Verschränkung für Nicht-PhysikerInnen

Franz Embacher
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Eine Geschichte Bemerkungen dazu

Stellen Sie sich vor, Sie haben zwei Bekannte - nennen wir sie Alice und Bob -, die an zwei verschiedenen Orten wohnen. Sie schicken jedem der beiden eine Schatulle, in die Sie vorher jeweils eine weiße und eine schwarze Kugel gelegt haben. Sie bringen die Schatullen zum Postamt, adressieren sie, und zwei Tage später, zu einer verabredeten Zeit, öffnen Alice und Bob ihre Schatullen und nehmen mit verbundenen Augen jeweils eine Kugel heraus. Danach werden die Schatullen weggeworfen, denn es besteht die Spielregel, nicht in sie hineinzusehen.

Der ganze Vorgang wird jede Woche wiederholt, denn mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis: Aus irgendeinem Grund ziehen Alice und Bob immer Kugeln gleicher Farbe! Alle Ihre Bekannten rätseln, wie das geschehen kann: Einmal ziehen Alice und Bob beide eine weiße, ein anderes Mal ziehen sie beide eine schwarze Kugel aus der Schatulle. Aber nie sind die Farben der Kugeln unterschiedlich - dabei schwören Alice und Bob, sich nicht insgeheim verabredet zu haben und auch ansonsten keinen Trick anzuwenden!

Das hier erzählte Verhalten gibt es tatsächlich! Allerdings nicht mit Schatullen und Kugeln, sondern beispielsweise mit Photonen (Lichtteilchen) oder mit Elektronen. Es heißt Verschränkung. Mit Photonen funktioniert es so: Zuerst werden (nach einem bestimmten Verfahren, dessen Details hier nicht interessieren) zwei Photonen erzeugt, die voneinander wegfliegen. In den Weg jedes Photons wird ein horizontal ausgerichteter Polarisationsfilter gestellt. Im Prinzip kann jedes Photon durch seinen Polarisationsfilter durchgelassen oder von ihm absorbiert werden. Beides ist möglich, und mal passiert das eine, mal das andere. Aber beide Photonen tun immer das Gleiche: Sie werden beide durchgelassen oder beide absorbiert.

Einer Ihrer Bekannten - Niels - entwickelt die Theorie, dass die beiden Schatullen zusammen eine untrennbare Einheit bilden. Bevor sie geöffnet werden, stehen die Farben der gezogenen Kugeln nicht fest - sie sind auf fundamentale Weise unbestimmt. Es lässt sich daher im Voraus nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage machen.

Dieser Auffassung widerspricht Albert, der eine ganz andere Lösung anzubieten hat. Seiner Meinung nach befindet sich in jeder der beiden Schatullen, die bei Alice und Bob ankommen, nur jeweils eine einzige Kugel. Irgendein Unbekannter muss die Schatullen am Postamt, in der Nacht, bevor sie zugestellt werden, öffnen und zwei gleichfarbige Kugeln herausnehmen! Da niemand - außer dem Missetäter - weiß, welche Kugeln sich nun in der Schatulle befinden, kann auch nicht vorausgesagt werden, welche Farbe Alice und Bob ziehen werden - sicher ist nur, dass es Kugeln gleicher Farbe sein werden. Die Unbestimmtheit, auf der Niels beharrt, ist in Alberts Augen lediglich eine Unkenntnis.

Da es zu den unumstößlichen Spielregeln gehört, nicht in die Schatullen hineinzuschauen, kann aber leider nicht überprüft werden, ob Albert recht hat.

Nach der so genannten Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, deren Hauptvertreter in den 1930er Jahren Niels Bohr war, bilden die beiden Photonen eine untrennbare Einheit. Bevor sie auf ihre Polarisationsfilter treffen, ist es auf fundamentale Weise unbestimmt, ob sie durchgelassen oder absorbiert werden.

