Zur Bedeutung der Zahl der Umgebungsfreiheitsgrade

Ist Dekohärenz universell oder etwas ganz Spezielles?


Unser einfaches Modell mag die Vorstellung erwecken, die Dekohärenz wäre nur durch eine ganz spezielle Wahl der Wechselwirkung erzielt worden. Für niedrigdimensionale Modelle ist das sicher richtig – wenn aber eine große Zahl von Umgebungsfreiheitsgraden ins Spiel kommt, ändert sich das. Hier ein kleiner Gedankenanstoß.

Betrachten wir ein System, das aus zwei Teilsystemen besteht. Der Zustandsraum des beobachteten Systems sei m-dimensional, der der Umgebung sei n-dimensional. (Der Hilbertraum eines realistischen quantenmechanischen Systems ist tatsächlich sogar unendlichdimensional, und da ein Meßgerät uns letztlich nur endlich viele Werte übermitteln kann, werden unendlich viele Freiheitsgrade nicht beobachtet. Wir begnügen und aber mit einem endlichen n, das wir beliebig groß machen können).

Ein typischer (reiner) Zustand des beobachteten Systems kann als m-dimensionaler Vektor mit Komponenten xj j = 1, 2,...m) dargestellt werden, ein typischer Zustand der Umgebung als n-dimensionaler Vektor mit Komponenten yα α = 1, 2,...n). Ein reiner Zustand ψ des Gesamtsystems lebt daher in einem mn-dimensionalen Raum und kann als m×n-Matrix mit Komponenten ψjα angeschrieben werden.
Wem das nicht klar ist, kann sich das so verdeutlichen: Ist der Zustand ein Produkt aus voneinander unabhängigen Zuständen der beiden Teilsysteme, so ist in der abstrakten Schreibweise | ψ  = | x  | y . In Komponenten bedeutet das ψjα = xj yα , womit die Indexstruktur aufgeklärt ist.
Als Normierungsbedingung ist noch

ψ | ψ ≡  Tr ( ψ ψ )  =  1 (1)

zu verlangen. Ist das Gesamtsystem einem solchen Zustand, so ist seine Dichtematrix in Komponenten

ρj,α j',α'  =  ψj,α ψj',α' . (2)

Die reduzierte Dichtematrix, die das beobachtete System allein beschreibt, erhält man dann durch partielle Spurbildung, d.h. als Summe über die Umgebungs-Indizes

ρredj j'  =  α ψj,α ψj',α , (3)

wobei sich die Summe von α=1 bis n erstreckt. Ist n sehr groß, dann wird hier über sehr viele Beiträge summiert. Das Resultat ist eine m×m-Matrix, die alle physikalisch möglichen Voraussagen für das beobachtete System enthält, sofern auf Messungen der Umgebung verzichtet wird. Das Aussehen dieser Matrix gibt Auskunft darüber, ob (und wie effektiv) Dekohärenz stattgefunden hat. Ist einer ihrer Eigenwerte 1 und alle anderen 0, handelt es sich um einen reinen Zustand, ansonsten liegt ein statistisches Gemisch vor. (Die Summe der Eigenwerte ist immer 1). Ist die verwendete Basis jene, in der bevorzugt Beobachtungen durchgeführt werden (jedes j entspricht dann einem vollständigen Set von möglichen Messwerten), dann liegt Dekohärenz vor, wenn (3) eine Diagonalmatrix ist. Als extremer Fall von Dekohärenz kann es vorkommen, dass (3) ein Vielfaches der m×m-Einheitsmatrix ist.

Soweit der allgemeine Formalismus. Wie kommt der Zustand ψ ≡ (ψjα) des Gesamtsystems zustande? Durch eine unitäre Zeitentwicklung aus einem Anfangszustand (in dem beobachtetes System und Umgebung durchaus voneinander unabhängig sein können). Wir wollen nun – im Gegensatz zum einfachen Modell im Haupttext – keine spezielle Wechselwirkung annehmen, sondern den Zustand ψ schlicht und einfach würfeln! Der Raum aller Zustände des Gesamtsystems, die gemäß (1) normiert sind, bildet eine Art Hyperkugel in einem (komplexen) mn-dimensionalen Raum, auf dem eine natürliche (Gleich-)Verteilung existiert, die – salopp gesagt – jedem Zustand dieselbe Wahrscheinlichkeit zuordnet. Gemäß dieser Verteilung "würfeln" wir uns einen Zustand ψ – damit simulieren wir gewissermassen eine Zeitentwicklung, die ganz und gar nicht speziell ausgewählt sein soll (dazu unten mehr) – und bilden die reduzierte Dichtematrix (3).

