den Kordinatendifferenzen im ersten und jenen im zweiten Inertialsystem gilt nun eine bemerkenswerte Beziehung:
Mit Hilfe der Formeln
und
für die Lorentztransformation in x-Richtung lässt sich das ganz leicht nachrechnen. Im Grunde genommen ist uns die Beziehung (4) bereits im Abschnitt über den Bondischen k-Kalkül als Nebenresultat begegnet. (Für jene, die dort nachlesen und Formeln vergleichen wollen: wir haben dort nur die Koordinaten eines einzigen Ereignisses betrachtet. Das andere ist sozusagen im Ursprung des Raumzeit-Diagramms gesessen). Die Gleichung (4) besagt, dass der Ausdruck c2 Dt 2 - Dx 2 in jedem beliebigen Inertialsystem berechnet werden kann - und jedesmal kommt dasselbe heraus! Es liegt nahe, einen Ausdruck mit dieser Eigenschaft eine Lorentz-Invariante (der zweidimensionalen Theorie) zu nennen. Was bedeutet das? Es bedeutet, in einer modernen Sprache ausgedrückt, dass wir hier eine vom Inertialssystem unabhängige geometrische Größe gefunden haben. Sie hängt nur von den beiden Ereignissen A und B ab, nicht aber vom konkreten Bezugssystem, das wir zur Berechnung gewählt haben! Da uns die Form des Ausdrucks c2 Dt 2 - Dx 2 berechtigterweise an das Abstandsquadrat Dx 2 + Dy 2 der euklidischen Geometrie erinnert - siehe (1) -, und da (4) eine ähnliche (Invarianz-)Aussage wie (2) ist, geben wir dieser Größe den Namen Raumzeit-Metrik (oder schlicht Metrik) und bezeichnen sie mit Ds 2 :
Werden die beiden weggelassenen Koordinaten y und z wieder hinzugefügt, so entsteht mit
der Ausdruck für
die Metrik der vollen, vierdimensionalen Raumzeit. Auch er hat in jedem
Inertialsystem den gleichen Wert, stellt also eine Lorentz-Invariante
(der vierdimensionalen Theorie) dar.
Da wir nun so eine schöne Struktur gefunden haben, ist die Vermutung naheliegend, dass sie auch eine physikalische Bedeutung hat. Das ist tatsächlich der Fall. Das Vorzeichen von Ds 2 sagt uns ob, die beiden Ereignisse A und B miteinander in kausalem Kontakt stehen können und welche Bedeutung Ds 2 hat. Wir unterscheiden drei Fälle, wie A und B zueinander liegen können:
Damit ist die physikalische Bedeutung der Raumzeit-Metrik aufgeklärt. Sie stellt das Beste dar, was wir als den "Abstand" zweier Ereignisse in der Raumzeit definieren können - je nach der kausalen Lage der Ereignisse beschreibt sie einmal eine (Eigen-)Zeit, ein anderes Mal einen räumlichen Abstand, jeweils mit genauen (und sinnvollen) Messvorschriften. Wir stellen die drei verschiedenen Bedeutungen, die die Größe Ds 2 annehmen kann, für die zweidimensionale Raumzeit in einem Diagramm zusammen: Liegen die beiden Ereignisse zeitartig (rot) oder raumartig (blau) zueinander, so ist Ds 2 (bis auf den Faktor c2) die Eigenzeit bzw. die Eigenlänge. Der dritte Fall (grün) wird daran erkannt, dass Ds 2 = 0, d.h. c2 Dt 2 = Dx 2 ist - dann liegen die beiden Ereignisse auf einer Photon-Weltlinie. (Die Tatsache, dass für solche - lichtartig zueinander liegenden - Ereignisse Ds 2 = 0 ist, regt manchmal zur Aussage an, dass "für ein Photon keine Zeit vergeht"). Wir wollen noch ein Wort zu den kausalen Verhältnissen in der Raumzeit sagen: Wird das Ereignis A festgehalten, so bildet die Menge aller zu A lichtartig liegenden Ereignisse den Lichtkegel von A (dessen Inneres in den Vergangenheitslichtkegel - alle Ereignisse, die A beeinflussen können - und den Zukunftslichtkegel - alle Ereignisse, die von A beeinflusst werden können - zerfällt). Die Menge außerhalb des Lichtkegels heißt auch die Gegenwart von A (alle Ereignisse, die in einem geeigneten Inertialsystem mit A gleichzeitig stattfinden): Die Gesamtheit
aller Lichtkegel bestimmt also, welche Ereignisse kausal miteinander
verbunden sein können (man spricht auch von der Kausalstruktur
der Raumzeit).
Die formale Ähnlichkeit der Gleichungen (7) bzw. (8) mit (1) bzw. (3) lässt erahnen, dass wir auf der Basis der Raumzeit-Metrik ebenso "Geometrie betreiben" können wie auf der Basis der euklidischen Metrik. Das ist tatsächlich der Fall: In Analogie zur euklidischen Geometrie begründet die Raumzeit-Metrik (7) bzw. (8) die sogenannte Minkowski-Geometrie (oder Lorentz-Geometrie, wegen der Minuszeichen in der Metrik auch pseudo-euklidische Geometrie genannt). Die Minuszeichen in der Metrik bewirken, dass hier vieles anders aussieht als in der gewohnten Zeichenebene oder im dreidimensionalen Raum. Der springende Punkt ist aber beiden Geometrien gemeinsam: Gewisse Ausdrücke hängen nicht von der Art und Weise der Beschreibung (der Wahl des Bezugssystems, in dem mit ihnen hantiert wird) ab. Sie stellen eigenständige - eben "geometrische" - Größen dar. Diese Sichtweise der Raumzeit hat viele Konsequenzen, und sie hat die Physik während der letzten hundert Jahre tiefgehend verändert. Wir wollen nur einige Aspekte nennen, um das zu verdeutlichen:
Ihre volle Bedeutung gewinnt die geometrische Sichtweise der Raumzeit erst in der Allgemeinen Relativitätstheorie, aber in der Speziellen Relativitätstheorie hat sie ihre Wurzeln. |
¬ Der Bondische k-Kalkül | Übersicht | Das Kreuz mit den Inertialsystemen ® |