Dieser Auffassung widersprach Albert Einstein (gemeinsam mit seinen Kollegen Podolsky und Rosen) im Jahr 1935. Einstein war der Meinung, dass es unbekannte Größen (die so genannten lokalen verborgenen Variablen) geben muss, die das Verhalten der Photonen im Voraus bestimmen, d.h. dass die Quantentheorie unvollständig und die Unbestimmtheit lediglich eine Unkenntnis ist.

Dreißig Jahre lang war unklar, ob Einstein recht haben könnte.

Einige Zeit später hat ein weiterer Bekannter - John - eine Idee. Sie ist zu kompliziert, um hier erzählt zu werden, denn sie hat mit Mathematik und Statistik zu tun. John schreibt einige Formeln auf ein Blatt Papier und beweist mit ihrer Hilfe, dass es möglich ist, die Kontroverse zwischen Niels und Albert zu entscheiden! Dabei müssen Alice und Bob irgendwelche Dinge tun, die mit den Kugeln und den Schatullen zusammenhängen, aber ohne die Spielregel zu verletzen.

Als eine nach Johns Plänen vorgenommene Überprüfung durchgeführt wird, ergibt sich ganz eindeutig: In jeder Schatulle sind zwei Kugeln, wenn sie zugestellt werden. Niemand hat die Schatullen manipuliert.

In den 1960er Jahren hatte der irische Physiker John Bell eine Idee. Sie hängt damit zusammen, dass die beiden Polarisationsfilter, die den Photonen in den Weg gestellt werden, beliebig verdreht werden können, und in jeder Stellung genau genommen die Messung einer anderen Größe darstellen. John Bell schrieb eine Ungleichung auf (die so genannte Bellsche Ungleichung), die auf einer statistischen Auswertung des Photonenverhaltens beruht, wenn die beiden Polarisationsfilter unabhängig voneinander in alle möglichen Richtungen gedreht werden. Falls Einstein recht hätte, so müsste diese Ungleichung gelten. (In diesem Punkt ist die Geschichte mit den Kugeln zugegebenermaßen ein bisschen zu simpel!)

Die experimentelle Überprüfung der Sachlage gelang Alain Aspect im Jahr 1982 (und wurde seither, so auch von Anton Zeilinger im Jahr 1998, perfektioniert). Alle Ergebnisse sind eindeutig: Die Bellsche Ungleichung ist verletzt. Es gibt keine lokalen verborgenen Variablen!

Es sieht also ganz so aus, als würden die zwei Kugeln auf irgendeine rätselhafte Art ihr Verhalten aufeinander abstimmen, und zwar erst dann, wenn Alice und Bob die Schatulle öffnen. Allerdings konnte dieses Verhalten nie dazu benutzt werden, um Nachrichten zu schicken! Wenn Alice ihre Kugel aus der Schatulle genommen hat, weiß sie zwar, welche Kugel Bob zur selben Zeit in der Hand hält, aber darauf lässt sich keine Kommunikation aufbauen.

Es sieht also zunächst so aus, als ob die zwei Photonen auf irgendeine rätselhafte Art ihr Verhalten aufeinander abstimmen, und zwar erst zum Zeitpunkt der Messung. Allerdings ist nach der Relativitätstheorie eine "instantane" Informationsübertragung nicht möglich und wurde auch nie beobachtet: Verschränkung kann nicht dazu benutzt werden, um Nachrichten schneller als das Licht zu schicken! In dieser Hinsicht steht die Quantentheorie in bestem Einklang mit der Relativitätstheorie.

Seither diskutieren Sie und Ihre Bekannten von Zeit zu Zeit über das Phänomen der Wunderkugeln, und ob sie nicht vielleicht doch irgendeinen Trick benutzen...

Die Diskussion um die Deutung der Quantentheorie ist nie zum Stillstand gekommen. Auch heute noch werden Theorien mit verborgenen Variablen (die dann allerdings nichtlokal sein müssen) entwickelt...


 
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