Wie wird diese aussehen? Zunächst könnte man annehmen, dass sie irgendeine Form hat, da ja auch der Zustand des Gestamtsystems willkürlich herausgegriffen wurde. Überraschenderweise verhält es sich aber ganz und gar nicht so! Analysieren wir die Sache statistisch: Wie sieht der "Erwartungswert" für die reduzierte Dichtematrix aus? Dazu müssen wir oft in die "Urne" greifen und willkürlich einen Zustand herausnehmen, und jedesmal bilden wir die Matrix (3). Der Mittelwert all dieser Matrizen ist das 1/m-fache der m×m-Einheitsmatrix. Das kommt dadurch zustande, dass in der Summe (3) alle nicht-diagonalen Komponenten dieselbe Chance haben, positiv oder negativ zu sein, und sich daher im Mittel (im "Erwartungwert") wegheben. Unter den diagonalen Komponenten ist keine ausgezeichnet, also sind sie im Erwartungswert alle gleich.

Das ist noch nicht besonders spektakulär. (Würfeln wir Zahlen gleichverteilt aus dem Intervall [-1,1], so ist der Mittelwert 0, was allerdings nicht viel aussagt). Wie sieht es aber mit der mittleren Abweichung aus? Hier kommt die Dimension n des Raumes der Umgebungszustände ins Spiel. Ist sie sehr groß, so werden sich tatsächlich viele der Beiträge der nichtdiagonalen Komponenten in (3) "wegheben" – und zwar nun nicht als Mittelwert aus einer großen Zahl von Versuchen, sondern bereits für einen. Eine einfache statistische Analyse – deren Details den LeserInnen überlassen seien – zeigt, dass die Standardabweichung von der Größenordnung m–1O(n–1/2) ist. (Dahinter steckt, salopp gesagt, dass das Skalarprodukt zweier beliebig herausgegriffener n-dimensionaler Einheitsvektoren mit großer Wahrscheinlichkeit von der Größenordnung n–1/2 sein wird. Beliebig herausgegriffene Vektoren in hochdimensionalen Räumen tendieren dazu, aufeinander orthogonal zu stehen, einfach weil in orthogonalen Richtungen mit wachsender Dimension immer mehr "Platz" ist). Konkret erwarten wir, dass die reduzierte Dichtematrix (3) für große n die Form

ρredj j'  =  m–1 ( δj j'   + O(n–1/2) ) (4)

hat (wobei δj j' die Komponenten der m×m-Einheitsmatrix bezeichnet). Je größer also die Dimension n des Zustandsraums der Umgebung ist, umso wahrscheinlicher ist es, eine reduzierte Dichtematrix zu erhalten, die Dekohärenz beschreibt. Besteht die Umgebung (genauer: jener Teil der Umgebung, der mit dem beobachteten System wechselwirkt) etwa aus 1016 Teilchen, und wird jedes Teilchen (dessen Hilbertraum tatsächlich unendlichdimensional ist) nur durch eine einzige Dimension repräsentiert, so ist n–1/2 = 10–8 , und die reduzierte Dichtematrix (4) ist mit sehr guter Genauigkeit diagonal.

In dieser Argumentation wurde keine bestimmte Wechselwirkung angenommen. Wir können dennoch eine Aussage über sie machen: Tatsächlich haben wir ja den Zustand | ψ  des Gesamtsystems "gewürfelt" und dabei nicht angenommen, dass er von der Form | x  | y  ist. Wenn wir dennoch mit einem Zustand beginnen wollen, in dem beobachtetes Teilsystem und Umgebung voneinander unabhängig sind, können wir das "Würfeln" als Simulation einer Zeitentwicklung

| x  | y      | ψ 

interpretieren. Wenn die beiden Systeme kräftig durchmischt werden, so dass nach einiger Zeit ein ziemlich allgemeiner Zustand vorliegt, kann das Würfeln als Modell einer solchen Wechselwirkung dienen. Man beachte, dass nun davon, dass die Umgebung das beobachtete System nicht beeinflussen soll, keine Rede mehr ist. (Das war im Haupttext tatsächlich nur eine Annahme zur Vereinfachung der aufgeschriebenen Formeln).

Dieses Resultat impliziert zwar nicht die Universalität der Dekohärenz, aber es gibt ein Gefühl dafür, warum die Zahl der Umgebungsfreiheitsgrade ein wichtiger Faktor ist, und dass ähnliche Effekte, die – rein mathematisch betrachtet – vom statistischen "Weg-Kürzen" von Beiträgen bei der Bildung der partiellen Spur herrühren, auch in realistischen Modellen auftreten können.